Am 02. und 03. April 2025 fand das zweite Modul des CleaRNetworking-Weiterbildungs-Jahrgangs 2025 im Intercity Hotel in Magdeburg statt. Im Mittelpunkt standen drei Phänomenbereiche der Radikalisierung: Der Israel-Palästina-Konflikt, radikale Online-Prediger sowie Rechtsextremismus im Klassenzimmer. Das Modul verfolgte ein doppeltes Ziel. Die Vermittlung von Inhaltswissen über die vorgenannten Phänomenbereiche an die Teilnehmenden sowie konkreter Methoden, Haltungs- und Handlungswissen, um mit diesen Phänomenen in der Fachpraxis gut umgehen zu können.

Der Einstieg: Einstimmung und gemeinsame Regeln

Die Weiterbildung startete mit einem Aufwärm- bzw. Kennenlernspiel durch unsere Projektleitung Dr. Junus el-Naggar. Zwischen dem Auftaktmodul und dem zweiten Modul waren gut zwei Monate vergangen. Das Spiel bot den Teilnehmenden eine willkommene Möglichkeit, sich wiederzusehen bzw. in einigen Fällen auch ganz neu kennenzulernen – und über den Fortschritt der Implementierung von Strukturen der Radikalisierungsprävention an den jeweiligen Schulen ins Gespräch zu kommen.

Nach der anschließenden Mittagspause ging es darum, gemeinsame „Spielregeln“ für den weiteren Verlauf der Weiterbildung aufzustellen. Ziel war einerseits, eine demokratische Weiterbildungskultur zu pflegen, die von den Teilnehmenden mitgestaltet wird; und andererseits, einen Rahmen für ein respektvolles, offenes und produktives Lernumfeld zu schaffen. Die Aspekte, auf die sich die Teilnehmenden geeinigt haben, sollen Orientierung bieten – nicht im Sinne von Kontrolle oder Sanktion, sondern im Sinne gegenseitiger Achtsamkeit und Verantwortung füreinander. Die Teilnehmenden können (und sollen) diese Regeln auch auf das Projektteam und externe Referierende anwenden und sie daran messen. Sie verstehen sich aber nicht als starr oder endgültig, sondern dürfen und sollen im Verlauf der Weiterbildung ergänzt, angepasst oder auch zurückgenommen werden – wenn sich neue Bedarfe oder Perspektiven zeigen.

el-Naggar bat die Teilnehmenden darum, ihre Vorschläge auf einem Flipchart zu notieren. Anschließend diskutierte die Gruppe darüber. Über keine der Regeln sollte mit Hilfe des Mehrheitsprinzips abgestimmt werden. Vielmehr stand der gemeinsame Diskurs im Vordergrund. Themen waren z.B. die Anreise- und Abreisezeiten, die Handynutzung während der Weiterbildung oder Bedingungen für eine konstruktive Gesprächsatmosphäre.

Phänomenübergreifende Radikalisierungsprävention

Das Projekt CleaRNetworking verfolgt einen Ansatz der phänomenübergreifenden Radikalisierungsprävention. Doch was heißt das genau? Viele Antworten auf diese Frage fanden sich in dem Schulungs- und Lehrfilm „Radikal“ [1]. Der Film stellt die Radikalisierung eines jungen Mannes in drei Phänomenbereiche nach: Linksextremismus, religiös begründeten Extremismus sowie Rechtsextremismus. Dabei zeigt der Film eindrucksvoll auf, welche inhaltlichen, zeitlichen und sozialen Gemeinsamkeiten, aber auch welche ideologischen Unterschiede die Radikalisierungsverläufe in den drei dargestellten Bereichen haben. Anschließend lud Sören Sponick aus dem CleaRNetworking-Team die Teilnehmenden dazu ein, darüber zu diskutieren, wie sich ihr pädagogisch-präventives Handeln in den drei dargestellten Fällen unterscheiden würde, oder auch nicht.

Die Diskussion kreiste schnell darum, wie viel Inhaltswissen Akteur:innen in der phänomenübergreifenden Radikalisierungsprävention tatsächlich über die einzelnen Phänomenbereiche besitzen müssen. Reicht ein solides Überblickswissen aus, oder muss ein Clearingteam ggf. doch tiefergreifende Expertise in allen Bereichen besitzen?  Es sei nicht das Ziel der Weiterbildung, die Teilnehmenden zu Expert:innen in allen Phänomenbereichen zu machen, betonte auch el-Naggar. Vielmehr gehe es darum, ein grundsätzliches Bewusstsein für die Gemeinsamkeiten zu schaffen, die zwischen Radikalisierungsverläufen vorliegen. Prävention vom Radikalisierungsprozess her denken, nicht von der Ideologie her. Zudem kam im Verlauf der Diskussion Kritik daran auf, dass im Film in allen drei Radikalisierungsfällen gewissermaßen eine einheitliche Steigerungsform gezeigt werde, vom niedrigschwelligen Einstieg in eine Szene über die Mitgliedschaft in einer radikalen Gruppe bis hin zur gewaltvollen Durchführung von Anschlägen. Radikalisierungsprozesse müssten nicht zwingend in Gewalttaten enden, so Sponick und el-Naggar, auch wenn viele gängige Prozessmodelle Gewalttaten als terminale Stufe angäben.

Den Nahostkonflikt besprechbar machen

Für den Abschluss des ersten Weiterbildungstages reiste der politische Bildner und freie Trainer Gunnar Meyer nach Magdeburg. In seinem Slot ging es um die „Multiperspektivische Auseinandersetzung mit dem Israel-Palästina-Konflikt und hiesige pädagogische Handlungsoptionen“. Diese Multiperspektivität anzuerkennen und pädagogisch in die Unterrichte bzw. die Arbeit mit jungen Menschen einzubinden, stand im Mittelpunkt seines Workshops. Dafür brachte er etwa die Methode des Emotionskochtopfes ein, die zum Ziel hat, jungen Menschen Raum zu geben, ihre Gefühle, beispielsweise (aber nicht ausschließlich) zum Israel-Palästina-Konflikt auszudrücken und zu besprechen [2].

Meyer teilte die Schultandems anschließend in Kleingruppen auf und jede Gruppe erhielt eine Fotografie mit Bezug zum Nahostkonflikt. Die Aufgabe: In drei Minuten eine Geschichte zu dem Foto überlegen, die in Bezug zu diesem Konflikt steht. „Keine Sorge, ihr könnt eigentlich nur falsch liegen“, beruhigte er die Teilnehmenden. Und so kam es dann tatsächlich auch.

Die so entstandene Irritation löste Meyer durch eine Reihe von Infotafeln zu jedem Foto auf, die er den Gruppen im Anschluss zur Verfügung stellte. Anschließend diskutierte jede Gruppe, wo sie richtig lagen und wo nicht.

Im zweiten Teil der Übung bat Meyer die Teilnehmenden, ihr Foto in die „Quadratur des Kreises“ einzuordnen. Trug das auf dem Foto dargestellte Ereignis zu einer (De)Eskalation des Konfliktes bei? Waren interne oder externe (z.B. andere Staaten) Gruppen an dem Ereignis beteiligt?

Spielerisch wurde dadurch die Multiperspektivität und -komplexität des Konfliktes deutlich. Meyer warb ausdrücklich dafür, den Konflikt trotz aller Herausforderungen in der Schule zu thematisieren. Diese böte einen Diskussions-, einen Möglichkeitsraum, den die Schüler:innen außerhalb, z.B. in ihren Familien oder Peer Groups mitunter nicht hätten. Er stellte aber auch klar: Eine polare Positionierung für oder gegen bzw. ‚für Palästina und gegen Israel‘ oder umgekehrt führe nur zu weiteren Verhärtungen und im schlimmsten Fall sogar zu Kommunikationsabbrüchen. Eine solche Polarität würde der internen Heterogenität dieser beiden oft als homogene Kollektive imaginierten Gruppen zudem keinesfalls gerecht. Klar wurde so auch: Eine „neutrale“ Perspektive auf den Konflikt gibt es nicht.

Situation – Reaktion – Beobachtung

Für die nächste Übung bat der Referent die Teilnehmenden darum, aus ihrer Sicht problematische Äußerungen aus dem Kollegium oder von Schüler:innen auf Karten zu schreiben. Anschließend teilte er die Gruppe in Dreierteams auf. Sinn der Übung war es, in einem Rollenspiel gemeinsam Handlungsoptionen zu erschließen und einzuüben. Dabei übernahm eine Person die Rolle der Person, die die entsprechende Aussage getätigt hatte und die zweite die Rolle der pädagogischen Fachkraft, die darauf antwortete. Eine dritte Person beobachtete. Anschließend nahmen die Gespräche ihren Gang, gefolgt von einer Reflexionsrunde, in der die Beobachtenden ihre Eindrücke mit den beiden anderen teilten. Zum Abschluss diskutierte die Gruppe im Plenum, welche weiteren Handlungsoptionen sie noch hätten ergreifen können.

Die Methode ALARM/ALERT als Mittel der Sichtbarmachung pluraler Perspektiven

Die Methode ALARM/ALERT entstand in vielen Jahren Projekterfahrung bei „Bildungsbausteine e.V.“, so Meyer. Sie soll schulisches Personal und Schüler:innen dabei unterstützen, antisemitische und rassistische Aussagen qualifiziert erkennen, unterscheiden und einordnen zu können. Kriterien zur Unterscheidung (z.B. die 3-D-Regel, IHRA-Definition) böten zwar Hilfestellungen, aber ermöglichten nicht immer eine eindeutige Zuordnung. Aus Projektsicht macht die ALARM/ALERT vor allem aus, dass sie der Komplexität des Nahostkonflikts eher gerecht wird, als die genannten anderen Methoden; und dass sie Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus nicht gänzlich isoliert voneinander betrachten. Nach einer kurzen Vorstellung der  Methode übten die Teilnehmer:innen deren Umsetzung in einer Gruppenarbeit mit Beispieläußerungen:

Die Formel ALARM bezieht sich auf verschiedene Formen des Antisemitismus, wohingegen ALERT Formen des Rassismus unter die Lupe nimmt. ALARM steht für:

A wie: „Juden weltweit mit Israel gleichsetzen“

L wie: „Alte judenfeindliche Lügen verbreiten“

A wie: „Abwehr der Erinnerung an den Holocaust“

R wie: „Israel von der Landkarte radieren wollen“

M wie: „Israel als besonders mächtig darstellen“

ALERT steht für:

A wie: „Palästinenser:innen als antisemitisch darstellen“

L wie: „Palästinenser:innen für ihr Leid verantwortlich machen“

E wie: „Die Existenz einer palästinensischen Identität absprechen“

R wie: „Palästinenser:innen als Rückständig abwerten“

T wie: „Palästinenser:innen zu Terrorist:innen erklären“

Die Zuordnung von Beispieläußerungen zu den jeweiligen Kategorien erwies sich für die Teilnehmer:innen mitunter als schwierig. Besonders, da sich einige Aussagen mehreren Kategorien zugleich zuzuordnen scheinen ließen. Auch hier wurde die Ambiguität dieses schwierigen Themas deutlich. Zudem hatte Meyer einige Zitate mitgebracht, die sich in keine der zehn Kategorien einordnen ließen Die Übung habe nicht den Zweck, zu zeigen, dass gewisse Formen von Antisemitismus oder Rassismus ‚schlimmer‘ seien, als andere, so Meyer. Vielmehr gehe es darum, in Schulunterrichten einen sicheren Diskussionsraum zu schaffen, in dem sich Schüler:innen über dieses komplexe Thema äußern könnten. Schulisches Personal solle nicht nach problematischen Äußerungen suchen, sondern in die Lage versetzt werden, solche Äußerungen zu identifizieren und die jeweilige Problematik adäquat benennen zu können.

Auch in schulische Konzepte von Radikalisierungsprävention kann die Methode integriert werden, um im Kollegium einen einheitlichen Begriff von Rassismus und Antisemitismus zu teilen, der der jeweiligen Präventionsarbeit zugrunde gelegt werden kann.

Radikale Ansprachen über TikTok

Tag 2 der Weiterbildung leitete Markus Lüke von der Koordinierungs- und Fachstelle Partnerschaft für Demokratie Gelsenkirchen gleich mit zwei Beispielen radikaler Ansprachen über TikTok ein. Sein Workshop war phänomenübergreifend ausgerichtet und so spielte er ein Video des Predigers Abulbaraa ab, in dem dieser muslimischen Schüler:innen von einer Teilnahme an Klassenfahrten abrät – und eines von Maximilian Krah, in dem dieser von seinem Publikum fordert, eigene Verwandte über vermeintliche Desinformation durch den öffentlichen Rundfunk aufzuklären.

Gefragt nach Situationen, in denen Schüler:innen sich auf eine radikale Weise geäußert haben, die potenziell auf den Konsum digitaler Inhalte zurückzuführen sein könnte, brachten viele Teilnehmende Beispiele aus ihrem Berufsalltag ein; etwa Fake News, Beleidigungen, rechtsextreme Inhalte in einem Klassenchat oder die Ablehnung weltlicher Gesetze.

Lüke verwies auf die Relevanz sozialer Medien, die für viele gerade junge Menschen zur Nachrichtenquelle Nummer eins geworden sind, auf der 14- bis 19-jährige im Schnitt 95 Minuten täglich verbringen.

In der anschließenden gemeinsamen Video-Analyse wurde die Vielfalt digitaler radikalisierter muslimischer Ansprachen deutlich. Frauen etwa sollten nicht unterrichten, wurde in einem Video gepredigt; die Sehnsucht nach einem Kalifat in einem anderen, Hetze gegen die deutsche Satire-Gruppe Datteltäter in wiederum einem anderen; und ein Aufschrei gegenüber vermeintlicher Gender-Propaganda in einem letzten.

Der phänomenübergreifende Ansatz des Projekts CleaRNetworking wurde erneut deutlich, als Lüke anschließend Videos recht(sextrem)er Akteure abspielte, etwa von Christoph Berndt, der gegen einen imaginierten belästigenden Hasan hetzt – sowie von Maximilian Krah. Sie sprechen ähnliche Bedürfnisse junger Menschen an, etwa auf folgende Weise

  • Erlebnisorientierung: Durch Moscheebesuche, Demonstrationen, Wahlkampfauftritte und das Erleben der jeweiligen Akteur:innen live
  • Der Wunsch nach Zugehörigkeit: Durch Liken, Teilen & Kommentieren: Selbstwirksamkeit und Zugehörigkeit auch in Online-Communities
  • Die Entwicklung der eigenen Identität: Soziale Medien als Hilfe bei der Identitätskonstruktion (Vielzahl an Rollen- und Vorbilder)
  • Das Streben nach Unabhängigkeit und Freiheit: Rebellion gegen Eltern, Lehrkräfte und die (Mehrheits-)gesellschaft
  • Die Suche nach Orientierung und Sicherheit: Aufwachsen mit multiplen Krisen / einfache Antworten auf komplexe Zusammenhänge

Deutlich wurden so auch Brückennarrative, also ideologische Überschneidungen, die unterschiedliche radikalisierende Akteur:innen teilen, beispielsweise Antimodernismus, Antifeminismus oder Antisemitismus.

Abschließend diskutierte die Gruppe noch Handlungsansätze, etwa das Reflektieren von Argumentationsmustern statt „pauschaler“ Kritik an Religion oder einzelnen Akteur:innen, mit denen/der sich junge Menschen identifizieren. Ein zweiter Ansatz liegt in Pädagogik statt in Repression, im konstruktiven Lösen von Konflikten also und im Ermöglichen von Perspektivwechseln statt im Bestrafen. Mit Bezug auf Religion legte Lüke nahe, Religion auch als Ressource in den schulischen Raum zu integrieren statt lediglich zu problematisieren, um Ängste und Themen der Schüler:innen aufzugreifen.

Rechtsextremismus im Klassenzimmer: Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten

Der dritte thematisierte Phänomenbereich im Rahmen dieses Moduls war Rechtsextremismus. Dafür warf Lena Lehmann von Miteinander e.V. aus Sachsen-Anhalt etwa die im Projekt seit jeher diskutierte Frage nach der Grenze zwischen Meinungsfreiheit einerseits und Hass und Hetze andererseits auf.

Einen Schwerpunkt ihres Workshops bildete ein digital vorrückender Konservatismus, der etwa Mütterlichkeit auf- und Feminismus abwertet. Lehmann erklärte, wie der Verzicht auf Karriere und Ruhe von vielfältigen Ansprüchen gerade für viele junge Frauen eine Entlastung darstellen können und deswegen attraktiv sind. Diese konservativen Rollenvorstellungen sehen vor, dass ein Mann die Familie nach außen schützt und eine Frau nach innen. Eine Diskussion kam darüber auf, inwieweit solche Rollenvorstellungen nicht vom weiten Begriff der Meinungsfreiheit gedeckt ist, für den das Projekt ClearNetworking auch im schulischen Raum eintreten will. Das sind sie, denken wir; zentral jedoch ist es, jungen Menschen eine Vielfalt möglicher Lebensentwürfe aufzuzeigen. Dabei würden auch immer wieder Schubladen irritiert. Eine anwesende Person etwa bekennt sich als homosexuell lebend und gleichzeitig klassisch bürgerlich in einem Haus mit Hund. Radikale Akteur:innen hingegen arbeiten mit klareren und weniger komplexen Rollenvorstellungen, die eben aufgrund jener Klarheit junge Menschen nicht derart überfordern. Lehmann ließ die Anwesenden anschließend eintauchen in eine digitale Welt, die mit Konzepten wie dem der #tradwife oder des #alphamale arbeitet.

In diesem Zusammenhang merkte Lehmann auf einer übergeordneten Ebene auch kritisch an, wie gut alphamales, die miteinander in Wettbewerb treten, mit dem Konzept des Neoliberalismus zusammenpassen. „Alpha-Gehabe“ (wer ist besser, stärker, erfolgreicher?) passe ideologisch gut zum Neoliberalismus, weil beide auf Wettkampf und Einzelleistung setzen – anstatt auf Kooperation, Gemeinschaft oder Gleichheit. Demokratie hingegen brauche Geduld, Aushalte, ihre Prozesse seien oft langwierig; während neoliberaler Kapitalismus auf Schnelligkeit, Effizienz und Konkurrenz setze. Damit diese Kritik nicht im luftleeren Raum verpufft, gilt es in diesem Zusammenhang mit Blick auf schulische Radikalisierungsprävention anzumerken:

Schulen sollten und können Räume schaffen, in denen Solidarität, Empathie und kritisches Denken gefördert werden – als Gegengewicht zu den hyperindividualistischen und leistungszentrierten Idealen, die in sozialen Medien wie TikTok präsent sind. Wenn Jugendliche in Onlinewelten mit Inhalten konfrontiert werden, in denen Dominanz, Statussymbole und „Siegermentalität“ glorifiziert werden, entsteht ein verzerrtes Bild von Männlichkeit, Erfolg und gesellschaftlichem Wert. Schule als sozialer Raum kann Zugehörigkeit ermöglichen, ohne dass man dafür „gewinnen“ oder „dominieren“ muss. Gerade für Jungen, die sich in tradierten Männlichkeitsbildern wiederfinden oder danach suchen, braucht es alternative Angebote jenseits des Alphamale-Narrativs – etwa durch Vorbilder, Projekte oder Diskussionen, in denen Kooperation, Verletzlichkeit und soziale Verantwortung als Stärke vermittelt werden.

Lehmann brachte neben dem bekannten Begriff des „Rechtsrucks“ auch den des „Rechtsdrucks“ ein und warb für eine sensible Differenzierung zwischen jungen Menschen, die sich ideologisch rechtsextremen Akteur:innen zugehörig fühlen – und solchen, die einem Gruppendruck nachgeben.

Schule ist nicht neutral

Lehmann regte dann zur Diskussion über zentrale Fragen zur politischen Bildung und Haltung im schulischen Kontext an – insbesondere im Spannungsfeld zwischen Neutralität und demokratischer Verantwortung. Ein einprägsamer Impuls lautete dabei gleich zu Beginn: „Nirgends steht, dass Schulen neutral sein müssen.“ Dieser Satz sorgte für Aufmerksamkeit und bot den Einstieg in eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem oft zitierten Neutralitätsgebot.

Zentraler Bezugspunkt war dabei der Beutelsbacher Konsens, der häufig als Leitlinie für politische Bildung in Deutschland herangezogen wird. Dabei wurde betont, dass der Konsens nicht fordert, dass alle Positionen gleichwertig dargestellt werden müssen, sondern dass Schüler:innen nicht indoktriniert werden dürfen und befähigt werden sollen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Im Umkehrschluss heißt das aber nicht, dass Schulen sich inhaltlich raushalten müssen – vor allem dann nicht, wenn demokratische Grundwerte gefährdet sind.

Ein besonders diskutierter Punkt betraf den Umgang mit radikalisierenden und demokratiefeindlichen Parteien. Die Frage, ob man in schulischem Kontext wirklich alle Parteiprogramme nebeneinanderstellen müsse, um parteipolitische Neutralität zu wahren, wurde verneint. Wenn nur ein Programm (wie das der AfD) in problematischer Weise gegen Grundrechte verstößt, ist es legitim, genau das zu thematisieren. Das verstoße nicht gegen das parteipolitische Neutralitätsgebot im Beamtenrecht, solange es faktenbasiert geschehe.

Mit Sorge wurde außerdem auf die sogenannten „Meldeportale“ der AfD verwiesen, über die Eltern oder Schüler:innen vermeintlich „politisch auffällige“ Lehrer:innen melden können. Diese Portale seien jedoch nicht rechtsverbindlich und hätten keinerlei rechtliche Grundlage. Vielmehr wurden sie im Workshop als gezielte Einschüchterungsversuche gewertet. Die klare Botschaft an schulisches Personal: Nicht einschüchtern lassen. Haltung zeigen. Demokratie braucht mutige Pädagog:innen.

Abschließend wurde betont, dass Schule nicht nur auf Prüfungen vorbereiten soll, sondern eine zentrale Rolle in der Persönlichkeitsentwicklung und Demokratieförderung junger Menschen spielt. Politische Bildung dürfe sich nicht in Faktenwissen erschöpfen, sondern müsse Räume schaffen für Diskurs, Auseinandersetzung und Wertebildung. Gerade in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung sei es Aufgabe von Schule, so eine gemeinsame Erkenntnis der Anwesenden, junge Menschen auf ihrem Weg zu mündigen, kritisch denkenden und verantwortungsvollen Bürger:innen zu begleiten.

Pädagogischer Umgang mit radikalisiertem Verhalten

Der Workshop endete mit Diskussionen um einzelne Fälle und mögliche Reaktionen vonseiten schulischen Personals. Die zentrale Erkenntnis dieses Moduls wurde hier deutlich: Die pädagogischen Interventionsweisen ähneln sich unabhängig vom konkreten Phänomen der Radikalisierung. So ergab sich am Ende ein stimmiges Bild, das pädagogische Handlungsmöglichkeiten aufzeigte. Mit welchen davon sich schulisches Personal sicher fühlt und mit welchen sich unterschiedlichen Individuen sinnvoll begegnen lässt; in der individuellen Beantwortung dieser Frage liegt eine zentrale Aufgabe schulischen Personals:

  • Interesse zeigen
  • Inhaltlich argumentieren
  • Einladung, gemeinsam zu recherchieren
  • Respektvoll kommunizieren
  • Schulische oder persönliche Grenzen benennen
  • Humor gezielt nutzen
  • Gefühle thematisieren
  • Widersprüche aufzeigen, ohne zu verurteilen; Perspektivwechsel anregen
  • Biografische Zugänge nutzen
  • Verantwortung betonen, z.  für das eigene Handeln in Gemeinschaften
  • Ambiguitätstoleranz fördern – also das Aushalten unterschiedlicher Perspektiven, die man selbst nicht vertritt
  • Fragen stellen statt Antworten aufzwingen
  • Auf kollegiale Unterstützung setzen, um nicht alleine reagieren zu müssen

Literatur

[1] Hessisches Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus (2016): Schulungs- und Lehrfilm „RADIKAL”. Online verfügbar unter: https://hke.hessen.de/film-radikal.

[2] Bildungsbausteine (2024): Emotionskochtopf Gefühle zum Israel-Palästina-Konflikt sichtbar und besprechbar werden lassen. Online verfügbar unter: https://www.bildungsbausteine.org/fileadmin/assets/PDF/BildungsBausteine/zdzh_Emotionskochtopf_IPK.pdf.