Am 13.09. und 14.09.2023 kam der ClearNetworking-Weiterbildungsdurchgang 2023 im Hotel ESPERANTO in Fulda zum Modul über Radikalisierungsphänomene zusammen. Das Modul setzte sich zusammen aus fünf Beiträgen, die die Bereiche Islamismus, Religionssensibilität, Verschwörungstheorien, Rechtsextremismus und Antisemitismus behandelten.

Götz Nordbruch von ufuq grenzte zunächst die unterschiedlichen Begriffe Fundamentalismus, Islamismus und politischer Islam voneinander ab. Kritisch blickte er auf den Begriff des Extremismus, weil dieser von einem liberalen gesellschaftlichen Konsens in der Mitte der Gesellschaft ausgehe, von dem der Extremismus abweiche. Radikalisierung hingegen blickt auf den Prozess dahinter und dieser interessiert und als Akteur:innen der Pädagogik und der politischen Bildung. Nordbruch zeigte die Breite des Phänomens und seine unterschiedlichen Ausdrucksformen auf. Das zeigte sich schon im so heterogenen Auftreten islamistischer Akteur:innen, das sich etwa zwischen dem prediger Abul Baraa und dem Youtube-Kanal Macht’s Klick zeigt. Viele von ihnen beantworteten zentrale lebensweltliche Fragen von Jugendlichen, etwa zu den Themen Tod, Partnerschaft oder Zeitmanagement. Gerade für Menschen aus nichtreligiösen Haushalten sind ihre kurzen, unterkomplexen Antworten attraktiv. Wie sich auch der Rechtsextremismus verändert habe hin zur Neuen Rechten, ist auch das Auftreten moderner Prediger nicht immer so klassisch, wie man es sich vielleicht vorstellt. Immer wieder bezog Nordbruch die Phänomene des Islamismus und des Rechtsextremismus aufeinander, zeigte Parallelen wie Unterschiede auf.

Zentraler Präventionsansatz ist das Schaffen alternativer Angebote, um die Bedürfnisse zu bedienen, die auch islamistische Akteur:innen ansprechen. Multiperspektivität, ein Umgang mit Komplexität und Ambiguitätstoleranz gilt es in diesem Zusammenhang zu schulen. Es muss eben auch möglich sein, als Jugendliche:r in Opposition zu gehen, ohne das im Rahmen radikaler Orientierungen zu tun. Aufgabe von Pädagog:innen ist dabei nicht Korrektion, sondern vor allem Irritation. Nordbruch merkte darüber hinaus an, als pädagogische Fachkraft gelte es sich selbst und den Schüler:innen klar zu machen, dass im Falle von Fehlverhalten, etwa Missionierungshandeln, nicht aufgrund von Religion eingegriffen werde, sondern aufgrund des Ausübens sozialen Drucks. Es ist also nicht die Religion selbst, die begrenzt wird, sondern es ist das konkrete Verhalten von Schüler:innen. Ähnlich verhält es sich im hypothetischen Falle, in dem ein:e Schüler:in anderen sagt, sie müssten fasten, sonst kämen sie in die Hölle. In diesem Fall ist nicht das Fasten das Problem, sondern der ausgeübte soziale Druck. Eine homophobe Aussage kann von einer Lehrkraft als Beleidigung thematisiert werden, bei der die religiöse Legitimation keinerlei Rolle spielen muss.

Anschließend folgte der Beitrag von Oulfa Schmidt zum Thema Religionssensibilität. Schmidt warf die Fragen auf, was es bedeute, religionssensibel zu sein und fokussierte sich auf Religionen als Ressource. Religionssesnbilität als Pädagog:in stehe unabhängig von der eigenen Religiosität oder Nichtreligiosität. Vielmehr handle es sich um eine reflexive Fähigkeit. Anhand mehrere Bilder religiös aktiver Menschen und der daran anschließenden Reflexion über die Gefühle im Zusammenhang mit diesen Bildern wurde eben diese reflexive Fähigkeit geschult. So wurde aufgezeigt, dass alle Teilnehmenden individuelle Gefühle zu Religiosität haben. Es gelte Kinder auch dann in ihrer Religiosität zu unterstützen, wenn sie einem selbst befremdlich ist. Schmidt regte dazu an, differenziert auf Ursachen schulischer Probleme zu blicken, etwa im Falle einer Verwehrung der Teilnahme an einer Klassenfahrt zu fragen, ob tatsächlich eine Religion die Ursache dafür ist oder vielleicht doch eher ein häusliches System von Gehorsam und Angst.

Die Gruppe widmete sich auch den Funktionen von Religionen, etwa der Schaffung von Plausibilität, von Sinn, die Milderung von Angst vor dem Tod und die Strukturierung des Alltags. Nach einer Gruppenarbeit zeigte sich, dass viele Teilnehmende ähnliche Werte vertreten, aber diese aus unterschiedlichen Quellen ziehen, etwa aus Moral, aus dem bürgerlichen Gesetzbuch oder eben aus einer Religion. Auch die religiöse Sozialisation ist heterogen von einer ehemaligen Messdienerin bis zu areligiösem Marxismus.

Gemeinsam bearbeitet wurde dann ausführlich ein zwischen unterschiedlichen Akteur:innen (Lehrkräfte, Eltern, Betroffene, Schulleitung, Schulpsychologie) konfliktbehafteter Fall an einer Schule von Teilnehmenden. Durch eine systemische Aufstellung wurde der Fall gemeinsam diskutiert und bearbeitet.

Am folgenden Tag widmete sich die Gruppe den Themen Verschwörungstheorien, Rechtsextremismus und Antisemitismus. Prof. Jan Skudlarek ging auf die unterschiedlichen Ebenen von Verschwörungstheorien ein. Diese liegen etwa auf der Sachbuchebene, aber auch in schnell auf sozialen Medien teilbaren Memes oder Querdenker:innenrap. Verschwörungstheorien fußen auf drei Säulen, nämlich der Konstruktion einer geheimen Wahrheit, einer geheimen Gefahr und geheimer Verschwörer:innen. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung glauben an Verschwörungstheorien, ein größerer Anteil ist zumindest offen für sie. Gründe für das Anhängen an Verschwörungstheorien reichen von mangelnder Kontrolle über ein Einzigartigkeitsbedürfnis, Bedrohungsgefühle bis zu mangelnder Bildung. In einer gemeinsamen Gruppenarbeit wurde diskutiert, ab welchem Punkt es als schulisches Personal einzugreifen gilt, wo die Grenzen des Tolerablen also liegen.

Gemeinsam mit Heike Habeck widmeten sich die Teilnehmenden im Anschluss dem Thema Rechtsextremismus. Zunächst zeigte sich in der Gruppe, dass vielfache Berührungspunkte mit dem Thema bestehen. Ein Teilnehmer erzählt mit einem Augenzwinkern, er habe als Jugendlicher ein Fahrrad eines Nazis kaputt gemacht, ein weiterer erzählt vom Rechtsextremismus der Familie seines Onkels, eine weitere hat viele Jahre ehrenamtlich Nazi-Aussteiger:innen betreut, eine weitere koordiniert ein Projekt in diesem Themenspektrum, ein weiterer hat für die mobile Beratung gearbeitet. Gemeinsam wurden Merkmale des Rechtsextremismus erarbeitet, etwa die Ablehnung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, der Wunsch, einen totalitären Staat zu errichten, die Überbewertung der Eigen- und die Abwertung einer Fremdgruppe, Rassismus und starre Zugehörigkeitsgrenzen. Habeck ging auch auf Kennzeichen der heterogenen neuen Rechten und auf zentrale Akteur:innen aus der Szene ein. Zentrale Aufgabe für schulisches Personal ist das Schaffen alternativer Angebote. Schließlich erreichen rechtsextreme Angebote Jugendliche nicht aufgrund ihres überzeugenden politischen Konzepts, sondern aufgrund der eigenen Bedürfnislage und dem Angebot der Sinnstiftung. Konsens schien in der Beobachtung zu herrschen, dass bei vermeintlichen Fällen von Islamismus an Schulen entschiedener und schneller eingegriffen wird, als in Fällen von vermeintlichem Rechtsextremismus.

Der fünfte inhaltliche Schwerpunkt lag im Bereich des Antisemitismus und wurde von Dr. Stefan Hößl begleitet. Hößl erörterte den ursprünglich sprachlichen Ursprung des Semitismus und dessen Bedeutungsverschiebung zu semitischen Stämmen im Zuge des Rassendenkens. Der Begriff des Antisemitismus ist also nicht frei von Kritik, zumal er von Antisemit:innen Ende des 19. Jahrhunderts erfunden wurde. Interaktiv erfragte Hößl von den Teilnehmenden deren Position zu Fragen, inwiefern sie wissen, was Antisemitismus bedeutet oder ob jüdisches Leben bekannter sein sollte. Unter den Teilnehmenden wurde Kritik daran laut, dass Jüdinnen und Juden auf ihre jüdische Teilidentität reduziert würden. Hößl stellte dar, wie Zustimmungswerte zu antisemitischen Narrativen seit vielen Jahre relativ stabil sind, dass sich aber zugleich der Trend in Studien bestätigt, dass Antisemitismus jünger wird – etwa durch Social Media, durch Gemeinden und Elternhäuser. Hößl ging auch auf die Tradition des Antisemitismus ein und machte so klar, dass er nicht erst von den Nazis erfunden wurde. Wie schon mit Blick auf die anderen behandelten Phänomene stellte sich heraus, dass Antisemitismus spezifische Funktionen für diejenigen erfüllt, die sich seiner bedienen – und dass es keine Jüdinnen und Juden für Antisemitismus braucht. Es gelte daher, die eigenen Selbstverständlichkeiten kontinuierlich zu hinterfragen. Beendet wurde der Beitrag mit einigen praktischen Tipps für den Schulalltag. Wichtig sei grundsätzlich, zu reagieren. Dabei sei immer davon auszugehen, dass auch Jüdinnen und Juden anwesend seien. Gleichzeitig gelte es zu respektieren, wenn Menschen keinen offenen Umgang mit jüdischer Identität pflegten und diese nicht zu Expert:innen für Israel, die Shoah und das Judentum zu stilisieren.

Im Rahmen dieses Weiterbildungsmoduls wurden nur einige der zahlreichen Phänomene und Brückennarrative behandelt, die Radikalisierung kennzeichnen. Dabei ergaben sich Parallelen und Unterschiede, Gefahren und Lösungsansätze, Reflexionen und Sensibilisierungen.