Am 27.04.23 und 28.04.23 startete die vierte CleaR-Weiterbildung in Hannover. Im Hotel Königshof am Funkturm im Stadtzentrum kamen drei Schulleitungen, neun Schulsozialarbeiter:innen und 23 Lehrkräfte zusammen. Die Teilnehmenden reisten aus allen Himmelsrichtungen an, aus Bremen im Norden, aus Ulm im Süden, aus Herzogenrath im Westen, aus Berlin im Osten und vielen weiteren Orten dazwischen. Aus Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gingen leider keine Bewerbungen ein. Zukünftig wollen wir unsere Angebote noch besser auf Schulen aus diesen Ländern ausrichten.

Nach einer Begrüßung, einer Vorstellungsrunde und einer Einführung durch das Projektteam ging es zum gemeinsamen Mittagessen ins Hotel-Restaurant. Nach der Mittagspause stieg Prof. Dr. Michael Kiefer ein und stellte das Clearing-Verfahren vor, das im Zentrum der Weiterbildung steht. Seit 2016 wird das Verfahren an Schulen bundesweit implementiert, erprobt und weiterentwickelt. Auch auf die Tücken des Verfahrens ging er ein und auf praktische Herausforderungen.

Zunächst arbeitete Kiefer mit den Teilnehmenden an einem Fallbeispiel zweier zum Islam konvertierter Schüler im Alter von 15 Jahren an einer Gesamtschule, die sich aufbrausend verhielten und sich unsachgemäß äußerten. Die Schule reagierte umgehend mit Sanktionen. In den sechs Gruppen wurden zahlreiche Vorgehensweisen und Ansätze diskutiert. Dabei stand etwa die Frage im Raum, inwiefern die Arbeit mit Eltern produktiv sein kann, inwiefern die Klassengemeinschaft einbezogen werden sollte, wie die Balance zwischen Bagatellisierungen und Dramatisierungen gefunden werden kann, was „normale“ Religion ist und inwiefern die getätigten Äußerungen von der Religionsfreiheit geschützt sind. Es entstand die breite Einsicht, dass ein Konsens, wogegen überhaupt präventiv vorzugehen ist, notwendig ist.

Damit eine Implementierung gelingen kann, fuhr Kiefer fort, müssen zahlreiche Prämissen erfüllt sein, etwa ein gemeinsamer Präventionsbegriff und eine gemeinsame Präventionsstrategie an der jeweiligen Schule, die idealerweise verschriftlicht werden. Es sollten mit Blick auf konkrete Fälle außerdem gemeinsame Ziele formuliert werden, etwa betroffenen Schüler:innen ihren Abschluss zu ermöglichen. Die Markierung und Stigmatisierung von Zielgruppen gilt es zu vermeiden. Konkret heißt das etwa, dass Angebote gegen Antisemitismus sich nicht ausschließlich an muslimische Schüler:innen zu richten haben, sondern an alle Schüler:innen. Es sollten ferner Indikatoren bestimmt werden, die Radikalisierung anzeigen, ohne jedoch allgemeingültige Checklisten zu entwerfen. Melde-, Kommunikations- und Handlungsroutinen sollten entwickelt werden. Es gilt, verschiedene Akteur:innen zu beteiligen, bei Bedarf auch regionale Fachstellen. Dabei empfiehlt Kiefer eher, den Verfassungsschutz zu kontaktieren, als die Polizei, weil dieser im Gegensatz zur Polizei anonym beraten kann, ohne ermitteln zu müssen. Voraussetzung für ein erfolgreiches Clearing-Verfahren ist außerdem, Teamstrukturen mit Rücksprachemöglichkeiten zu etablieren. Kiefer brachte dann vor, wie ein Clearing-Team, bestehend aus festen und flexiblen Akteur:innen, an einer Schule zusammengestellt werden sollte. Zu den festen Akteur:innen sollten die Schulleitung, die Schulsozialarbeit und die Klassenleitung gehören, während zu den flexiblen Akteur:innen etwa eine Beratungslehrkraft, Eltern, das Jugendamt zählen können. In einem solchen Team scheinen Hierarchien wichtig; es sollte eine verantwortliche Person geben, die das Verfahren anleitet. Aus den Reihen der Teilnehmenden wurden Sorgen geäußert, die zeitlichen Ressourcen des schulischen Personals reichten nicht aus. Auch Kiefer gestand ein, es gehe nicht ohne zusätzliche Ressourcen; Lehrkräfte müssten Stunden gesenkt bekommen oder Projektmittel müssten beantragt werden. Hier offenbart sich Weiterentwicklungspotenzial des Clearing-Verfahrens. Es gilt zukünftig, stärker auf die praktische Implementierbarkeit an den Schulen hinzuarbeiten und Rahmenbedingungen und Ressourcen zu schaffen, die eine Implementierung ermöglichen.

Das Clearing-Verfahren selbst ist ein siebenstufiges, strukturiertes Verfahren, in dem Schulleitung, Klassenleitung, Clearingbeauftragte und Schulsozialarbeit fallbezogen zusammenarbeiten. Auf die Vorrecherche (1) folgt ein erstes Zusammenkommen des Clearing-Teams (2). Daran schließt eine vertiefte Recherche an, die etwa Gespräche mit Eltern, Lehrkräften und Mitschüler:innen umfassen kann (3). Daraufhin beschließt das Clearingteam mögliche pädagogische Maßnahmen (4), führt sie durch (5), evaluiert sie (6) und führt sie weiter (7). Häufig werden einzelne Schritte legitimierweise übersprungen. Das Verfahren soll Orientierung geben und ist zugleich flexibel.

Am frühen Abend berichteten dann Ralf Wörmann, didaktischer Leiter der Elisabeth-Selbert-Gesamtschule Bonn sowie Ralf Wörmann, Schulleiter am Oberstufenzentrum Informations- und Medizintechnik Berlin von ihren Erfahrungen in der Implementierung des Verfahrens und gaben wichtige Erfahrungen weiter; etwa das Kollegium möglichst frühzeitig einzubeziehen, das Verfahren in die Schulstrukturen einzubinden, Verantwortlichkeiten klar zu benennen, Strukturen weiterzuentwickeln, über Newsletter zu kommunizieren, Workshops durchzuführen oder mit verfügbaren Geldern effizient und kreativ umzugehen. In der Gruppe entwickelte sich eine spannende und kontroverse Diskussion über (Islamischen) Religionsunterricht und seine Rolle in der Prävention.

Es folgte ein gemeinsames Abendessen im Hotelrestaurant. Manche der Teilnehmenden ließen den Abend gemeinsam ausklingen, andere erholten sich auf ihren Hotelzimmern von der langen Anreise und den zahlreichen Eindrücken.

Am Freitag eröffnete dann nach dem Frühstück Janusz Biene-Clément die Veranstaltung und diskutierte mit den Teilnehmenden über fundamentale Probleme des Konzepts der Prävention. Kritisch fragte er, inwiefern die Institution Schule als Präventionsagentur zu verstehen sei. In einer Gruppenarbeit mit anschließender Diskussion befassten sich die Teilnehmenden mit konkreten Fällen aus dem schulischen Alltag. Biene-Clément legte etwa nahe, unterschiedliche Interessen von unterschiedlichen Akteur:innen im Blick zu behalten, beispielsweise die polizeiliche Sicht, die Sicht von Eltern sowie die Sicht einzelner Schüler:innen. Außerdem grenzte er die Begriffe der Radikalisierung (Prozess) und des Extremismus (Status) voneinander ab, warnte vor einer versicherheitlichten Rede von freiheitlich-demokratischen Grundordnung und legte demgegenüber nahe, Bedürfnisse und Verhaltensweisen von Jugendlichen zu fokussieren. Es gelte, sich auf das Verhalten der betroffenen Personen zu beziehen, nicht auf deren Merkmale. Biene-Clément wies auf den grundlegend problembezogenen Charakter von Präventionsarbeit hin. Die daran anschließende zweiteilige Fallarbeit in Gruppen wurde letztlich ausführlich gemeinsam diskutiert.

Nach dem Mittagessen des zweiten Veranstaltungstages brachten dann Harry Guta und Thorben Lehners von beRATen e.V. ihre Expertise zu psychologischen Hintergründen von Radikalisierungsprozessen ein. Sie stellten aktuell verbreitete islamistische Social-Media-Kanäle vor. Eine kontroverse Debatte kam über den Begriff des „Salafisten“ auf, weil es sich bei diesem um eine Fremdbezeichnung handelt, die diejenigen, die mit ihm bezeichnet werden, üblicherweise ablehnen. Mögliche Verhaltensmuster wurden in diesem Zusammenhang vorgestellt und kritisch auf ihre Allgemeingültigkeit geprüft, etwa der symbolische Zeigefinger, die Fixierung von Denkweisen aufs Jenseits, Verschleierung, das Aufgeben bisheriger Hobbies oder die Legitimierung von Gewalt. Die beiden Referenten gingen auf die Attraktivität radikaler Ideologien ein und ihre Funktionen der Gemeinschaftserfahrung, der Komplexitätsreduktion, die Externalisierung von Verantwortung auf Feindbilder und die Eindeutigkeit von Rollenbildern. In diesem Zusammenhang wurde auf gesellschaftliche (z.B. unsichere Zukunftsperspektiven), soziale (z.B. Armut, familiäre Gewalt) und individuelle Risikofaktoren (z.B. Ausschlusserfahrungen) verwiesen, die Radikalisierung begünstigen können. Auf der anderen Seite stehen Schutzfaktoren, etwa Intelligenz, gute Zukunftsperspektiven oder Selbstkontrolle, die Radikalisierung verhindern können. Die Referenten gingen auch auf ein entwicklungsorientiertes Modell der Radikalisierung, auf auslösende und akzelerierende Bedingungen, auf mögliche Präventionsrichtungen und auf Gruppenpolarisation ein.

Im Laufe der Auftaktveranstaltung äußerten alle Expert:innen die Beobachtung, dass islamistische Radikalisierung abzunehmen, rechtsextreme und andere Entwicklungen hingegen zuzunehmen scheinen. Die frühere Ausrichtung des CleaR-Projekts auf rechtsextreme und neosalafistische Radikalisierung gilt es mit Blick auf die kommenden Jahre kritisch zu reflektieren. Wir freuen uns auf den gemeinsamen Fortgang der Weiterbildung!