Am 08.04.2025 nahm unsere Projektleitung Dr. Junus el-Naggar am Fachtag „Der Einfluss christlicher Fundamentalisten auf Schule“ der katholischen Akademie Die Wolfsburg teil. Wir verzichten hier auf einen ausführlichen Bericht der Veranstaltung und stellen lediglich die zentralen Erkenntnisse für das Projekt CleaRNetworking dar.
Christlichen Fundamentalismus phänomenübergreifend verstehen
Christlicher Fundamentalismus spielt im schulischen Raum eine Rolle, die weder dramatisiert noch ignoriert werden sollte. Während der öffentliche Diskurs rund um religiös begründete Radikalisierung sich hauptsächlich um muslimischen Fundamentalismus bzw. sogenannten Islamismus dreht, berichteten zahlreiche Teilnehmende, die u.a. im Bereich Schule arbeiten, von Fällen von christlichem Fundamentalismus an ihren Schulen. Hier bietet sich der phänomenübergreifende CleaR-Ansatz an, dessen Grundsätze (bspw. bzgl. Haltung) wie auch dessen Verfahren sich auf Fälle von Radikalisierung in in unterschiedlichen Phänomenbereichen anwenden lassen, um Hinweise auf christlichen Fundamentalismus an Schulen strukturiert und systematisch zu bearbeiten.
Zwischen Ambiguitätstoleranz und Radikalisierung
Die Herausforderungen, vor denen schulisches Personal in diesem Phänomenbereich steht, sind vielfaltig: So erzählte eine Teilnehmerin von Widerstand einzelner Schüler:innen gegenüber dem Thema Evolution und Widersprüchen zur biblischen Schöpfungsgeschichte. Die Bibel sei hier wörtlich auszulegen. In diesem Zusammenhang sei an unserem Projektgrundsatz der weiten Meinungsfreiheit erinnert:
„Wir verstehen unter grundgesetzlicher Freiheit nicht nur die Freiheit, eigene Überzeugungen und Traditionen auszuleben, sondern auch die Freiheit, in einer pluralistischen Gesellschaft unterschiedliche Ansichten, Verhaltensweisen und Äußerungen anzuerkennen, selbst – und gerade wenn diese nicht mit den eigenen kulturellen oder persönlichen Werten übereinstimmen. Das Grundgesetz schützt ausdrücklich auch die Rechte derjenigen, deren Meinungen, Handlungen oder Ausdrucksformen fundamental von der Mehrheit oder dem eigenen Weltbild abweichen. Wir ermutigen deswegen dazu, Kontroversität, Debatte und Diskurs zuzulassen und zu fördern.“ [1]
Wenn ein:e Schüler:in an eine wörtlich ausgelegte biblische Schöpfungsgeschichte glaubt, dann kann und sollte schulisches Personal das grundsätzlich so lange akzeptieren, wie der Schüler oder die Schülerin sich der Teilnahme am Unterricht nicht verweigert, ihn stört, die Position anderer abwertet oder attackiert. Denn unser Projekt arbeitet mit dem Grundsatz,
„dass die Freiheit des Einen dort endet, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“ [2]
Diese beiden Grundsätze lassen sich auch auf zahlreiche weitere Fälle anwenden, die im Laufe der Veranstaltung thematisiert wurden, so etwa:
- Der Widerstand gegen das Aufhängen von Regenbogenflaggen im schulischen Raum
- Die Weigerung, bestimmte Texte im Unterricht zu lesen
- Die Auseinandersetzung mit Religionen, die sich von der eigenen unterscheiden
Die Komplexität dieser Fälle verdeutlicht ein weiteres Mal die Wichtigkeit davon, dass eine Schule mit einem einheitlichen Begriff von Radikalisierung und mit Indikatoren arbeitet. Dadurch kann sie unterschiedliche Phänomene der Radikalisierung koordiniert und vor allem nach denselben Maßstäben beurteilen. Mit Blick auf unseren Projektansatz gilt es zudem stets darauf hinzuweisen, dass sich schulische Radikalisierungsprävention gegen konkrete Aussagen oder Verhaltensweisen richtet, nicht gegen die Person, die diese äußert oder tätigt selbst.
Indikatoren christlichen Fundamentalismus
Es gibt zahlreiche Versuche, christlichen Fundamentalismus zu definieren. Für das Projekt CleaRNetworking praktisch relevant sind Indikatoren, die schulischem Personal dabei Orientierung bieten können, ihn zu identifizieren. Die Referentin Sonja Angelika Strube verwies in ihrem Vortrag auf den amerikanischen Historiker Scott Appleby und weitere Wissenschaftler:innen und trug so folgende Indikatoren zusammen:
- Absolutsetzen des eigenen Glaubens/Weltbilds, das wörtlich/literal aufgefasst wird – man meint, den Willen Gottes zu kennen
- Glaube soll die Person total – in all ihren Lebenszusammenhängen beanspruchen/einnehmen
- Starres Denksystem und/oder charismatische Führerpersönlichkeit
- Dualistische Weltbilder, Freund-Feind-Denken: kein Raum für Nuancen / Komplexität
- Rigide Normen – Forderung der Unterwerfung unter rigide Normen
- Ein absolutistisches Selbstverständnis
- Eine dualistische Weltsicht
- Verletzung von Gesetzen
- Gewaltanwendung
- Das Streben nach der Implementierung einer vergangenen Ordnung in der Gegenwart
- Geistlicher Missbrauch („Es ist okay, wenn du dich nicht dran hältst, aber dann verlässt du Jesus.“)
Von diesen Indikatoren erfordern aus Projektsicht nur jene die Intervention schulischen Personals, die im schulischen Raum die Freiheit Dritter einschränken. Selbst das Befolgen von schulischem Personal als rigide wahrgenommenen sozialen oder religiösen Normen sollte unserem Verständnis nach von einer breiten Ambiguitätstoleranz im schulischen Raum gedeckt sein, selbst wenn sie das handelnde schulische Personal irritieren, solange diese Normen nicht mit einer Perspektiveneinschränkung einhergehen. Und gleichzeitig können dieser (und weitere) Indikatoren für schulisches Personal ein Anlass sein, sich genauer mit einem jungen Menschen auseinanderzusetzen. Aus unserer Projektsicht gilt immer: Es sind immer mehrere verschränkte Indikatoren, die in ihrer jeweiligen Verschränkung einen möglichen Radikalisierungsprozess anzeigen.
Verschränkung von Neuen Rechten und christlichem Fundamentalismus
Die Phänomene des Rechtsextremismus und des christlichen Fundamentalismus verschwimmen so miteinander, dass sie teilweise kaum noch scharf voneinander trennbar sind. In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick auf bestimmte Medien:
Es gibt zahlreiche Brückennarrative zwischen den beiden Phänomenen, etwa moralischer Verfall (sexuelle Vielfalt, Feminismus, Abtreibung, moderne Genderrollen) oder Islam und Migration (Ablehnung gegenüber dem Islam und muslimischer Zuwanderung). Der christliche Fundamentalismus dient teils als religiöse Legitimation für extrem rechte Positionen (z.B. traditionelle Geschlechterrollen, heterosexuelle Ehe, religiös-nationalistische Narrative).
Pädagogische Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit christlichem Fundamentalismus
Mögliche pädagogische Handlungsmöglichkeiten zum Umgang mit dem Phänomen wurden auf dem Fachtag theaterpädagogisch behandelt. Sie unterscheiden sich kaum von denen zum Umgang mit anderen Phänomenen (etwa Ausdiskutieren, eigene Emotionen identifizieren, Provokation benennen). Unterschiedliche Herangehensweisen empfehlen sich je nach handelnder Person. An dieser Stelle verweisen wir auf das Dokument „Vorschläge pädagogische Maßnahmen im Umgang mit sich vermeintlich radikalisierenden jungen Menschen“ [3], das das Projekt CleaRNetworking für sein schulisches Netzwerk entwickelt hat.
[1] clearing-schule.de CleaRNetworking setzt sich ein für. Online verfügbar unter: https://www.clearing-schule.de/clearnetworking-setzt-sich-ein-fuer/
[2] Kiefer, Lisa; Kiefer, Michael; Wurzel, Hanne; Stuppert, Wolfgang; Sträter, Till (2019): CleaR – Clearing Verfahren gegen Radikalisierung.
Praktische Handeichung zur Radikalisierungsprävention im schulischen Kontext. Hg. v. Aktion Gemeinwesen und Beratung e.V., S. 12, online verfügbar unter https://www.clearing-schule.de/veroeffentlichung-der-handreichung-zum-modellprojekt/.
[3] clearing-schule.de. Vorschläge pädagogische Maßnahmen im Umgang mit sich vermeintlich radikalisierenden jungen Menschen. Materialien & Publikationen. Online verfügbar unter: https://www.clearing-schule.de/materialien-publikationen/