Am 25.06.25 und 26.06.25 fand das fünfte Modul des sechsten Weiterbildungsjahrgangs im CleaRNetworking im Mercure Hamm statt. Im Zentrum stand das demokratiepädagogische Programm Betzavta. Betzavta-Übungen streben danach, Demokratie in Interaktion erlebbar zu machen, um Selbstreflexion, Perspektivwechsel und Dilemma-Situationen zu ermöglichen und besprech sowie bearbeitbar zu machen. Unser Modul bestand aus mehreren interaktiven und erfahrungsorientierten Übungen.

Hintergrund des Ansatzes des Moduls sind die folgenden drei Grundgedanken:

  1. Radikalisierung erfolgt häufig gerade da, wo demokratische Grundhaltungen als leere Phrase empfunden wird. Betzavta hat das Potenzial, schulisches Personal demokratische Prinzipien erleben zu und reflektieren zu lassen, um sie an ihren Schulen glaubwürdig weiterzuvermitteln.
  2. Betzavta-Übungen stellen Konfliktsituationen her, in denen Ambiguität ausgehalten und Gleichwertigkeit gewahrt werden soll. Diese Fähigkeiten können schulisches Personal dabei unterstützen, radikalisierte Denkweisen zu dekonstruieren.
  3. Auf einer primärüpräventiven Ebene fördert Betzavta die Entwicklung einer Schulkultur, in der Teilhabe, Anerkennung und Aushandlung zum Alltag gehören.

Das Modul begann nach der obligatorischen Einführung und dem gemeinsamen Mittagessen  mit einer Übung zur systemischen Gesprächsführung. Das Projektteam CleaRNetworking hatet Fragetechniken für unterschiedliche Gesprächsszenarien mit sich (vermeintlich) radikalisierenden Schüler:innen zusammengetragen und auf der Projekt-Webseite veröffentlicht [1]. Die Teilnehmenden zogen sich in Dreiergruppen zurück, um ein Beratungsgespräch zwischen einem:einer Clearing-Beauftragten und einem sich (vermeintlich) radikalisierenden Jugendlichen zu simulieren und dabei Fragetechniken anzuwenden. Die dritte Person beobachtete das Gespräch und moderierte eine anschließende Reflexion.

Nach einer Pause ging die Gruppe zum Schwerpunkt des Moduls über: Betzavta. Die beiden Betzavta-Trainer:innen Miriam Briem und Lothar Knothe übernahmen den Workshop. Im Verlauf der beiden Tage folgten sechs erfahrungsorientierte Übungen.

  1. SWAT-Analyse: „Demokratische Aushandlungsprozesse sind kein Zahnarzttermin“

Den Anfang machte die SWAT-Analyse, bei der die Teilnehmenden ihre persönliche demokratische Haltung reflektierten. Ziel war es, sich der eigenen Stärken, Schwächen, Chancen und Ängste in Bezug auf demokratisches Handeln bewusst zu werden. Die Übung diente einer individuellen Standortbestimmung und wurde durch anschließende Präsentationen im Plenum vertieft.

Dabei kamen unter anderem folgende Schwächen und Risiken zur Sprache: eine gelegentliche Neigung, demokratische Prozesse zu umgehen, das Vorverurteilen anderer Positionen sowie eine begrenzte Toleranz im Umgang mit abweichenden Meinungen. Weitere genannte Punkte waren emotionale Reaktionen auf Nachrichten, Rückzug ins Private, die Vermeidung kontroverser Diskussionen, Erschöpfung durch die politische Lage, die Verschiebung der gesellschaftlichen Mitte sowie Frustration über die Langwierigkeit demokratischer Prozesse.

Demgegenüber standen zahlreiche Chancen und Stärken: ein grundsätzliches Interesse und eine Motivation, Demokratie als Lebensform zu gestalten, die Vision einer demokratischen Utopie, Zivilcourage sowie die Möglichkeit zu politischem Engagement. Auch persönliche Ressourcen wie finanzielle und gesundheitliche Stabilität wurden genannt, ebenso wie Werte wie Empathie, interkulturelles Verständnis, der Sinn für Gerechtigkeit und die Bereitschaft, voneinander zu lernen.

Ein zentraler Lerneffekt der Übung war die Erkenntnis, dass Demokratie nicht angeboren ist, sondern erlernt und gepflegt werden muss. Ein weiterer wichtiger Impuls entstand durch die Präsentationsform: Die Teilnehmenden – alle Teilnehmenden – trugen ihre Ergebnisse nacheinander vor – ein Vorgehen, das in einer von Zeitdruck geprägten Gesellschaft ungewohnt sein kann. In der anschließenden Meta-Analyse wurde deutlich, wie wichtig es ist, jedem Menschen Raum zu geben, um gehört zu werden, auch wenn dies Zeit erfordert. Dieser Aspekt wurde als essenziell für demokratisches Miteinander hervorgehoben.

Die Diskussion in der Gruppe führte zudem zu weiteren Einsichten: So wurde thematisiert, dass demokratische Aushandlungsprozesse nicht immer mit der vorherrschenden Wirtschaftslogik vereinbar sind – kapitalistische Effizienz strebt nach Tempo, während demokratisches Aushandeln Zeit und Geduld verlangt. In diesem Zusammenhang fiel der prägnante Satz: „Demokratische Aushandlungsprozesse sind kein Zahnarzttermin.“

Auch die Grenzen von Ambiguitätstoleranz wurden kritisch beleuchtet: Wo endet die Bereitschaft, Mehrdeutigkeit auszuhalten, und wie lässt sich dieser Punkt bestimmen – gerade im schulischen Kontext? Es wurde deutlich, dass eine solche Reflexion nicht nur auf persönlicher Ebene wichtig ist, sondern auch institutionell in der Schule aufgegriffen werden sollte. Schulen als Lebens- und Lernorte müssen Raum für langsame, dialogische Prozesse schaffen, um eine demokratische Kultur glaubwürdig zu fördern.

  1. Quoten: „Mit Dilemmata reflexiv umgehen“

Eine zweite Übung des Moduls bestand aus der Bearbeitung eines Szenarios im Rahmen einer Gruppenarbeit, das gezielt ein demokratiepädagogisches Dilemma in den Fokus rückte. Die Teilnehmenden setzten sich mit einem fiktiven Vorschlag innerhalb einer politischen Partei auseinander, in dem gefordert wurde, dass Männer nur noch jeden vierten Listenplatz bei Wahlen besetzen dürfen. Zusätzlich sollten Transgender-Personen sowie alleinerziehende Männer und Frauen gesicherte Listenplätze erhalten.

In der Diskussion zeigte sich rasch, dass dieses Szenario einen komplexen Konflikt zwischen Chancengleichheit und Gleichbehandlung aufwirft. Auf der einen Seite steht das berechtigte Anliegen, strukturell benachteiligte Gruppen sichtbar zu machen und ihre politische Repräsentation zu stärken. Auf der anderen Seite wurde kritisch angemerkt, dass die vorgeschlagene Maßnahme zu einem faktischen Ausschluss von Männern führen könnte, was als unverhältnismäßig empfunden wurde.

Darüber hinaus wiesen die Teilnehmenden darauf hin, dass das Szenario weitere marginalisierte Gruppen unberücksichtigt lässt – etwa homosexuelle Personen ohne Kinder, Menschen mit Behinderung oder solche mit Migrationsgeschichte. Das machte deutlich, dass Maßnahmen zur Repräsentationsförderung intersektional gedacht werden müssen, um nicht neue Ausschlüsse zu schaffen, während andere abgebaut werden.

Im Austausch zeigte sich dennoch ein Verständnis für das Argument, dass eine Partei sich bewusst auf bestimmte Gruppen fokussieren könnte, um deren Stimmen zu bündeln und im Parlament eine stärkere Präsenz bisher unterrepräsentierter Personen zu erreichen. Die Übung ermöglichte es, Spannungsfelder innerhalb demokratischer Aushandlungsprozesse greifbar zu machen und die Grenzen pauschaler Quotenregelungen kritisch zu beleuchten.

In Schulen begegnet schulisches Personal häufig kontroversen Gerechtigkeitsvorstellungen – etwa in Diskussionen zu Diversität, Genderfragen oder Gleichbehandlung. Die Fähigkeit, in solchen Kontexten Ambiguität auszuhalten, unterschiedliche Perspektiven ernst zu nehmen und Wertekonflikte nicht vorschnell aufzulösen, ist essenziell für ein demokratisches Schulklima.

Gerade in der Radikalisierungsprävention ist es entscheidend, Räume zu schaffen, in denen soziale Ungleichheiten thematisiert, aber auch spannungsreiche Positionen dialogisch verhandelt werden können. Die Übung zeigte, wie wichtig es ist, Komplexität nicht zu reduzieren, sondern produktiv zu nutzen, um demokratische Haltung zu fördern. Pädagog:innen, die mit solchen Dilemmata reflexiv umgehen können, sind gerüstet, um Schüler:innen vor vereinfachenden, radikalisierten Weltsichten zu schützen und stattdessen zu kritischer Auseinandersetzung und Teilhabe zu befähigen.

  1. Freiheit definieren: „Gruppenprozesse bewusst gestalten und reflektieren“

Die dritte Übung im Rahmen des Moduls widmete sich dem zentralen demokratischen Grundwert Freiheit – einem Begriff, der gerade im Spannungsfeld von Demokratie und Radikalisierung oft unterschiedlich interpretiert und vereinnahmt wird. Ziel war es, eine gemeinsame Arbeitsdefinition von Freiheit in Gruppen zu erarbeiten und dabei das eigene Demokratieverständnis zu reflektieren und zu schärfen.

Eingeleitet wurde die Übung mit einer persönlichen Auseinandersetzung: Die Teilnehmenden erinnerten sich an konkrete Situationen, in denen sie sich frei oder eben nicht frei gefühlt hatten. Diese biografischen Zugänge öffneten den Raum für eine emotionale und ehrliche Auseinandersetzung mit dem Thema, bevor die Gruppen den Satz vervollständigen sollten: „Freiheit bedeutet für uns…“

In der anschließenden Präsentation der Gruppenergebnisse wurde deutlich, wie vielschichtig der Begriff „Freiheit“ erlebt und verstanden wird. Einige Definitionen betonten die individuelle Handlungsfreiheit, andere hoben die Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen hervor. Besonders prägnant war die Nennung des Zitats von Rosa Luxemburg: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ – ein Verweis auf die Notwendigkeit, auch unbequeme Meinungen im demokratischen Diskurs zu tolerieren.

Doch die Übung zielte nicht allein auf inhaltliche Ergebnisse. Ein wesentlicher Bestandteil war auch die Reflexion des Gruppenprozesses selbst: Jede Gruppe wurde dazu eingeladen, zu reflektieren, wie der Arbeitsprozess selbst erlebt wurde und ob sich alle Beteiligten gleichermaßen einbezogen und gehört fühlten. Diese Metareflexion förderte das Bewusstsein dafür, dass demokratische Aushandlung nicht nur im Ergebnis, sondern bereits im gemeinsamen Prozess sichtbar wird.

Indem die Übung persönliche Erfahrungen mit Freiheit aufgriff und in einen demokratischen Aushandlungsprozess überführte, förderte sie ein differenziertes und gemeinschaftsbezogenes Freiheitsverständnis. In der Schule kann das aus Sicht des CleaRNetworking dazu beitragen, dass Schüler:innen lernen, ihre eigene Freiheit mit der Freiheit anderer in Beziehung zu setzen – ein zentraler Schritt, um demokratiefeindliche Denkweisen kritisch zu hinterfragen.

Die Reflexion über Einbeziehung im Gruppenprozess bot wichtige Impulse für die Schulpraxis: Wer sich in schulischen Zusammenhängen regelmäßig ausgeschlossen oder übergangen fühlt, läuft eher Gefahr, sich von der demokratischen Gemeinschaft zu entfremden. Lehrkräfte, die Gruppenprozesse bewusst gestalten und reflektieren, leisten nicht nur Demokratiepädagogik, sondern auch aktive Radikalisierungsprävention im Alltag.

  1. Grenzen des Gehorsams: „Widerstand gegen Mehrheitsmeinungen zu artikulieren erfordert Mut“

Die vierte Übung des Moduls stellte die Reflexion über die eigenen Grenzen des Gehorsams in den Mittelpunkt. Ziel der Übung war es, durch die Bearbeitung von Dilemma-Situationen das Spannungsfeld zwischen persönlicher Integrität, Mitgefühl und institutioneller Loyalität erfahrbar zu machen.

In Kleingruppen diskutierten die Teilnehmenden Situationen, in denen berufliche und private Interessen mit moralischen Prinzipien in Konflikt geraten. Ein Szenario lautete etwa: Ein:e Mitarbeitende:r einer Behörde oder Polizei steht vor der Frage, ob er oder sie die Abschiebung einer Familie in ein unsicheres Herkunftsland mitträgt – obwohl ein Kind der eigenen Familie schwer krank ist, der Partner arbeitslos ist, das eigene Einkommen dringend gebraucht wird und eine Beförderung in Aussicht steht.

In der Diskussion wurden verschiedene Versuche unternommen, das Dilemma aufzulösen oder zu umgehen, etwa durch das Abwarten eines Gerichtsverfahrens, das Einbringen privater Unterstützung (Zweitjob, Crowdfunding, Kirche) oder die persönliche finanzielle Einschränkung (Verkauf des Hauses). Letztlich blieb jedoch die Kernfrage bestehen: Wie weit geht Gehorsam gegenüber Institutionen – und wo beginnt persönliche Verantwortung?

Ein wichtiger Lerneffekt der Übung bestand darin, dass es nicht immer eine eindeutige „richtige“ Lösung gibt. Vielmehr forderte die Übung dazu auf, Widersprüche auszuhalten und den Mut aufzubringen, sich auch innerhalb einer Gruppe gegen den Strom zu stellen. Tatsächlich zeigte sich in mehreren Gruppen, dass abweichende Meinungen nur schwer eingebracht werden konnten, weil sich schnell eine dominante Gruppendynamik entwickelte. Diese Beobachtung wurde in der anschließenden Meta-Reflexion aufgegriffen: Widerstand gegen Mehrheitsmeinungen zu artikulieren erfordert Mut, ist aber essenziell für demokratisches Denken und Handeln.

Gerade hier liegt eine zentrale Bedeutung für die schulische Prävention von Radikalisierung. Schüler:innen stehen häufig vor Dilemmata – sei es im Spannungsfeld zwischen Gruppenzugehörigkeit und eigener Meinung, Loyalität gegenüber Familie oder Peergroup versus gesellschaftliche Normen. Die Auseinandersetzung mit komplexen Entscheidungssituationen fördert die Fähigkeit, Ambiguität zu ertragen, moralisch zu urteilen, Verantwortung zu übernehmen – und dabei nicht auf einfache Antworten zurückzugreifen.

Indem in der Übung Perspektivwechsel zugelassen und auch egoistische oder widersprüchliche Anteile des eigenen Handelns anerkannt werden durften, entstand ein Raum für authentische Selbstreflexion. Solche Räume sind für Schulen elementar: Sie bieten jungen Menschen die Möglichkeit, eigene Haltungen zu entwickeln, ohne sich sofort positionieren oder rechtfertigen zu müssen. Damit wird ein Klima geschaffen, in dem komplexe gesellschaftliche Fragen verhandelt werden können, bevor sie in Radikalisierung oder ideologischer Verengung münden.

  1. Das demokratische Potenzial eines Kürbis

Die fünfte Übung des Moduls veranschaulichte, wie sich Konflikte durch einen Perspektivwechsel und das Erkennen zugrundeliegender Bedürfnisse kreativ und demokratisch lösen lassen. Dafür wurden drei Teilnehmende in die Mitte des Raumes gebeten – mit der Aufgabe, sich um einen Kürbis zu „streiten“. Das Plenum beobachtete die Szene und wurde anschließend eingeladen, Lösungsmöglichkeiten vorzuschlagen.

Zunächst wurden typische Vorschläge genannt: Der Kürbis wird zeitlich aufgeteilt, jeweils einem der Beteiligten zugesprochen oder überhaupt niemandem gegeben. Diese Lösungen spiegelten klassische Verteilungslogiken wider – linear, kompromissorientiert, aber nicht unbedingt zufriedenstellend.

Erst mit der Fokussierung auf die Bedürfnisse hinter dem Streit offenbarte sich das eigentliche Potenzial der Übung: Was, wenn eine Person nur die Kerne für den Garten will, eine andere eine Kürbissuppe kochen möchte und die dritte ihn als Halloween-Dekoration braucht? Plötzlich wird klar: Die Interessen müssen sich nicht ausschließen – sie lassen sich miteinander vereinbaren, wenn man sie kennt. Der zentrale Lernmoment lag in der Erkenntnis, dass Bedürfnisorientierung manchmal mehr Lösungsraum schafft als Positionen und Forderungen.

In der anschließenden Reflexion wurde betont, dass ein Mehrheitsentscheid immer die letzte Option sein sollte – nicht der erste Schritt. Stattdessen wurden vier demokratiepädagogische Handlungsstufen benannt:

  • Bedürfnisse prüfen
  • Veränderung der Situation in Erwägung ziehen
  • Gleichmäßige Einschränkung
  • Mehrheitsentscheidung als letzte Instanz

Gerade in schulischen Kontexten, in denen Konflikte schnell eskalieren können, bietet dieses Vorgehen einen konkreten, praxisnahen Ansatz für Lehrkräfte und pädagogisches Personal. Ein klassisches Beispiel: Zwei Schüler:innen streiten sich scheinbar unvereinbar um denselben Sitzplatz. Auf den ersten Blick erscheint das wie ein banaler Machtkampf – doch ein genauerer Blick auf die Bedürfnisse offenbart: Der eine benötigt Nähe zur Tafel wegen eingeschränkten Sehens (Bedürfnis: Teilhabe, Orientierung), die andere sucht Nähe zur Lehrkraft wegen Unsicherheit (Bedürfnis: Bindung, Sicherheit). Mit diesem Wissen lassen sich Lösungen entwickeln, die beiden gerecht werden, statt eine:n zu benachteiligen.

Die Übung verdeutlichte eindrucksvoll, wie durch Bedürfnisorientierung Teilhabe im Schulalltag verbessert werden kann. Lehrkräfte, die nicht vorschnell auf Regeln, Sanktionen oder Mehrheitsbeschlüsse setzen, sondern Raum für Aushandlung und Perspektivwechsel schaffen, fördern ein demokratisches Klassenklima.

Zugleich ist diese Haltung zentral für die schulische Radikalisierungsprävention: Jugendliche, deren Bedürfnisse nicht wahrgenommen oder ernst genommen werden, sind anfälliger für ideologische Angebote, die einfache Lösungen und klare Schuldige präsentieren. Eine Schule, die ihnen hingegen zeigt, dass Konflikte vielfältig lösbar sind und ihre Anliegen Gehör finden, stärkt demokratische Resilienz – sowohl individuell als auch strukturell.

  1. Karten-Übung: „Demokratische Prozesse erleben“

Die sechste und letzte Übung des Moduls diente der unmittelbaren Erfahrung demokratischer Aushandlungsprozesse – in einem bewusst unklaren, provokanten Rahmen. Die Teilnehmenden saßen im Stuhlkreis, jede Person schrieb ihren Namen auf eine Karte. Die einzige Regel lautete: Dort, wo nach 20 Minuten die meisten Karten liegen, darf eine verbindliche Regel für den weiteren Verlauf der Weiterbildung beschlossen werden. Ziel war es, die Gruppe ohne äußere Moderation in ein offenes Entscheidungsverfahren zu schicken – mit ungewissem Ausgang.

Die Dynamik entwickelte sich rasch und vielschichtig: Eine Person sammelte ohne Absprache alle Karten ein – autoritäres Handeln, das zunächst nicht hinterfragt wurde. Dies löste sowohl Irritation als auch eine Reaktion in der Gruppe aus: Erste Vorschläge wurden gemacht, etwa eine symbolische Regel wie das Mitbringen von Keksen, oder die Entscheidung, künftig nur noch im Stuhlkreis zu arbeiten. Gleichzeitig wurde fundamental hinterfragt, ob überhaupt ein Bedürfnis nach einer Regel bestehe. Einzelne Stimmen äußerten deutlich, dass sie ihre Entscheidungsbefugnis („Stimme“) zurückhaben wollten.

In der anschließenden Meta-Reflexion wurde das Erlebte analysiert. Die Rückmeldungen wurden mit grünen, gelben und roten Karten kategorisiert:

  • Grün: Diese Gruppe empfand den Prozess als wertschätzend, die Arbeit im Stuhlkreis als produktiv und die Übung als gelungenen Impuls zur Gruppenbildung. Die autoritäre Aktion der „Karten-Einsammlerin“ wurde als auslösendes Moment für demokratisches Handeln empfunden – man wurde aktiv, diskutierte, setzte sich auseinander. Auch wenn keine Regel beschlossen wurde, hatte die Übung Verantwortungsübernahme und kollektives Denken ausgelöst.
  • Gelb: Diese Teilgruppe äußerte kritische Gedanken. Einige fühlten sich überrumpelt, nicht gehört oder nicht beteiligt. Besonders sensibel wurde aufgenommen, dass aus bestimmten Ecken des Kreises nichts kam – manche Personen fanden kein Gehör, obwohl sie sich äußern wollten. Auch fehlte Moderation, was die Unsicherheit verstärkte. Die Gruppe hätte – so die Reflexion – die Chance gehabt, kreativ zu gestalten, nutzte sie aber nicht voll aus.
  • Rot: Diese (eine) Person gab offen zu, nicht verstanden zu haben, worum es überhaupt ging. Die Reflexion zeigte hier: Aufgaben werden oft schnell und ungeprüft übernommen, ohne sie infrage zu stellen oder zurückzuweisen – auch das kann ein relevantes demokratisches Lernmoment sein.

Die Übung bietet vielschichtige Lernimpulse für die schulische Arbeit. Sie zeigt, wie in Gruppen Macht übernommen wird, wie sich andere still fügen oder zögern – und wie es eines aktiven Gegenimpulses bedarf, damit demokratische Prozesse entstehen.

In der schulischen Praxis bedeutet das: Demokratie muss nicht nur erklärt, sondern erlebt werden. In vielen Klassen übernehmen lautere, selbstbewusstere Schüler:innen früh die Gesprächsführung – andere bleiben zurückhaltend oder äußern sich gar nicht. Gerade in solchen Situationen ist es entscheidend, dass Lehrkräfte gezielt nach den stillen Stimmen fragen – etwa durch Sätze wie:

„Willst du da noch was zu sagen?“

„Ich hab deine Karte noch nicht gesehen – was denkst du?“

„Gibt es jemanden, der sich noch nicht äußern konnte?“

Diese Haltung ist nicht nur demokratiepädagogisch wertvoll – sie ist radikalisierungspräventiv hochrelevant. Denn junge Menschen, die sich systematisch überhört oder ausgeschlossen fühlen, sind empfänglicher für radikale Narrative, die ihnen scheinbar klare Identität und Zugehörigkeit versprechen. Wer in der Schule hingegen erlebt, dass auch Zweifel, Unsicherheit oder Nicht-Mitmachen Raum haben, erfährt Selbstwirksamkeit innerhalb demokratischer Strukturen.

Zugleich zeigt die Übung, dass Gruppen nicht automatisch zu demokratischen Kollektiven werden. Es braucht Raum, Reflexion, manchmal auch Irritation – wie durch die absichtliche Regel-Provokation – damit Demokratie als Prozess erfahrbar wird. Lehrkräfte, die solche Lernräume ermöglichen, schaffen eine Grundlage für langfristige Resilienz gegenüber Radikalisierung und für eine Schulkultur, in der Teilhabe nicht nur formal, sondern auch emotional verankert ist.

Das fünfte Modul der CleaRNetworking-Weiterbildung 2025 hat gezeigt, dass Radikalisierungsprävention in der Schule nicht durch bloße Informationsvermittlung gelingt, sondern durch erlebte Demokratie. Betzavta schafft genau solche Erfahrungsräume: Es fordert heraus, stellt Dilemmata zur Diskussion und lässt die Teilnehmenden spüren, was Gleichwertigkeit, Ambiguitätstoleranz und Verantwortung bedeuten können. Schulisches Personal, das diese Prozesse selbst durchläuft und reflektiert, ist besser vorbereitet, demokratische Werte glaubwürdig zu vermitteln, Komplexität auszuhalten und jungen Menschen Orientierung zu bieten – auch dann, wenn diese mit einfachen, radikalen Antworten konfrontiert sind.

Literatur:

[1] CleaRNetworking (o.J.): Materialien und Publikationen. Online verfügbar unter: https://www.clearing-schule.de/materialien-publikationen/.