Am 13. und 14. Mai kam das aus dem Projekt CleaRNetworking gewachsene schulische Netzwerk im Hotel Mercure in Hamm zusammen. Das Thema: Religiös und politisch neutrale Pädagog:innen? Zum Spannungsfeld zwischen Bekenntnis & Neutralität im schulischen Raum.
Der Begriff der Neutralität ist seit jeher umstritten. Häufig wird er insofern missverstanden, als schulisches Personal sich weder politisch positionieren noch religiös bekennen dürfte. Dem steht jedoch die in den Schulgesetzen der Bundesländer festgelegte Verpflichtung für schulisches Personal entgegen, die zwar parteipolitische Neutralität einfordert, allerdings gleichzeitig vorsieht, dass schulisches Personal Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als Teil ihres Bildungsauftrags klar vertreten darf und soll. Doch was bedeutet das in der Praxis? Dieser Frage ging das Netzwerktreffen aus rechtlicher und pädagogischer Perspektive nach.
Der Einstieg: Rechtliche Fragen rund um den Begriff der Neutralität im schulischen Kontext
Das Treffen begann mit einem Workshop von Prof. Dr. Felix Hanschmann, Inhaber des Dieter Hubertus Pawlik Stiftungslehrstuhls „Kritik des Rechts – Grundlagen und Praxis des demokratischen Rechtsstaates“ an der Bucerius Law School in Hamburg. In seinem Vortrag behandelte er rechtliche Fragen rund um den schwierigen Begriff der Neutralität im schulischen Kontext. Dieser Abschnitt fasst die praxisrelevanten Aspekte des Vortrages mit Fokus auf schulische Radikalisierungsprävention zusammen.
Schule, so Hanschmann, sei ein Gesellschaftsbereich, „in dem der Staat in unvergleichlicher Weise auf die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen einwirken kann“. Dies ergebe sich u.a. aus dem Bildungs- und Erziehungsauftrag von Schule in Deutschland, der z.B. in den Schulgesetzen der Bundesländer festgeschrieben sei. Zudem sei Schule der einzige Gesellschaftsbereich, den fast alle Gesellschaftsmitglieder aufgrund der allgemeinen Schulpflicht in Deutschland im Laufe ihres Lebens durchlaufen müssten. Schule sei somit die „staatlich verantwortete Integrationsinstanz“, die auch von Eltern als „gleichgeordneten Erziehungsträger neben ihrem eigenen Erziehungsrecht auch im Falle abweichender Vorstellungen bei Androhung von Sanktionen“ akzeptiert werden müsste.
Um den in der öffentlichen Diskussion in den letzten Jahren vielfach diskutierten Begriff der schulischen Neutralität kursieren dabei einige Missverständnisse, mit denen Hanschmann während seines Vortrages aufräumte:
- “Neutralität bedeutet, dass Lehrkräfte keine eigene Meinung äußern dürfen.” Lehrkräfte dürfen sehr wohl eine eigene Meinung äußern – insbesondere zu politischen oder gesellschaftlichen Fragen –, solange dies im Rahmen des Beutelsbacher Konsenses geschieht, also keine Indoktrination erfolgt, kontroverse Themen als solche dargestellt werden und Schüler*innen in die Lage versetzt werden, ihre eigene Meinung zu bilden.
- “Neutralität heißt, dass Lehrer:innen zu politischen Themen schweigen müssen.” Politische Bildung ist Auftrag der Schule. Lehrer:innen dürfen und sollen politische Themen behandeln – sogar aktiv zur demokratischen Willensbildung beitragen. Neutralität bedeutet nicht, dass keine Position eingenommen werden darf, sondern dass Positionierungen transparent, sachlich und kontroversitätsbewusst erfolgen müssen.
- “Religiöse oder weltanschauliche Symbole sind generell unzulässig.” Das Tragen religiöser Symbole (z. B. Kopftuch, Kreuz, Kippa) durch Lehrkräfte ist nicht grundsätzlich verboten, sondern nur dann unzulässig, wenn eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralitätspflicht vorliegt.
- “Neutralität bedeutet, dass keine Werte vermittelt werden dürfen.” Schule hat einen ua. in den Schulgesetzen der Bundesländer festgeschriebenen Erziehungsauftrag, der auch die Vermittlung von Werten wie Toleranz, Demokratie, Gleichberechtigung etc. einschließt. Diese Werte sind nicht neutral im Sinne von wertfrei, sondern reflektieren den Verfassungskern.
- “Die Neutralitätspflicht gilt auch für Schüler:innen.” Die Neutralitätspflicht gilt nur für staatliches Handeln und damit für schulisches Personal, nicht aber für Schülerinnen. Schülerinnen dürfen ihre Meinung frei äußern, demonstrieren, religiöse Kleidung tragen etc., solange sie damit nicht den Schulfrieden stören oder Rechte anderer verletzen.
Religionssensibilität
Anschließend an die rechtliche Einführung durch Prof. Hanschmann übernahm unser Projektleiter Dr. Junus el-Naggar mit einem Part zu Religionssensibilität im schulischen Kontext. Religion sei für viele Menschen und damit auch für viele Schüler:innen eine wichtige Ressource, betonte el-Naggar, sie könne in Schule aber auch zu Konflikten führen, wie Felix Hanschmann bereits in seinem Vortrag gezeigt hatte. Welche religiös konnotierten Verhaltensweisen schulisches Personal als (nicht)radikal betrachte, sei dabei immer auch von der eigenen Sozialisation abhängig. Daher lud er die Teilnehmenden dazu ein, gemeinsam in einer Gruppenarbeit darüber zu reflektieren, warum ihnen bestimmte Verhaltensweisen als radikal erscheinen würden oder eben nicht. Er teilte das Plenum in acht Arbeitsgruppen auf und bat sie zur Reflexion über die folgenden Fragen:
- Welches der beiden Verhalten haltet ihr eher für radikal und warum (ggf. auch beide oder keines)?
- Welche Werte oder Überzeugungen beeinflussen eure Einschätzung darüber, ob ein Verhalten radikal ist?
- Welche persönlichen Erfahrungen haben eure Sichtweise geprägt?
Die zu diskutierenden Verhaltensweisen bildeten dabei immer ein Gegensatzpaar: Etwa die konsequente Befolgung religiöser Normen in allen Lebensbereichen vs. die vollständige Verbannung von Religion aus dem öffentlichen Leben oder konsequent den ganzen Tag auf Social Media online und erreichbar zu sein vs. die sozialen Medien komplett zu meiden. „Inwiefern haltet ihr eure Einschätzung für einer gesellschaftlichen Norm entsprechend? Welche positiven oder negativen Konsequenzen zieht das jeweilige Verhalten nach sich?“ gab unser Projektleiter den Teilnehmenden einige Denkanstöße mit in die Arbeitsgruppen.
Die anschließende Diskussion im Plenum zeigte, dass es nicht immer ganz einfach ist zu entscheiden, ob ein gewisses Verhalten radikal ist oder nicht. Einig war sich die Gruppe darin, dass es immer problematisch werde, wenn Menschen andere Menschen dazu drängen oder zwingen würden ein Verhalten mitzugehen, das sie nicht mitgehen wollten, wenn anderen z.B. ein gewisser Lebensstil aufgedrängt würde. Schulisches Personal sollte sich konsequent Fragen, aus welcher weltanschaulichen Perspektive sie auf eine vermeintliche Radikalisierung schauen würden. Eine Teilnehmerin stellte zudem die Frage, ob Radikalität, die heutzutage ja eher schlecht beleumundet ist, tatsächlich immer negativ sein muss. Sie verwies dabei auf Errungenschaften wie das allgemeine Wahlrecht oder die Entwicklung moderner Verhütungsmöglichkeiten für Frauen, die zu ihren Zeiten als radikale Forderungen galten, heute jedoch Common Sense sind.
Im CleaRNetworking richtet sich unsere Arbeit „gegen gewaltorientierte, menschenfeindliche und demokratiefeindliche Äußerungen, Einstellungen und Handlungen.“ [1]. Unser Maßstab in der Radikalisierungsarbeit ist dabei stets der Folgende: „Handlungsleitend [ist] die Orientierung, dass die Freiheit des Einen dort endet, wo die Freiheit des Anderen beginnt“ [1].
Religiöse Bilder und Gefühle
Anschließend ging es weiter mit der Selbstreflexion. „Was fühlt ihr beim Anblick der folgenden Bilder?“ fragte el-Naggar die Teilnehmenden und spielte ihnen eine Reihe von Fotos ein, auf denen Menschen in verschiedenen Posen und Konstellationen aus den großen Weltreligionen beim Gebet zu sehen waren. So waren etwa auf einem Foto drei junge Männer beim gemeinsamen Gebet zu sehen, auf einem anderen war ein junges Mädchen bei einer stillen Andacht zu sehen.
Die Diskussion war vielfältig und mitunter kontrovers. Die Bilder würden gut zeigen, welche Kraft und welchen Impuls Glauben hat/haben kann, gaben einige Teilnehmenden an. Glaube verbinde alle Gläubigen miteinander, egal an welche göttliche Entität geglaubt werde. Andere verbanden vor allem die Bilder, auf denen Gruppen zu sehen waren, mit einer gewissen Übergriffigkeit. Besonders, wenn es aus Sicht der Teilnehmenden so aussah, als würden die auf dem Foto gezeigten Personen zum Beten gezwungen werden. Woher kämen diese unterschiedlichen Wahrnehmungen, fragte el-Naggar die Teilnehmenden im Anschluss. Religiöse Sozialisation geschehe ja schließlich immer auch zu einem großen Teil in Gruppen. Das liege wohl an der eigenen westlichen Sozialisation, vermuteten einige Teilnehmer:innen, die Religion als eine Privatsache ansehen würden, die man sich individuell ohne Leitung anderer Personen aneignen müsse.
Storytelling: Wann gab Religion Orientierung?
Zum Abschluss des ersten Tages bat el-Naggar die Teilnehmenden darum, sich in Zweiergruppen zusammenzufinden und unter anderem über die folgenden beiden Erfahrungen auszutauschen:
- Eine Situation, in der Religion einem jungen Menschen Orientierung, Trost, Struktur, Sinn, Gemeinschaft (oder andere Ressourcen) gegeben hatte;
- Eine Situation, in der Religion zu einem Konflikt in der Schule wurde und warum dies der Fall war.
Es zeigte sich, dass Religion für viele Menschen im Alltag wie auch in Extremsituationen ein wichtiger (Rettungs)Anker ist, um im eigenen Leben den Kurs nicht zu verlieren. Aus atheistischer Perspektive, führte eine der Anwesenden aus, sei es beeindruckend, welche Kraft Glaube vielen Menschen geben würde. Die vorübergehende Abwendung von der Welt eröffne z.B. einen Korridor um innezuhalten oder sich selbst zu finden. Aber auch nicht-religiöse Instanzen könnten diese Funktion erfüllen, z.B. die Mitgliedschaft in einer Jugendszene, einer Partei oder sozialen Bewegungen, aber auch die Gemeinschaft in einem Sportverein. Die Kraft der Religion hingegen könnten diese Instanzen nicht entfachen, hieß es aus der Teilnehmendenschaft.
Praktische Wege zu einer religionssensiblen Schule
Zu Beginn des zweiten Fortbildungstages stellte el-Naggar für aus Sicht des Projekts CleaRNetworking gute Gründe vor, um Religion eine präsente Rolle im Schulkontext zu geben:
- Religion als Ressource und Teil jugendlicher Lebenswelt
- Verdrängung schafft Raum für problematische Ersatzquellen
- Wohlwollende Offenheit gegenüber Religiosität schafft Legitimität in der Auseinandersetzung mit radikalen Positionen
- Wahrgenommene Wertschätzung stärkt Zugehörigkeit und beugt Radikalisierung vor
- Schule als Ort gelebten Pluralismus
Religion bzw. Religiosität aus der Schule herauszuhalten, sei aus Projektsicht eher problematisch, da Schüler:innen ihre Religiosität nicht an der Schultür abgeben würden, wie el-Naggar mit Verweis auf den Vortrag von Felix Hanschmann am Vortag hervorhob. Religion und religiöser Praxis einen Raum an Schule zu geben, ermögliche es schulischem Personal erst, diese zum Thema zu machen, zu diskutieren, zu kritisieren und ihr ggf. auch Grenzen zu setzen.
Welchen Raum soll Religion an (meiner) Schule haben?
Anschließend ging es erneut in eine Gruppenarbeit. el-Naggar hatte zehn Fälle mitgebracht, anhand derer die in Gruppen aufgeteilten Teilnehmenden den Raum diskutieren sollten, den sie religiösen Überzeugungen und Praxen an ihrer Schule zugestehen wollen und können.
Die Fallbeispiele behandelten typische Beispiele aus dem Schulalltag der Teilnehmenden. Etwa die Verweigerung von Schüler:innen am gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht aus religiösen Gründen, die nicht nur bei muslimischen Schüler:innen zu finden ist, sondern auch bei evangelikalen Christ:innen und anderen. Oder die Bitte von Schüler:innen, neben der Feier des alljährlichen Weihnachtsfestes auch die Feste anderer Religionen im Schuljahr zu begehen.
Es gelte immer zu fragen, für wen das jeweilige Verhalten bzw. die jeweilige Forderung eigentlich ein Problem sei, so das Plenum. Vielleicht fühle sich ja auch niemand von einem bestimmten Verhalten gestört. In jedem Fall sollten die Positionen und Befürchtungen aller schulischen Gruppen immer angehört werden oder diesen zumindest die Möglichkeit dazu zu geben.
Vier Fragen könnten schulischem Personal Orientierung bei der Frage geben, welche Rolle Religion möglicherweise an ihrer Schule spielen könnte, gab el-Naggar den Teilnehmenden zum Abschluss des Block mit auf den Weg:
- Welchen Raum wollt ihr Religiosität an eurer Schule geben?
- Welche Gefahren bergen die Schritte, die ihr gehen wollt?
- Welchen Raum wollt ihr Religiosität an eurer Schule explizit nicht geben?
- Wie wollt ihr mögliche Schritte an eurer Schule anstoßen?
Diese Fragen könnten als Leitfragen dienen, so unser Projektleiter, um schulischem Personal eine gute Orientierung durch dieses schwierige Thema zu geben.
Anschließend übernahm Sebastian Ramnitz den Teil zu politischen Konfliktthemen in der Schule. Ramnitz ist Coach, Supervisior, Organisationsentwickler, Mimikresonanzcoach, Organisationsmediator und gelernter Erzieher, hat 10 Jahre in der Jugendhilfe gearbeitet und 2006 den Verein ContRa e.V. gegründet.
„Ihr glaubt gar nicht, wie schnell Dinge möglich sind, wenn man will“
Er nutzte die Gelegenheit gleich zu Beginn auf die Frage nach der Etablierung von Räumen der Stille einzugehen und erzählte von einem Suizid-Fall an einer Schule, an der drei Stunden nach der Nachricht über einen Suizid ein Trauer- und Gebetsraum eröffnet wurde. Die im Raum stehende Frage sei dabei nicht jene gewesen, inwiefern das zu Konflikten führen könnte, sondern: „Was brauchen die Schüler:innen in dieser Situation?“
Ramnitz ermutigte das anwesende schulische Personal dazu, Ideen „einfach“ mal auszuprobieren – und sie nicht nur „von oben“ zu beschließen, sondern Schüler:innen in Entscheidungsprozesse zu inkludieren, ihnen gegenüber auch transparent zu machen, dass es sich möglicherweise um eine Testphase handelt. So sei auch viel besser vermittelbar, von einer Idee gegebenenfalls wieder Abstand zu nehmen, wenn sie nicht funktioniere. Denn so hätten Schüler:innen letztlich mitentschieden, etwas zu versuchen – und es sei ortwährend transparent, dass es sich um einen Versuch handele. Ramnitz warnte somit vor einer übermäßigen Angst vor Kontrollverlust durch schulisches Personal in Krisensituationen.
“Schüler:innen das Gefühl geben, gesehen zu werden”
Anschließend lag der Fokus zunehmend auf der Frage, was politische Neutralität in der schulischen Alltagspraxis bedeuten kann. Ramnitz begann mit mehreren Kennenlern-Spielen. Immer wieder nutzte er Ansätze in einem doppelten Sinne: Erstens für seinen Workshop selbst; und zweitens als Vorschlag für mögliche Methoden, die die Anwesenden in ihren Schulen nutzen können. Ein Beispiel: Der Reihe nach zog jede anwesende Person eine Karte, auf der beispielsweise stand:
- „Wenn ich will, schaffe ich…“
- „Zum Glück habe ich…“
- „Was habe ich gut gemacht, das mir sonst schwer fällt?“
- „Das ist gut so, wie es ist…“
- „Ich bin alt genug, um…“
- „Was war für mich das schönste Geschenk?“
Nachdem alle Anwesenden auf eine Karte reagierten, begab sich die Gruppe auf eine Meta-Ebene. Die in unterschiedlichen Formen käuflich erwerbliche Übung [2] stelle Nähe zwischen Schüler:innen und schulischem Personal her, stellte eine Teilnehmerin fest. Sie habe das Potenzial, diesen das Gefühl zu geben, gesehen und wertgeschätzt zu werden.
„Bildung ist Beziehung“
Anschließend nutzte Ramnitz eine weitere Übung, verteilte Karten mit Bildern in der Mitte des Raumes und bat die Anwesenden darum, je eine Karte aufzusammeln, die am besten zum Verlauf des eigenen Lebens im vergangenen halben Jahr passe. Der Verlag, der das Spiel konzipiert hat, beschreibt das Spiel folgendermaßen [4]:
„Die Bilder zeigen Szenen in verschiedenen Höhen und Tiefen, in unterschiedlicher Umgebung, bei wechselnder Wetterlage und berücksichtigen folgende therapierelevante Themen:
- starten und landen
- beginnen und beenden
- Ziele und Richtungen suchen, festlegen und verfolgen
- Schicksalsschläge erleben und bewältigen
- unterwegs sein und aktiv vorankommen
- Distanz und betrachtende Übersicht
- Alleinsein, Einsamkeit und soziale Beziehungen
- Selbstfürsorge, Genuss und Entspannen“
Auf beeindruckende Weise öffneten sich auch viele der anwesenden Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter:innen, erzählten etwa von einer für sie körperlich und seelisch anstrengenden Operation, von hoher Arbeitsbelastung, von Streit mit der eigenen Tochter, von Unsicherheit durch einen neuen Job, von mehreren schnell aufeinanderfolgenden Todesfällen in der Familie, vom Schulabbruch des eigenen Kindes, von einem Beziehungsende nach 30 Jahren, von einem Krankenhausaufenthalt, vom Auszug der eigenen Kinder vor kurzem, von Konflikten mit einem Kollegen, von einem Unfall des Ehepartners und gesundheitlichen Belastungen. Ramnitz stellte im Sinne des systemischen Ansatzes, den das Projekt CleaRNetworking vertritt, [3] immer wieder ressourcenorientierte Rückfragen („Was fehlt dir, um den Kontakt zu deiner Klasse wertschätzend herzustellen?“, „Was brauchst du, um das zu können?“, etc.)
Junge Menschen machen nur mit, wenn sie sich gesehen fühlen, wenn es einen guten Kontakt zwischen schulischem Personal und Schüler:innen gibt, so Ramnitz. Und gleichzeitig ermögliche die Übung jeder einzelnen Person, selbst zu entscheiden, was sie von sich preisgebe, ob eher oberflächliches oder tieferes. Gerade so könnten junge Menschen erlernen, die Grenzen anderer zu akzeptieren – und auch bei Rückfragen nicht penetrant zu sein; Offenheit für die Themen der Anderen zu erlernen, Gemeinsamkeit sichtbar zu machen und zu erfahren, dass einem zugehört wird. „Bildung ist Beziehung“, zog Ramnitz ein erstes Zwischenfazit – und auch darin lag eine Antwort auf die zentrale Frage des Netzwerktreffens: Was bedeutet Neutralität für schulisches Personal?
„Professionelle Nähe statt professioneller Distanz“
Immer wieder brachte Ramnitz eigenes Erfahrungswissen ein, Methoden, die er genutzt und Geschichten, die er während seiner pädagogischen Arbeit erlebt hatte. So erzählte er von fünf Jugendliche, die nachsitzen mussten. Weil sie ziemlich bedröppelt vor dem Lehrkräftezimmer saßen, bot Ramnitz an, sie mitzunehmen und mit ihnen die vier Nachsitz-Termine zu gestalten. Weil Ramnitz schnell feststellte, dass die fünf geframet waren als „schlechte Jungs“ und ein positives Selbstbild brauchten, trug er ihnen auf, zehn Eigenschaften zu sammeln, wieso sie jeweils ein guter Mensch sind. Diesen Reflexionsraum gab er ihnen – und forderte ihn auch ein. Obwohl klar wurde, dass die Aufgabe den Jungs nicht leicht fiel, ließ Ramnitz sie so lange in jenem sitzen, bis allen je zehn Eigenschaften einfielen. Und: Es durfte keine der Eigenschaften anderer kopiert werden. Die Jungs entwickelten so große Lust, mit Ramnitz zu arbeiten, dass er letztlich Projekttage mit der ganzen Klasse durchführte. Von der Idee der „professionellen Distanz“ halte er nichts, erklärte Ramnitz. Er sei Freund von „professioneller Nähe“. Der Ansatz stieß auf große Gegenliebe. Ein Teilnehmer bekräftigte, an seiner Schule sei für Beziehungsarbeit extra eine Theaterpädagogin eingestellt worden. Und eine andere betonte, man könne auch die Klassengemeinschaft nutzen, um einander auf gute Eigenschaften hinzuweisen. Das sei gerade im häufig doch eher defizitorientiert funktionierenden System Schule besonders wichtig.
„Weil du mein Sohn bist, du Arschloch.“
Ramnitz fügte eine weitere Anekdote hinzu: In einer Klasse fragte er mal, wann den Schüler:innen das letzte Mal von Menschen, die ihnen wichtig sind, gesagt wurde, dass sie sie liebhaben. „Ich weiß das nicht und das nervt mich,“ merkte einer an. „Darf ich meinen Papa anrufen?“ – „Wenn du auf Lautsprecher machst ja.“ Der Papa nimmt ab. „Papa, hast du mich lieb?“, „Ja klar“. „Und wieso sagst du das nie?“ „Ja, weil es doch klar ist.“ „Und wieso hast du mich lieb?“ – „Weil du mein Sohn bist, du Arschloch.“
Diese Anekdote zeigt, wie sehr junge Menschen auf ausdrückliche Wertschätzung angewiesen sind – und wie selten sie diese im privaten Umfeld tatsächlich erfahren. Gerade in einer Phase, in der sich Identität und Selbstwertgefühl entwickeln, kann fehlende Anerkennung tiefe Spuren hinterlassen. Die Schule hat hier die Chance – und zu einem gewissen Grad auch die Verantwortung – einen Ausgleich zu schaffen: durch eine zugewandte Haltung, ehrliches Interesse und kleine Gesten der Wertschätzung, die signalisieren: Du bist wichtig.
Wer will ich sein? Wertesysteme bearbeiten
Ramnitz fuhr fort mit einer dritten Methode der schulischen Beziehungsarbeit und fragte die Anwesenden, welche drei Werte ihnen am wichtigsten im Leben seien. Auf Wortmeldungen fragte er immer wieder, ob es Menschen gebe, die diesen Wert vorgelebt hätten; welche Lebensphase oder Geschichte dazu geführt habe, dass dieser Wert so wichtig sei, wo Werte/Fähigkeiten erlernt wurden. Optimismus, Glaube, Hoffnung, Liebe und Verzeihung wurden unter anderem genannt.
Anschließend wurde die Übung von einer Metaebene aus betrachtet. Dabei wurde deutlich, wie hilfreich es für Schüler:innen sein kann, die eigenen Werte zu reflektieren und darüber mit anderen ins Gespräch zu kommen – gerade wenn Meinungen zunächst unvereinbar scheinen. Es lohnt sich, aufzuzeigen, wie ähnlich sich Werte von Menschen sein können, die in ihrer Haltung vermeintlich weit auseinanderliegen.
Wenn man etwa mit einem Schüler konfrontiert sei, der sich rechtsradikal äußere und Abschiebungen fordere, könneein Gespräch über seinen Wunsch nach Sicherheit eine neue Richtung eröffnen. Schulisches Personal könnte zum Beispiel fragen: „Was gibt es denn noch für Möglichkeiten, Sicherheit zu gewinnen? Muss das wirklich durch Abschiebung geschehen – oder kann Sicherheit auch entstehen, wenn man Menschen besser kennenlernt?“
Ein anderes Beispiel: Ein rechtsdenkender Jugendlicher schätzt seinen Großvater sehr, weil dieser der Einzige ist, der ihm zuhört. Vom Opa hat er auch die Idee einer Volksgemeinschaft übernommen. Schulisches Personal kann hier ansetzen und fragen: „Was magst du denn noch an deinem Opa? Was vertritt er außer dieser einen Idee?“ Auf diese Weise kann man als Moderator positive Werte wie Zuwendung, Verlässlichkeit oder Fürsorge stärken, während demokratiefeindliche Vorstellungen in den Hintergrund rücken und hinterfragt werden können.
Ziel ist es nicht, moralisch zu belehren, sondern junge Menschen dazu zu bringen, ihr eigenes Wertesystem zu bearbeiten. Das kann nicht von außen geschehen – aber man kann ihnen Räume und Impulse bieten, um Identitätsarbeit zu leisten und sich zu fragen: Wer will ich sein?
Wie geht’s dir: Schulische Anforderungen vs. persönliche Herausforderungen
Nach einer Pause fragte Ramnitz alle Anwesenden ab, wie es ihnen auf einer Skala von 1-10 gehe. Auch das ist aus Sicht des CleaRNetworking eine sinnvolle Übung für Klassen. Bei allen Antworten unter 5 fragt er, was er oder die Gruppe für die Person tun könnte. Auch darin liegt eine kleine Geste, die einen Beitrag leisten kann zu einem wertschätzenden Schulklima und die das Gefühl verstärken kann, gesehen zu werden.
Schulisches Personal brauche ein Bewusstsein für Gewalt, Ängste, Sorgen, Kummer und Nöte, mit denen sich Teile ihrer Schüler:innen konfrontiert sehen. Ramnitz erzählte von einem Schüler, der einen Mathe-Aufgabenzettel wegwischte. Als er einen neuen bekam, zerriss er ihn. Als Ramnitz ihm einen neuen hinlegte, schlug er schreiend auf ihn ein und schrie vermeintlich unzusammenhängende Satzteile wie „Meine Schwester“, „Gefängnis“, „vergewaltigt“. Als sich die Situation beruhigte, erfuhr Ramnitz, dass die Schwester des Schülers vergewaltigt worden war und der Täter nun aus dem Gefängnis entlassen wurde. In so einer Situation von Schüler:innen einzufordern, Bruchrechnung einzuüben, sei blödsinnig. Schulische Anforderungen und persönliche Themen seien nicht immer kompatibel. Um dieses Missverhältnis zumindest ansatzweise aufzufangen, könne eine kurze Runde, in der jede:r sagen kann, wie gut es einem auf einer Skalara von 1-10 geht, hilfreich sein.
„Wer gesehen wird, muss sich nicht sichtbar machen durch extreme Mittel“
Ramnitz schilderte einen weiteren Fall aus seiner Erfahrungs-Schatzkiste, der eindrücklich die komplexen Dynamiken zwischen Provokation, individueller Wahrnehmung und pädagogischem Handeln aufzeigt. Er berichtete von seiner Erfahrung mit einem elfjährigen Schüler, der ihn über einen längeren Zeitraum massiv provozierte.
Auslöser war die bunte Irokesenfrisur des Pädagogen, die der Schüler offenbar als politisches Statement deutete und ihn daraufhin mit „Boah, Nazi“ beschimpfte. In der Folge provozierte der Junge Ramnitz immer wieder mit dem Zeigen des Hitlergrußes – ein Verhalten, das trotz verschiedenster pädagogischer Maßnahmen wie Ermahnungen, Nachsitzen oder Androhung einer Anzeige nicht endete.
Ein Wendepunkt trat ein, als Ramnitz – an einem schlechten Tag – den Schüler körperlich festhielt und ihn mit einer sarkastisch-verstörenden Aussage („Wie fandest du unsere letzte Nacht im Heizungskeller?“) konfrontierte. Der Schüler reagierte verstört, suchte aber weiterhin die Konfrontation, indem er versuchte, Ramnitz dazu zu bringen, die Aussage vor Lehrkräften oder in der Klasse zu wiederholen. Nachdem Ramnitz dies schließlich einmal im Klassenkontext wiederholte, endeten die Provokationen.
Ramnitz betonte, dass sein Vorgehen keineswegs zur Nachahmung empfohlen ist. Vielmehr müsse verstanden werden: Der Junge suchte durch Provokation gezielt Aufmerksamkeit und eine individuelle Beziehung. Die ständigen Grenzverletzungen waren Ausdruck eines Bedürfnisses, gesehen zu werden – nicht Ausdruck ideologischer Überzeugung.
Wiederholte Provokationen, auch in Form extremistischer Gesten oder Aussagen, können ein unkonventioneller Ausdruck des Wunsches nach individueller Wahrnehmung sein – besonders bei jungen Schüler:innen. Nachhaltige Präventionsarbeit gegen Radikalisierung beginnt mit individueller Beziehungsarbeit. Wer gesehen wird, muss sich nicht sichtbar machen durch extreme Mittel.
Fallarbeit durch die Brille Dritter
Im Anschluss teilte Ramnitz die Anwesenden in Gruppen ein und ließ sie Fälle aus ihrem Berufsalltag visualisieren, die sich um Grenzen politischer Neutralität drehen. Eine je andere Gruppe sollte anschließend Lösungsvorschläge für die Herausforderung einer anderen Gruppe erarbeiten. Dieses Vorgehen birgt die Möglichkeit, dass pädagogische Expertise gezielt mit etwas Abstand von Dritten eingeholt wird. Besprochen wurde im Plenum anschließend etwa ein Fall, in dem einer Schülerin ein Kopftuch von einer anderen Schülerin heruntergerissen wurde – und welche Rolle die Eltern dabei spielten sowie ein Fall eines Jungen, der nicht mit auf eine Gedenkstättenfahrt wollte.
Im Folgenden ein paar weitere Fallbeispiele, die im Laufe des Tages diskutiert wurden und die zeigen, wie pädagogisches Handeln zwischen Grenzsetzung, Beziehungsarbeit und strukturellem Schutz angelegt sein kann, um effektiv gegen Radikalisierung, Diskriminierung und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vorzugehen.
Fall 1: Neonazistische Haltung und familiäre Bindung
Ein Schüler weigerte sich, mit „Untermenschen“ Bus zu fahren und zeigte eine starke Affinität zu nationalsozialistischer Symbolik. In der Arbeit mit ihm wurde deutlich: Nicht ideologische Überzeugung war der Ursprung, sondern die Bindung an den Großvater – eine prägende Bezugsperson. Durch gemeinsame Gespräche über Werte des Großvaters konnte differenziert werden, was am Vorbild bewahrenswert war und was kritisch zu sehen ist. Ideologische Äußerungen können Ausdruck familiärer Loyalitäten sein. Differenzierungsarbeit in Beziehung ist zentral.
Fall 2: Queerfeindliche Äußerungen durch Lehrkraft
Mit Bezug auf einen Fall diskriminierender Äußerungen einer Lehrkraft wurde im Plenum diskutiert, wie sinnvoll ein Pressestatement der Schülervertretung ist. Die Gruppe erkannte, dass eine solche Maßnahme wirksam sein kann, aber gut begleitet werden muss, um die Schüler:innen nicht zu überfordern. Öffentlichkeitswirksame Schritte können Druck erzeugen – sie brauchen aber pädagogische Begleitung und Risikobewusstsein.
Fall 3: Rassistische Stereotypisierung im Unterricht
Ein Lehrer nutzte zwei Schüler:innen zur Darstellung rassistischer Zuschreibungen. Die Klasse reagierte geschlossen, verfasste einen Brief und forderte eine Entschuldigung. Der Lehrer reagierte – die Klasse hatte ein starkes Signal gesetzt, auch für andere Klassen. Schüler:innen können Verantwortung übernehmen, wenn sie unterstützt werden. Kollektives Handeln schafft Schutzräume.
Fall 4: Sexistische Beleidigungen im Klassenraum
Wiederholt wurden Begriffe wie „Schlampe“ und „Flittchen“ verwendet. Mit dem „No Blame Approach“ wurde versucht, nicht nur zu sanktionieren, sondern auf Selbstreflexion zu setzen: Was sagt dein Verhalten über dich aus? Klassen brauchen Räume zur Selbstregulation. Nicht immer braucht es Sanktionen – manchmal braucht es Dialog über Identität und Haltung.
Fall 5: Ablehnung weiblicher Autorität
Ein Schüler wollte Mädchen vorschreiben, wie sie zu leben haben, verweigerte aber jegliche Gesprächsbereitschaft gegenüber einer weiblichen Lehrkraft. Wer Gehör finden will, muss über passende Bezugspersonen vermittelt werden. Nicht jede:r kann jede:n erreichen – das ist keine Schwäche, sondern Teil professioneller Vermittlung.
Fall 6: Alltägliche verbale Gewalt
In einer Pause fielen Dutzende Male beleidigende und rassistische Begriffe. Das kann aufgegriffen werden, um zu Selbstreflexion anzuregen: „Wann habt ihr damit angefangen? Was wäre passiert, wenn es jemand frühzeitig angesprochen hätte?“ Ergebnis: Die Jugendlichen hätten es akzeptiert. Frühzeitige Interventionen können Entwicklungen verhindern. Jugendliche wissen oft, dass ihr Verhalten destruktiv ist – sie brauchen aber eine Einladung zur Veränderung.
Fall 7: Strafanzeigen als pädagogische Herausforderung
Die Frage, ob bestimmte Vorfälle angezeigt werden müssen, wurde diskutiert. Wichtig: Auch eine Anzeige kann in eine beziehungsorientierte Sprache eingebettet werden („Es tut mir leid, aber ich muss das tun“). Pflicht und Beziehung schließen sich nicht aus. Wie etwas gesagt wird, ist entscheidend. Rechenschaftspflicht kann beziehungsfördernd sein, wenn sie empathisch kommuniziert wird.
Fall 8: Vorbilder statt Neutralität – Orientierung durch Identifikationsfiguren
Der Begriff der „Neutralität“ von schulischem personal, so Ramnitz, sei „in sich eine Lüge“. Denn junge Menschen benötigen klare Haltungen und erlebbar gemachte Werte – und keine vermeintlich neutralen Positionen. Ein Ansatz, der in der Praxis gut funktioniere, sei es, über popkulturelle oder fiktionale Vorbilder ins Gespräch zu kommen. So kann etwa gefragt werden: „Welche Filme mögt ihr? Welche Figuren findet ihr spannend?“ Daraus ergeben sich niedrigschwellige Gesprächsanlässe über Themen wie Selbstregulation, Moral und Umgang mit Emotionen. Ein Beispiel: Ein Schüler mag Hulk. Daraus ergibt sich die Frage: „Wie reguliert Hulk eigentlich seine Wut?“ – und damit ein Gespräch über Impulskontrolle, Identität und Entwicklung, ohne direkt konfrontativ zu sein.
Fall 9: Politische Bildung zwischen Dialog und Grenzziehung – Umgang mit der AfD an Schulen
Im Workshop wurde auch die kontroverse Frage diskutiert, ob die AfD zu schulischen Podiumsdiskussionen mit anderen Parteien eingeladen werden sollte. Die Teilnehmenden vertraten hierzu unterschiedliche Positionen, die grundlegende Spannungsfelder der politischen Bildung berühren.
Ein Teilnehmender argumentierte, dass der Ausschluss der AfD bei Jugendlichen, die sich mit dieser Partei identifizieren, das Gefühl verstärke, mundtot gemacht zu werden. Das könne zu weiterer Abgrenzung und Solidarisierung führen. Stattdessen wurde vorgeschlagen, Formate wie die Fishbowl-Methode zu nutzen, um gezielt in den argumentativen Austausch zu gehen – mit dem Ziel, problematische Positionen inhaltlich zu entkräften, statt sie auszusperren.
Demgegenüber äußerten andere Teilnehmende Bedenken: Besonders rhetorisch geschulte Vertreter:innen rechter Parteien könnten ein solches Format strategisch ausnutzen. Die Gefahr, diesen Positionen „gleiche Bühne“ zu geben wie demokratischen, wurde als ernsthaftes Risiko benannt.
Konsens bestand jedoch darin, dass eine Einladung – wenn überhaupt – nur unter klaren Bedingungen erfolgen sollte: mit durchdachter Dramaturgie, starken Gegenspieler:innen auf dem Podium, festen Regeln für das Format und einer sensiblen Vor- und Nachbereitung im Unterricht.
Politische Bildung in der Schule muss Haltung zeigen und darf nicht in vermeintlicher Neutralität aufgehen. Gleichzeitig gilt es, Jugendliche nicht an extreme Positionen zu verlieren – ausgrenzungsfrei, aber nicht schrankenlos. Dialog darf nicht zur Bühne für Menschenfeindlichkeit werden, sondern braucht klare pädagogische Leitplanken.
Folgende zentrale Erkenntnisse hat das Netzwerktreffen Neutralität geliefert:
- Beziehungsarbeit ist Schlüssel zur Prävention und Entwicklung
Schule gelingt über Beziehung, nicht allein über Inhalte. Wertschätzende Kommunikation und professionelle Nähe schaffen Bindung – die wichtigste Grundlage, damit Schüler:innen sich öffnen, entwickeln und nicht zu radikalen Ausdrucksformen greifen müssen. - Schüler:innen brauchen Beteiligung, nicht bloß Maßnahmen von oben
Ideen und Veränderungen sollten mit Schüler:innen gemeinsam erprobt werden – als transparente Testphasen. So entsteht Mitverantwortung statt Widerstand, und Fehler werden zu Lerngelegenheiten statt zu Machtfragen. - Politische Bildung braucht Haltung, nicht „Neutralität“
Neutralität in der Schule darf nicht Gleichgültigkeit bedeuten. Junge Menschen brauchen klar erkennbare, gelebte Werte wie Respekt, Empathie und Demokratie. Pädagogisches Handeln darf Position beziehen, ohne zu moralisieren. - Extremismus und Provokation sind oft Beziehungssignale, keine Ideologie
Jugendliche äußern sich radikal oder provozieren nicht selten, um Aufmerksamkeit und Beziehung einzufordern. Pädagogische Interventionen müssen daher das dahinterliegende Bedürfnis erkennen und beantworten – nicht nur sanktionieren. - Räume für Reflexion und Dialog fördern Identitätsentwicklung
Übungen zu Werten, biografischen Erfahrungen oder emotionalem Befinden fördern Selbstreflexion, soziale Kompetenz und Gemeinschaftsgefühl. Gerade in konfliktbeladenen Situationen ermöglichen solche Räume konstruktive Auseinandersetzung und stärken demokratische Haltung.
Literatur
[1] Kiefer, Lisa; Kiefer, Michael; Wurzel, Hanne; Stuppert, Wolfgang; Sträter, Till (2019): CleaR – Clearing Verfahren gegen Radikalisierung. Praktische Handeichung zur Radikalisierungsprävention im schulischen Kontext. 500. Aufl. Hg. v. Aktion Gemeinwesen und Beratung e.V. Online verfügbar unter https://www.clearing-schule.de/veroeffentlichung-der-handreichung-zum-modellprojekt/.
[2] Scholz, Falk Peter (2018): Stärken-Schatzkiste für Kinder und Jugendliche. Online verfügbar unter: https://www.beltz.de/fachmedien/psychologie/produkte/details/37222-staerken-schatzkiste-fuer-kinder-und-jugendliche.html
[3] CleaRNetworking (2025): Bericht zu Modul 3- Online verfügbar unter: https://www.clearing-schule.de/beziehungsarbeit-als-ressource-weiterbildungsmodul-3-25-systemische-beratung-28-04-25-29-04-25-hannover/.
[4] Vogt, Manfred/Vogt Sitzler, Franziska (o.J.): Höhen & Tiefen. Online verfügbar unter: https://www.mvsv.de/store/therapiekarten/hoehen-tiefen.html.
„Schule braucht Haltung statt falsch verstandener Neutralität“: Netzwerktreffen Neutralität, 13.05.25 - 14.05.25, Hamm