Am 27. und 28. September fand Modul 5 im ClearNetworking-Weiterbildungsdurchgang 2023 im Hotel NH Essen in der gleichnamigen Ruhrmetropole statt. Das Modul vermittelte den Teilnehmer:innen einen Überblick über Theorien und Methoden der systemischen Beratung. Wie sich diese in den schulischen Alltag und das Clearingverfahren adäquat einbetten lassen, stand im Mittelpunkt des Modules.

Gab es an Modul 4 verschiedene Referent:innen, so wurde Modul fünf von Referent Michael Gerland alleine bestritten. Der erste Tag war dabei dem Thema Haltung in der systemischen Beratung vorbehalten. Bevor sich Berater:innen mit den zu Beratenen beschäftigen, sollten sie sich zunächst einmal mit sich selbst beschäftigen, formulierte Gerland eingangs kryptisch. Damit meinte er, dass Berater:innen sich vor der Beratung zunächst einmal über die eigenen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster klar werden müssten. In dieser ginge es nicht darum, die Beratungspersonen davon zu überzeugen, dass die von ihnen gewählte individuelle Bewältigungsstrategie [1] falsch und die der Beratenden richtig sei. Die systemische Herangehensweise sei eher, gemeinsam mit der Beratungsperson nach einer Lösung zu suchen bzw. genauer: diese bei ihrer eigenen Sinnsuche oder Lösungsfindung zu unterstützen [2]. Anschließend bat er die Teilnehmer:innen, sich in den vier Quadranten des sogenannten Riemann-Thomann-Modelles (Dauer, Nähe, Distanz, Wechsel) zu verorten. Diese Verortung sei keinesfalls wertend zu verstehen, so der Referent. Sie bilde vielmehr verschiedene Herangehensweisen bzw. Stile in der Beratung ab. Bereits nach dieser lockeren „Aufwärmrunde“ kamen die Teilnehmer:innen bereits ins Gespräch über ihre eigenen Beratungsstile. Leider wurden die Implikationen aus dem Modell im weiteren Verlauf des Moduls nur wenig aufgegriffen, was sicherlich auch am enggesteckten Zeitplan der beiden Fortbildungstage lag. Gerland selbst verstand sich dabei als ein „Zugbegleiter“, der die Teilnehmer:innen der Fortbildung bei ihrer eigenen Fort- und Weiterentwicklung begleitete.

Im ersten Block stellte Gerland zunächst das Ökosystem-Modell von Bronfenbrenner vor [3], vor, welches die Grundlage seines systemischen Ansatzes bildete. Dieses stellt den Menschen ins Zentrum, um den sich herum zwiebelartig weitere Systeme aufspannen, z.B. Familie, Schule, Sportverein, Brettspielgruppe etc. Menschen bewegen sich laut Referent dabei immer zwischen verschiedenen sozialen und biologische Systemen sowohl räumlich als auch in der Zeit. Mit der in der deutschen Wissenschaft ebenfalls sehr populären soziologischen Systemtheorie, wie sie prominent etwa von Niklas Luhmann [4] vertreten wird, könne er hingegen nichts anfangen, so Gerland. Diese verortet Menschen in die Umwelt sozialer Systeme und vertritt gegenüber dem systemischen Ansatz eine dezidiert das Individuum als zentrales Agens von Gesellschaft dezentrierende Perspektive [5]. Mit der Luhmannschen Systemtheorie teilt der systemische Ansatz jedoch das Axiom, dass soziale Systeme nicht linear operieren und dadurch auch nicht vorhersehbar, sondern nur beobachtbar sind. Konkret heißt das, dass Berater:innen ihren Klient:innen keine konkreten Problemlösungen aufdrängen sollten bzw. es gar nicht können. Der systemische Beratungsauftrag bestehe vielmehr darin, die Beratungspersonen in ihrer eigenen Sinnsuche zu unterstützen. Menschen würden immer nach Sinn suchen bzw. zu einem gelingenden und damit sinnigen Leben hinstreben, so der Referent. Anliegen des systemischen Ansatzes sei es daher, den Beratenen alternative Sinnangebote zu machen und diese dabei zu unterstützen diese in ihrem eigenen Leben zu realisieren.

Klient:innen würden entgegen der landläufigen Meinung nie nach einfachen Antworten suchen, so die sicherlich diskussionswürdige Aussage des Referenten. Sie würden sich vielmehr in ihrer eigenen Gedankenwelt verirren. Aufgabe der systemischen Beratung sei es daher, gezielt Irritationen zu setzen, um Menschen aus dieser Gedankenwelt herauszuholen. Es bringe nichts, Menschen mit Gegennarrativen von bestimmten Welteinstellungen abbringen zu wollen, wenn doch diese die zentralen Mechanismen und Lösungen der individuellen Bewältigungsstrategien [1] von Menschen bereitstellen würden. Gerland schlug stattdessen vor, zunächst einmal die Weltsicht der Klient:innen zu erforschen um anschließend zu erfragen, wieso diese für die Befragten Sinn ergebe. Nur im Anschluss an diese Erforschung und nur auf Grundlage von Sinnunterstellung, könne systemische Beratung erfolgreich wirken.

An Tag zwei der Fortbildung standen systemische Methoden und konkrete Fallarbeit im Mittelpunkt. Berater:innen seien keine Ermittler:innen, so Gerland. Ermitteln sei Aufgabe der Sicherheitsbehörden. Systemische Beratung ziele eher darauf ab, herauszuarbeiten, warum eine von den Beratenen gewählte Problemlösung für diese biographisch Sinn ergebe und wann diese Problemlösung dysfunktional für die von den Beratenen gewünschte Lebensgestaltung sei.

Anschließend ging es in die Fallarbeit. Anhand von Fallbeispielen aus der Fortbildungsgruppe zeigte Gerland verschiedene Fragetechniken der systemischen Beratung. Zum Beispiel die sogenannten zirkulären Fragen (Was denkst Du, dass der/die andere denkt?) oder die Szenario-Frage (Was-Wäre-Wenn?). Dieser Punkt nahm einen großen Teil des zweiten Tages des Fortbildungsmoduls ein. In der systemischen Beratung gehe es immer darum Dialogfähigkeit (zwischen Berater:innen und Beratenen) herzustellen und beizubehalten. Dies illustrierte Gerland am Beispiel der systemischen Unterscheidung zwischen geschlossenen und offenen Systemen. Während jene versuchen würden, sich von ihren jeweiligen Systemumwelten abzuschließen, um ihre Systemidentität zu bewahren (wobei diese Abschließung nie absolut ist oder gar sein kann, wie sich mit Luhmann entgegnen ließe [4]), streben jene danach, die Beziehungen zu ihren Umwelten auszubauen. Systemische Beratung ziele dabei stets darauf ab, soziale System zu öffnen, bereits bestehende gute soziale Beziehungen zu stärken sowie neue (zwischen System und Umwelt) zu etablieren.

Die Fortbildung schloss mit einer Übung zur Biographiearbeit. Gerland teilte die Teilnehmer:innen in Kleingruppen auf und gab ihnen folgenden Arbeitsauftrag mit: „Wo stehst du und wie bist du dorthin gekommen?“. Ziel war es, Teilnehmer:innen darüber ins reflektieren zu bringen, welche „karrierebildenden Ereignisse“ (Giancarlo Corsi) [6] die Teilnehmer:innen zu den Menschen gemacht hatten, die sie heute waren. In der anschließenden Diskussion kamen die Teilnehmer:innen überein, dass ihre Lebensläufe und Biographien zwar ganz unterschiedlich seien, es aber in ihren aller Leben prägende Ereignisse gegeben hätte, die ihrer individuellen Biographie einen Spin gegeben hätten bzw. sie dazu bewegt hätten, andere Wege einzuschlagen, zum Beispiel sich zivilgesellschaftlich zu engagieren, für eine Schüler:innenzeitung zu schreiben oder die eigenen Eltern über die Familiengeschichte zu interviewen. Hier wurde die Kontingenz dieser biographischen Ereignisse deutlich. Oder anders gesagt: Was wäre wenn (dieses Ereignis in meinem Leben nicht geschehen wäre)?

In der Feedbackrunde bat das Projektteam die Teilnehmer:innen, auf einer Pinwand zu skizzieren, an welchen der sieben Schritte des Clearingverfahrens [7] sie Methoden der systemischen Beratung einsetzen würden. Hier kamen die meisten Teilnehmer:innen der Fortbildung überein, dass die Methoden ihnen am meisten bei den Schritten 1 (Vorrecherche), 3 (vertiefte Recherche) und 5 (Durchführung von Maßnahmen) weiterhelfen würden.

 

Literatur:

[1] Frank, Anja; Glaser, Michaela (2018): Biografische Perspektiven auf radikalen Islam im Jugendalter. In: Michaela Glaser, Anja Frank und Maruta Herding (Hg.): Gewaltorientierter Islamismus im Jugendalter. Perspektiven aus Jugendforschung und Jugendhilfe. 1. Auflage. Weinheim: Beltz Juventa (Sozialmagazin. Sonderband, 2. Sonderband), S. 62–79.

[2] Falk-Frühbrodt (o.J.): Was ist systemische Beratung? Ihr Wesen, ihre Methoden und ihr Vorgehen. Online verfügbar unter: https://www.iflw.de/blog/systemische-beratung/was-ist-systemische-beratung/#:~:text=Systemische%20Beratung%20orientiert%20sich%20am,L%C3%B6sungen%20und%20Zielen%20zu%20gelangen.

[3] Bronfenbrenner, Urie; Lütscher, Kurt; Cranach, Agnes von (Hg.) (1981): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente. Stuttgart: Klett-Cotta. Online verfügbar unter http://d-nb.info/810346788.

[4] Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[5] Luhmann, Niklas (2008): Die Soziologie und der Mensch. In: Niklas Luhmann (Hg.): Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch. Wiesbaden: Springer VS. Online verfügbar unter 265-274.

[6] Corsi, Giancarlo (2016): Die dunkle Seite der Karriere. In: Dirk Baecker (Hg.): Probleme der Form. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 252–265.

[7] Kiefer, Lisa; Kiefer, Michael; Wurzel, Hanne; Stuppert, Wolfgang; Sträter, Till (2019): CleaR – Clearing Verfahren gegen Radikalisierung. Praktische Handeichung zur Radikalisierungsprävention im schulischen Kontext. Hg. v. Aktion Gemeinwesen und Beratung e.V. Online verfügbar unter https://www.clearing-schule.de/veroeffentlichung-der-handreichung-zum-modellprojekt/.