Am 20.11.24 und 21.11.24 kam das CleaRNetwork zusammen, um sich zwei Tage lang gemeinsam mit unterschiedlichen Facetten des Nahostkonflikts an deutschen Schulen auseinanderzusetzen. Leitend gestaltet wurden die beiden Tage überwiegend von Tomer Dotan-Dreyfus und Mohamed Ibrahim. Aus ganz Deutschland, aus unterschiedlichen Weiterbildungsjahrgängen und an unterschiedlichen Schulformen tätige Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter:innen kamen zusammen.

Tomer Dotan-Dreyfus, 1987 in Haifa geboren, lebt seit dreizehn Jahren in Berlin und ist als freier Autor, Lyriker und Übersetzer tätig. Mohamed Ibrahim, geboren in einem Geflüchtetenlager im Libanon, ist Diplom-Politologe mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen.

Nach einer kurzen Erwartungsabfrage begann das Duo mit einer Reflexionsübung der eigenen Bezüge der Teilnehmenden zum Nahostkonflikt. In der an die Gruppenarbeit anschließenden Diskussion im Plenum zeigten sich ganz unterschiedliche Prägungen. „Ich habe gelernt, immer auf der Seite des Underdogs zu stehen,“ reflektierte etwa eine Lehrkraft. „Ich hatte mal das Gefühl, gut darin zu sein, grau statt schwarz und weiß zu sehen, kann das Vorgehen der israelischen Armee inzwischen aber nicht mehr rechtfertigen,“ merkte eine andere Lehrkraft an. Es sei jedoch auch nicht alles schlecht, war einer Teilnehmerin wichtig zu betonen. Sie habe mit ihrer Klasse vor kurzem eine Synagoge besucht und sei von den offenen, interessierten und differenzierten Fragen ihrer Schüler:in positiv überrascht gewsen. Aufgrund der eigenen Betroffenheit sei es zunehmend schwierig, eine ausgleichende und ausgewogene Haltung den eigenen Schüler:innen gegenüber an den Tag zu legen, öffnete sich eine weitere Person.

„Charismatische Unsicherheit“

Dotan-Dreyfus merkte in diesem Zusammenhang an, es sei grundsätzlich schwer, den Nahostkonflikt zu verstehen, aber umso leichter, betroffen zu sein über hungernde Kinder. Er brachte dafür einen Begriff ein, der im Laufe des Netzwerktreffens wiederholt aufkommen sollte: „Charismatische Unsicherheit“. Was er damit meint ist, authentisch ehrlich zu bleiben und offen einzugestehen, keinen umfassenden Ein- oder Überblick in die Geschehnisse und Hintergründe des Nahostkonflikts zu haben. Schüler:innen mit dieser authentischen Einstellung zu begegnen, könne bei diesen auf große Anerkennung stoßen. Handelt es sich bei der aktuellen israelischen Politik etwa um Apartheid, um einen Genozid? „Keine Ahnung, aber lasst uns zusammen die Definition von Apartheid nachschlagen und gucken,“ wäre eine charismatisch unsichere Antwort.

Es folgte eine biographische Selbstreflexion der beiden Referenten. Heute blicke er kritisch auf seine Kindheit zurück so Dotan-Dreyfus, sprach von einer „einseitigen Unterrichtung“. Eine Klassenfahrt nach Auschwitz habe er als politisierend empfunden und in Zusammenhang mit der Wehrpflicht verortet. Bilder aus Gaza habe er in den Medien kaum gesehen; die Bilder des 07.10.23 hingegen seien sehr präsent gewesen. Es gebe inzwischen kaum noch Schulen, an denen Politik unterrichtet würde; da sein unter dem derzeitigen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu gekürzt worden. Entsprechend werde auch kaum demokratisches Bewusstsein geschult. Dotan-Dreyfus berichtete auch von Palästinenser:innen, die sich in der sehr heterogenen Stadt Haifa nicht zu demonstrieren trauten, weil sie sich von der Polizei ungerecht behandelt fühlten.

„Juden und Jüdinnen nicht gegen Muslim:innen ausspielen“

Heute in Berlin-Neukölln fühle er sich sicher, erzählte Dotan-Dreyfus weiter. Einer medialen Panik vor vermeintlich alles beherrschendem Antisemitismus in Neukölln könne er nicht viel abgewinnen; diese Konstruktionen spiegelten seine Gefühlswelt nicht wider. Einem Teilnehmenden war es an diesem Punkt wichtig, darauf hinzuweisen, dass es Übergriffe auf Jüdinnen und Juden aufgrund ihres Jüdischseins immer wieder gebe, dass es wichtig sei, das auch zu benennen. Dotan-Dreyfus betonte daran anschließend klar, als Jude nicht gegen Muslim:innen ausgespielt werden zu wollen. Es sei wichtig, genau zu fragen, wo Angst herkomme, die Jüdinnen und Juden verspüren, wenn sie sie verspüren.

Mohamed Ibrahim erzählte, wie er, im Libanon geboren, mit 4 Jahren nach Deutschland gekommen sei und viel palästinensischen Schmerz mitbekommen habe, wenn sein Vater sonntags Palästinenser:innen frisierte. Die Absage einer Demonstration, die er nach dem 07.10.23 organisieren wollte, habe ihn erschüttert. Es gelte beim Blick auf die Wut mancher Demonstrierender zu berücksichtigen, dass Teile der Demonstrierenden Familienmitglieder im Nahostkonflikt verloren hätten. Kontextualisierendes Faktenwissen sei nicht immer der richtige Ansatzpunkt im Gespräch mit Wütenden. „Wenn jemand gerade seinen Vater verloren hat, nutzt ihm Hintergrundwissen nichts,“ fügte Dotan-Dreyfus noch hinzu. Ibrahim habe sehr bewegt, dass es mehrere Israelis waren, die ihn nach dem 07.10.23 als erste gefragt hätten, wie es ihm gehe.

„Unterwegs in einer nicht alle Perspektiven, Emotionen und Fakten umfassenden Blase“

Es folgte eine Übung, bei der zwei Personen einander gegenübersitzend zusammen mit nur einem Stift ein Bild malen sollten. Vorher wurde ihnen jeweils das zu malende Bild gezeigt. Was die Teilnehmenden nicht wussten war, dass die den beiden Partner:innen jeweils gezeigten Bilder zwar sehr ähnlich, aber nicht identisch waren: Während die eine Seite eine Maus zu sehen bekam, handelte es sich bei der anderen Seite um ein Gesicht. In der anschließenden Reflexionsrunde zeigte sich, wie unterschiedlich die Paare vorgegangen waren. Ein Tandem teilte die Führung des Stiftes auf, in einem anderen  machte niemand etwas, wiederum andere Duos wechselten sich ab, andere machten es gemeinsam. Anschließend wurde die Übung auf den eigenen Blick auf den Nahostkonflikt übertragen. Es sei aufgrund der eigenen Sozialisation häufig schwierig, bestimmte Bilder zu sehen. Jede:r sei in gewisser Weise in einer nicht alle Perspektiven, Emotionen und Fakten umfassenden Blase unterwegs. Es folgte eine Debatte darüber, wie Perspektiverweiterungen auch im schulischen Kontext gelingen könnten, etwa durch die Einladung, eine mediale Vielfalt zu nutzen und kontroverse Dialoge zuzulassen.

„Für eine breit ausgelegte Meinungsfreiheit“

Anschließend wurden den Anwesenden mehrere Beispiele vorgehalten von Verhalten oder Äußerungen von Schüler:innen und ihre Aufgabe bestand darin, zu beurteilen, inwiefern es sich dabei um Antisemitismus handle oder um Kritik an der israelischen Regierung. Aus Sicht des Projekts CleaRNetworking plädieren wir für eine grundsätzlich breit ausgelegte Meinungsfreiheit. Die ist besonders wichtig, damit Schüler:innen sich wertgeschätzt fühlen und sicher sein können, sich frei zu äußern. Wie viele der Anwesenden berichteten, wird vielen Schüler:innen aktuell gerade diese Sicherheit genommen und es sei ein bedrückendes Klima der Angst entstanden. Eine Teilnehmerin nutzte in diesem Zusammenhang den Begriff der „Antisemitismus-Inflation“ und sprach so eine Gefahr an, die auch in den schulischen Raum wirke. Ein inflationärer Gebrauch von Antisemitismus-Vorwürfen verwische den Terminus, werte tatsächlichen und interventionswürdigen Antisemitismus ab und schaffe eben dieses Klima der Angst, nicht frei reden zu können. Grundsätzlich scheint es eine Frage der pädagogischen Haltung zu sein, ob ein breites Diskursfeld der Meinungsvielfalt zugelassen werden will oder ob man nach Antisemitismus im schulischen Alltag suche.

Gleichzeitig ist es selbstverständlich wichtig, eine Grenze zum Antisemitismus zu setzen. Die Übung verdeutlichte, dass gerade in heterogenen Gruppen meist kein Konsens über die Bewertung einer vermeintlich antisemitischen Äußerung herrsche. Und so war es auch in dieser Gruppe mit Blick auf die folgenden Äußerungen:

  • Ein Schüler sagt zu seiner Lehrerin während des Unterrichts: „Israel bombardiert Gaza und tötet unschuldige Palästinenser“.
  • Eine Schülerin äußert sich nach einer Dokumentation zum Holocaust: „Wie können Juden, die so sehr verfolgt wurden, jetzt so schlimme Dinge mit den Palästinensern machen?
  • Während einer Gruppenarbeit in einer Klasse sieht ein Schüler bei seiner Mitschülerin eine Halskette mit einem Davidstern und sagt: „Du bist Jüdin, ich möchte nicht mehr in Deiner Gruppe sein“.
  • Während einer Diskussion zwischen einer muslimischen und einem jüdischen Studenten in einem Seminar: „Ich kaufe keine Produkte aus den von Israel besetzten Gebieten.“
  • Eine Lehrerin während einer Diskussion mit anderen Lehrer:innen im Klassenzimmer: „Wann können wir hier in Deutschland endlich einen Schlussstrich ziehen. Ich habe keine Schuld, was im 2. Weltkrieg mit den Juden passiert ist, wieso soll ich dann Schuldgefühle haben?“
  • Die US-Eismarke Ben & Jerry‘s beendet aus politischen Gründen den Verkauf in den von Israel besetzten Gebieten.

 

In diesem Zusammenhang kamen auch verschiedene Ansätze der Definition von Antisemitismus auf, die der IHRA (2005) [1] und die Jerusalem Declaration (2021) [2], die die Vielschichtigkeit der Ansätze aufzeigte:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ (2005)

„Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).“ (2021)

Dotan-Dreyfus wies anschließend auf die Relevanz einer Kontextualisierung hin und fragte, ob es Kontexte gebe, in denen eine antisemitische Äußerung nicht für antisemitisch gehalten werde – und umgekehrt. „Israel bombardiert Gaza und tötet unschuldige Palästinenser“ etwa, sei aktuell eine faktische Realität. Gleichzeitig könne diese Äußerung problematisiert werden, wenn sie beispielsweise im Rahmen einer Klassenfahrt nach Auschwitz aufkomme.

„Solidarität mit menschlichem Leid kann unabhängig von religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit erfolgen“

Tag 2 des Moduls startete mit einem historischen Abriss des Nahostkonflikts, der aus Projektsicht gleich mehrere Erkenntnisse brachte:

  1. Ein Diskurs, der den 7.10.23 als Auslöser der aktuellen Gewalt im Nahen Osten rahmt, ist verkürzt. Der Konflikt läuft seit vielen Jahrzehnten. Wenngleich er nie zu rechtfertigen ist, hat auch Terror einen Kontext. Das sollen Schüler:innen anmerken dürfen, ohne Sorge, dafür sanktioniert zu werden.
  2. Die Frage „Wer hat angefangen?“ führt ins Leere, weil der Vorwurf von unterschiedlichen Parteien jeweils einer anderen Partei vorgehalten wird. Schüler:innen kann aufgezeigt werden, dass diese Argumentation von unterschiedlichen Seiten angeführt werden kann und somit nicht zielführend ist.
  3. Solidarität mit menschlichem Leid kann unabhängig von religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit erfolgen. Schulen können sich so positionieren, ohne parteiisch zu werden.
  4. Gerade in unübersichtlichen Kriegszuständen ist es wichtig, mediale Vielfalt zu konsumieren. Wenn beispielsweise in Medien Opferzahlen von der Hamas wiedergegeben werden oder Sprecher der israelischen Armee zu Wort kommen, dann gilt es zu berücksichtigen, dass es sich bei den sich Äußernden um Kriegsparteien handelt. Schulisches Personal kann gemeinsam mit Schüler:innen unterschiedliche mediale Darstellungen gemeinsam reflektieren.
  5. Die aktuelle israelische Politik kann als rechtsradikal-zionistisch bezeichnet werden. Diese Einschätzung ist gerade für den schulischen Diskurs wichtig, weil sie eine Differenzierung ermöglicht zwischen dem Staat Israel als solchem einerseits und einer konkreten politischen Ausgestaltung seiner Idee. In diesem Zusammenhang lässt sich fragen, ob deutsche Staatsräson die Sicherheit Israels anstrebt oder die der israelischen Bevölkerung. Staaträson könne – und sollte – den Schutz „aller bedrohter Minderheiten“ zum Ziel haben.

Umgang mit Gefühlen der Ungleichbehandlung

Diskutiert wurde anschließend auch über das unter sich Jugendlichen ausbreitende Gefühl der Diskursverengung. Viele Jugendliche empfänden ein Gefühl der Ungleichbehandlung und der Doppelmoral. Schmierereien an der Tafel etwa könne man sanktionieren; oder aber man deutet sie als Protest-Reaktion auf ein Gefühl, nicht frei reden zu können. „Gesehen fühlen sie sich, wenn es Raum gibt zu sprechen, auch über Gefühle,“ hieß es aus den Reihen der Anwesenden in diesem Zusammenhang. Auch wurde an Schulen appelliert, sich trauen zu trauern; damit bei Schüler:innen eben nicht das Gefühl aufkomme, es werde zwischen menschlichem Leid, etwa zwischen ukrainischem und palästinensischem ein Unterschied gemacht. Eben jenes Gefühl führe ansonsten dazu, dass Jugendliche sich unverstanden fühlten und sich abwendeten.

Das Grundrecht der Meinungsfreiheit als eines der „vornehmsten Menschenrechte überhaupt“

Es folgte noch die Analyse zweier medialer palästinensischer und israelischer Perspektiven und dann übernahm Prof. Klaus Riekenbrauk, Rechtsanwalt und emeritierter Professor für Strafrecht, Jugendstrafrecht, Jugendhilferecht und Menschenrechte. Dieser warf all die rechtlichen Fragen rund um den Nahostkonflikt an deutschen Schulen auf, mit denen sich die Teilnehmenden schon vor einigen Wochen an ihn gewandt hatten. Riekenbrauk begann mit dem außerordentlich relevanten Gut der Meinungsfreiheit. Damit regte er eine Perspektive an, die von eben jenem Gut als Ausgangspunkt der Erlaubtheit oder Verbotenheit von Demonstrationen, Symbolen oder Äußerungen ausgeht. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit rechnet zu den „vornehmsten Menschenrechten überhaupt“. Für ein freiheitliches demokratisches Gemeinwesen ist das Grundrecht konstituierend (BVerfGE 93, 266/292 f); es dient dem demokratischen Prozess, ohne dass es sich darauf beschränkt. Es sichert, dass jeder frei sagen kann, was er denkt, auch wenn er keine nachprüfbaren Gründe für sein Urteil angibt bzw. angeben kann (BVerfGE 61, 1/7). Der Begriff der Meinung sei „grundsätzlich weit zu verstehen“. Er umfasse Werturteile und, jedenfalls weithin, auch Tatsachenbehauptungen. Keine Rolle spiele es hingegen, welche Themen berührt würden; die Meinungsfreiheit schütze die Kommunikation in allen Bereichen. Unerheblich sei des Weiteren, „ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird“ (BVerfGE 124, 320). Eine Meinungsäußerung verliert den grundrechtlichen Schutz nicht dadurch, dass sie scharf oder verletzend formuliert ist (vgl. BVerfGE 54, 129, 136 ff.).

Diese Rechte finden ihre Schranken jedoch in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre (Art. 5 Abs. 2 GG).

„Bei mehreren Deutungsvarianten einer Äußerung genau begründen, weshalb gerade die strafbare maßgeblich sein soll“

Fällt nun etwa die Parole „From the river tot he sea, Palestine will be free“ unter Volksverhetzung (§ 130 StGB)? Für Riekenbrauk müsse sich die Tat gegen eine Gruppe bzw. einen Bevölkerungsteil im Inland richten. Da er sich aber auf das Gebiet zwischen dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer beziehe, fehlt bereits der erforderliche Inlandsbezug (vgl. Fischer § 130 Rn. 4a) Mit der Meinungsäußerungsfreiheit sei es unvereinbar, den Satz als Volksverhetzung einzustufen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssten Gerichte bei mehreren Deutungsvarianten einer Äußerung genau begründen, weshalb gerade die strafbare maßgeblich sein solle (BVerfG NJW 2001, 61, 63). Ist eine straffreie Interpretation aufgrund der Gesamtwürdigung der Äußerung und seiner Begleitumstände plausibel und nicht nur denktheoretisch möglich, ist eine Volksverhetzung zu verneinen (vgl. BVerfG NStZ 1990, 383). Zu berücksichtigen sei auch, dass bei Auseinandersetzungen über gesellschaftlich oder politisch relevante Fragen eine Vermutung zu Gunsten der Freiheit der Rede bestehe (s. z.B. BVerfG NJW 1995, 3303, 3305). Der Satz lasse dabei verschiedene Deutungen zu. Spätestens seit den 1960er-Jahren verwenden ihn vielfältige Akteur:innen. Er wurde unter anderem zu einem Aufruf, einen säkularen demokratischen Staat im gesamten historischen Palästina aufzubauen. Die Palästinenser:innen hofften, dass sie in einem Staat frei von Unterdrückung jeglicher Art leben würden. Wer den Satz voreilig als verhetzend interpretiere, werde den Akteur:innen, der Geschichte und den erhobenen politischen Forderungen nicht gerecht, sondern reduziere ihn in unlauterer Weise. [3]. Auch das Verwaltungsgericht Münster (17.11.2023) betont, dass die „Interpretationen der Parole von einer Forderung nach der Freiheit für Palästinenser von der israelischen Besatzung gemäß des Völkerrechts über den Aufruf für einen vereinten Staat für Juden und das palästinensische Volk in der gesamten Region Palästina, bis hin zu einem Aufruf zur Vernichtung des israelischen Staates“ reichten.

Das sieht das Bundesministerium des Innern und für Heimat allerdings anders und verbietet im Verbot der Vereinigung „HAMAS (Harakat al-Muqawama al-Islamiya)“ vom 2. November 2023 aus die „Parole ‚Vom Fluss bis zum Meer‘ (auf Deutsch oder anderen Sprachen).‘“ In Bayern wird sie gar strafrechtlich verfolgt.

„From the River to the sea“-Verbot teilnichtig?

Doch dieses Verbot wird von unterschiedlichen Gerichten kritisiert. In einem Beschluss des Verwaltungsgerichts (VG) Frankfurt vom 21.03.2024, Az.: 5 L 940/24 etwa entschied das VG, dass es den Slogan wegen der Meinungsfreiheit nicht für strafbar hält. Es geht davon aus, dass die Verfügung des Innenministeriums hinsichtlich „from the river to the sea“ wegen Art. 5 GG teilnichtig sei. Die hiergegen erhobene Beschwerde der Stadt Frankfurt hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof als unbegründet zurückgewiesen (Beschluss vom 22.03.2024, Az.: 8 B 560/24)

Das Landgericht (LG) Berlin (Urt. v. 8.11.2024, Az. 502 KLs 21/24) verhängte gegen eine 42-jährige Berlinerin eine Geldstrafe u.a. wegen Verwendens von Kennzeichen terroristischer Organisationen nach § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB, weil sie im November und Dezember 2023 die Parole zweimal auf Instagram geteilt hatte. Indem sie zudem das Foto eines Sprechers der Quassam-Brigaden der Hamas „mit zustimmenden Kommentaren und Emojis“ versehen habe, sei zusätzlich der Tatbestand des Verbreitens von Propagandamitteln terroristischer Organisationen nach § 86 Abs. 2 (Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen) StGB erfüllt. Es war das erste Mal, dass eine große Strafkammer den Spruch als Hamas-Kennzeichen einstufte. Da die Verteidigung Revision eingelegt hat, wird in dieser Sache zum ersten Mal der Bundesgerichtshof entscheiden.

Kufiya und palästinensische Flagge als Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen?

Ist das sog. Palästinensertuch (Kuffiyeh) oder die palästinensische Flagge ein Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen im Sinne von § 86a? Beides sei laut Riekenbrauk nicht als Kennzeichen der Hamas von der Verbotsverfügung umfasst, also nicht grundsätzlich verboten. Auch bei Solidaritätskundgebungen für die Bevölkerung in Gazakönne im Hinblick auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht von verbotenen Kennzeichen ausgegangen werden. Verbote, in Schulen die Kufiya zu tragen, sind nur dann gerechtfertigt, wenn dadurch der Schulfrieden gestört ist.

In Berlin gehe die  Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) hingegen einen anderen Weg. Sie ermöglicht Berlins Schulen vor dem Hintergrund der Angriffe der Hamas auf Israel ein Verbot für das Tragen von Palästinensertüchern und anderen Symbolen. „Jede demonstrative Handlungsweise oder Meinungsäußerung, die als Befürwortung oder Billigung der Angriffe gegen Israel oder Unterstützung der diese durchführenden Terrororganisationen wie Hamas oder Hisbollah verstanden werden kann, stellt in der gegenwärtigen Situation eine Gefährdung des Schulfriedens dar und ist untersagt“, teilte die Bildungssenatorin in einem Brief an die Schulleitungen mit.

„From the river to the sea“ als Billigung von Straftaten?

Inwiefern jedoch könnte es sich mit Blick auf den Slogan „From the river to the sea…“ um eine Billigung von Straftaten handeln, so Riekenbrauk? Das OLG Karlsruhe (NJW 2003, 1200 [1201]) betont, dass plausible andere Deutungen ausgeschlossen sein müssten. Weil der Slogan mehrdeutig ist, gebietet die Meinungsfreiheit auch hier: Es müss klar sein, dass der Slogan nur als Billigung der Taten der Hamas verstanden werden könnenn. Etwas anderes könnenn für in jeder Hinsicht scharf zu verurteilenden „Jubel über Terror“ gelten; beziehe sich die Parole unmissverständlich und zeitlich unmittelbar auf den Terrorangriff am 7. Oktober 2023, sei von einer Billigung der genannten Straftaten auszugehen (§ 140 Nr 2 StGB). Erforderlich für die Annahme einer Billigung im Sinne des § 140 Nr. 2 StGB sei dabei die eindeutige, aus sich heraus verständliche Kundgabe eigener Zustimmung oder positiven Bewertung der konkreten rechtswidrigen Bezugstat. Außerdem müsse die Bezugnahme auf die konkrete Tat für den:die Durchschnittsadressat:in so eindeutig und unmittelbar aus der Kundgebung selbst hervorgehen, dass er sie als Zustimmung zu einer konkreten rechtswidrigen Bezugstat verstehen kann. (Laura Schwarz in: https://asjust.de/wp/wpcontent/uploads/2024/10/ASJust_WP_5.pdf)

Sei ein Rückschluss auf Grund der zeitlich-gegenständlichen Nähe zu dem Terrorangriff der Hamas möglich, wie beispielsweise bei der Demonstration am 09. Oktober 2023, liege der Schluss nahe, dass die skandierten Parolen, welche das Existenzrecht Israels bestreiten, wie beispielsweise „from the river to the sea – palestine will be free“, auch die Taten der Hamas (Mord, § 211 StGB; Totschlag, § 212 StGB; Aggression, § 13 VStGB) billigen (vgl. VG Berlin, Urteil vom 20.12.2023 – VG 1 L 507/23).

„Sich als suchend verstehen“

Das Netzwerktreffen, so das abschließende Feedback der Anwesenden, zeigte nicht nur vielfältige Impulse für die pädagogische Praxis auf; etwa Raum zum Austausch über den Konflikt zu schaffen, Empathie zu zeigen, Perspektivwechsel anzuregen; sondern zeigte auch einen kontroversen rechtlichen Rahmen auf, der schulischem Personal Sicherheit geben kann. Es gelte Emotionen zuzulassen, auf die Lebenswelten von Schülerinnen einzugehen und sich dabei selbst charismatisch-unsicher als suchend zu verstehen.

 

Literatur

[1] International Holocaust Remembrance Alliance (2005): Arbeitsdefinition von Antisemitismus. Online verfügbar unter: https://holocaustremembrance.com/resources/arbeitsdefinition-antisemitismus.

[2] Jerusalem Declaration on Antisemitism (2021): Jerusalem Declaration on Antisemitism. Online verfügbar unter: https://jerusalemdeclaration.org/.

[3] Brockhaus, Robert; Düsberg, Benjamin; Göllner, Nikolas (2024): Zwischen Fluss, Meer und Strafbefehl. Rechtsprobleme einer mehrdeutigen Parole. Online verfügbar unter https://verfassungsblog.de/zwischen-fluss-meer-und-strafbefehl/.