Die aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten haben Auswirkungen auf schulische Arbeit. Deswegen haben wir das CleaRNetwork zu einem kurzfristig angesetzten Online-Netzwerktreffen am 26.10.23 eingeladen. Im Fokus standen der juristische Rahmen rund um den Nahostkonflikt an deutschen Schulen sowie der pädagogische Umgang mit ebenjenem.

Der Abend bestand aus einer Sammlung aktueller juristischer und pädagogischer Herausforderungen an deutschen Schulen; aus einer Skizzierung des rechtlichen Rahmens durch Rechtsanwalt Yalçın Tekinoğlu und einer gemeinsamen Diskussion um pädagogisches Handeln. Begleitet hat die Veranstaltung auch Prof. Michael Kiefer, Islamwissenschaftler der Universität Osnabrück, Entwickler des Clearing-Verfahrens und enger Begleiter des Projekts CleaRNetworking.

Zu Beginn wurden aktuelle Ereignisse und Herausforderungen an den Schulen der Teilnehmenden gesammelt. Die Teilnehmer:innen erzählten von Schüler:innen, die Terror befürworteten, über einen zerrissenen Davidstern und über Verunsicherung im Kollegium, mit Schüler:innen ins Gespräch zu kommen und sich zu positionieren, ggf. in Abgrenzung zu den Positionierungen von Institutionen wie dem Schulamt.

Tekinoğlu griff in seinem juristischen Impulsvortrag einige akute Fragen auf. Er nahm zunächst vorweg, mit Urteilen über gängige Fragen durch das Bundesverfassungsgericht erst in einigen Jahren rechnen zu können. Bis dahin lassen sich gesicherte rechtliche Aussagen nur bedingt treffen. Er verwies auf die hohe Stellung von Grundrechten wie der Meinungs- und der Versammlungsfreiheit. Deren Einschränkung sei je nach Kontext aber möglich. Äußerungen wie „Free Palestine“ könnten als Volksverhetzung gedeutet werden, wenn diese Äußerung als Aufruf zur Vernichtung Israels verstanden werde. Grundsätzlich gibt es einen Unterschied zwischen Tatsachen und Meinungen. Auch in Deutschland sei noch vor wenigen Monaten Korruption in Israel kritisiert worden. Der Diskurs jedoch habe sich seit Anfang Oktober derart verschoben, dass derartige Kritik inzwischen häufig mit Antisemitismus gleichgesetzt werde. Auch kritische Meinungsäußerungen wie etwa die, der Staat Israel sei ein Apartheidsstaat, seien von der Meinungsfreiheit gedeckt. Grundsätzlich gelte, dass von der Meinungsfreiheit nicht etwa das geschützt ist, was andere in einer Meinungsäußerung sehen, sondern das, was die Person, die ihre Meinung äußert, subjektiv meint.

Was die Versammlungsfreiheit angehe, so verwies Tekinoğlu auf zahlreiche Demonstrationen, die in der Vergangenheit zugelassen wurden, in den letzten Jahren beispielsweise die von Pegida oder die der sogenannten Querdenker:innen. Die Gesellschaft müsse das aushalten.

Tekinoğlu verwies auf den Beutelsbacher Konsens, der auch in die Rechtsprechung Eingang gefunden habe. Dieser rät davon ab, Schüler:innen „im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbständigen Urteils‘ zu hindern.“ Außerdem müsse was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Drittens sollen Schüler:innen „in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren.“

Tekinoğlu erklärt, bei einer Palästina-Flagge wie auch bei einer Kufiya handle es sich nicht um Symbole einer Terrorgruppe. Bei Symbolen der Hisbollah oder der Hamas hingegen schon und diese seien verboten, wenngleich die Hamas nicht nur über einen militanten, sondern auch über einen sozialen und charitativen Flüge verfüge. Dieser Umstand sei zumindest nicht zu ignorieren, wenn Schüler:innen Sympathien mit der Hamas äußern.

Verwiesen werde von Schulleitungen und -behörden immer wieder auf eine vermeintliche Gefährdung des Schulfriedens. Dieser, so Tekinoğlu, sei jedoch gesetzlich nicht definiert. Schulfrieden sei gefährdet, wenn Konflikt sich mit pädagogischen Mitteln nicht mehr lösen lassen und ein geordneter Unterrichtsablauf nicht mehr gewährleistet scheint. Er bedeute aber nicht Homogenität und das Verbot von Pluralität in Meinung oder Erscheinung. Heterogenität und damit einhergehende mögliche Konflikte gelte es an Schulen pädagogisch aufzufangen. Der Schulfrieden werde immer wieder als Deckmantel für restriktive Maßnahmen angeführt.

Tekinoğlu führt weiter aus, dass schulisches Personal sich nicht wie nichtpolitische Roboter verhalten müssen. In einem Urteil des VG Freiburg aus dem Jahr 2022 heißt es, dass „von einer Lehrkraft, die sich zur Erfüllung ihres pädagogischen Auftrags in gewissem Maße auch mit ihrer Persönlichkeit einbringen muss, […] eine vollständige politische Enthaltsamkeit im Unterricht nicht verlangt“ wird. Andererseits hingegen werde die „durch das Mäßigungsgebot […] gezogene Grenze [überschritten], wenn […] Schülerinnen und Schüler in gesellschaftspolitisch grundlegenden Kontroversen in der Schule einseitig indoktriniert“ werden. Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter:innen dürfen sich also politisch äußern, unterliegen dabei jedoch den Schranken des Mäßigungsgebots.

Wichtig sei, in diesem Punkt waren sich das CleaRNetworking-Team, Prof. Kiefer und Tekinoğlu einig, dass es sich bei schulischem Personal um Pädagog:innen handelt und dass es selten förderlich ist, Schüler:innen strafrechtlich zu verfolgen. Ein Erlass des Bayerischen Kultusministeriums legt gar explizit nahe, beispielsweise bei im Zusammenhang mit einer Anzeige zu erwartenden psychischen Schäden oder auch einem Suizid, von einer Anzeige abzusehen.

Zum pädagogischen Umgang mit dem Nahostkonflikt an deutschen Schulen sprach dann die Projektleitung Junus el-Naggar. Dieser führte 10 Grundsatzpunkte als Impulse an:

  • Den Nahostkonflikt thematisieren, bevor es schulische Konflikte gibt, ihn nicht fernhalten versuchen, denn er beschäftigt aktuell viele Schüler:innen und sie brauchen geordneten Raum, um darüber zu sprechen.
  • Nicht Kultur, sondern Verhalten sehen: Nicht Palästina oder der Islam sind verantwortlich dafür, wenn ein:e Schüler:in jemanden bedrängt. Eine mögliche Beleidigung kann als Antisemitismus benannt werden, ohne dabei eine mögliche religiöse Legitimation zu thematisieren.
  • Keine Positionierungsforderungen wegen vermeintlicher Gruppenzugehörigkeit („Wie siehst du das als Jüdin?“); nicht Jüdinnen und Juden für israelische Politik verantwortlich machen; nicht muslimische Schüler:innen für die Politik der Hamas; Kultur des Zuhörens statt des Verdachts; Vielfalt von Identitäten (religiös, politisch, etc.) berücksichtigen.
  • Nicht Dualismen/Dichotomien nutzen, nicht für die einen und gegen die anderen sein, sondern Graubereiche und Gleichzeitigkeiten sehen (Kritik am israelischen Militär und Kritik an der Hamas und Mitgefühl für unschuldige Opfer)
  • Wut und Emotionen nicht unterdrücken, sondern Gefühle ernst nehmen
  • Sensibilität bzgl. biografischer Hintergründe: Jüdische Schüler:innen halten ihre jüdische Teilidentität möglicherweise bedeckt. Es ist trotzdem immer davon auszugehen, dass jüdische Personen anwesend sind. Gleichzeitig verfügen Schüler:innen möglicherweise über traumatische Fluchterfahrungen aus Palästina, von denen schulisches Personal möglicherweise nichts weiß, die aber natürlich in ihre aktuelle Position zum Konflikt hineinspielen.
  • Haltung zeigen gegen Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus: Keine Ablehnung palästinensischen oder israelischen Lebens im Nahen Osten.
  • Narrative Gesprächstechniken (Weilnböck): Nicht korrigieren, sondern Reflexion anregen, mit Widersprüchen konfrontieren („Quelle?“, „Beispiel?“, „Was wäre, wenn…?“, „Du hast gesagt, du magst keine Juden. Erzähl doch mach, was Du erlebt hast. Hast Du schon einmal mit einem Juden zu tun gehabt?“)
  • Konzept der Neuen Autorität: Strebt nach respektvoller Beziehungskultur im schulischen Kontext (und anderen Kontexten)
  • Vorhandene Materialien & Personen nutzen (und kritisch reflektieren): Arbeitshilfe ufuq, Landesinstitut Lehrerbildung Schulentwicklung Hamburg, Schulpsychologie Wuppertal; Pierre Asisi, Shai Hoffmann und Jouanna Hassoun als mögliche externe Akteur:innen

Zum Thema wurden im Verlauf des Abends auch schulische Schweigeminuten. Unter den Teilnehmenden kam die Meinung auf, alle Schüler:innen möglichst mitzunehmen und dabei keine Seite auszublenden. Wenn also Schweigeminuten abgehalten würden, dann für alle Opfer eines Konflikts. Eine Teilnehmerin äußerte auch grundsätzliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Schweigeminuten im schulischen Kontext. Diese nützten häufig nicht, um in den Dialog zu kommen.

Eine Teilnehmerin erzählte von einem Schüler, der seit langem eine Mütze mit einer Palästina-Flagge trägt. In Anbetracht der aktuellen Eskalation sei er nur gebeten worden, sie abzusetzen, wogegen er sich weigerte und das Gespräch suchte. Tekinoğlu sieht im Tragen einer solchen Mütze auch aktuell kein Vergehen. Selbst wenn eine Schulleitung einen Brief an das schulische Personal verfasse, habe dieser keine Gesetzeskraft. Das Neutralitätsgebot gelte ohnehin nicht im selben Maße für Schüler:innen, wie für Lehrer:innen.

Prof. Michael Kiefer führte in diesem Zusammenhang an, dass Verbote ohnehin eher zu einer Eskalation beitragen, als dass sie Frieden wahren könnten. Selbst bei gezielten Provokationen durch Schüler:innen sei eher der Dialog zu suchen, als mit Verboten zu reagieren. Das Einschalten vom Staatsschutz bedeute in der Praxis meist das Ende der Kommunikation mit dem oder der betroffenen Jugendlichen. Sinnvoll könne es gleichzeitig sein, den Verfassungsschutz anonymisiert zu kontaktieren und sich niedrigschwellig beraten zu lassen. Im Gegensatz zur Polizei muss dieser nicht ermitteln. Schulisches Personal müsse sich immer über die Folgen ihres Handelns bewusst sein. Eine Meldung an Sicherheitsbehörden könne unter Umständen zur Folge haben, dass ein:e Jugendliche:r nie mehr in die USA einreisen könne. Es gelte stets die Relationen im Blick zu behalten und ins Gespräch zu kommen.

Gefragt wurde auch nach dem rechtlichen Rahmen von Spendenaktionen. Tekinoğlu verwies in diesem Zusammenhang lediglich darauf, dass kein Zusammenhang zu verbotenen oder Terrororganisationen bestehen dürfe und dass Geldflüsse manchmal undurchsichtig sind.

Kiefer erzählte von einem Treffen mit jungen syrischen Geflohenen, die von der Shoa schlicht noch nie etwas gehört hatten. In vielen Ländern wüchsen Kinder mit einem tiefen Hass gegen Israel auf und das gelte es in Deutschland entsprechend aufzufangen. Für schulisches Personal bedeute das, für historische Entwicklungen zu sensibilisieren, ohne dabei jedoch zu stigmatisieren.

Zum Thema wurde auch der Umgang mit Kritik an der leitmedialen Berichterstattung über den Nahostkonflikt in Deutschland. Es gelte die Balance zu finden zwischen einer grundsätzlichen kritischen Haltung gegenüber medialen Inhalten und einer abstrakten Medienschelte. Rund um den Nahostkonflikt kursieren aktuell eben auch viele Inhalte, die von zweifelhaften Medien verbreitet würden. Eine Empfehlung lautete, Diskussionen im europäischen Parlament zu verfolgen, um ein breiteres Bild von politischen Positionen zum Konflikt zu erlangen, das über deutsche Politiker:inen hinausgeht. Medienkompetenz gelte es in Schulen ohnehin zu schulen, auch unabhängig vom Nahostkonflikt. Ein Teilnehmer brachte die Methode der Bild-Rückwärts-Recherche ein, mit deren Hilfe die Quelle von Bildern rückverfolgt werden könne, um von manchen Medien konstruierte Zusammenhänge zwischen Text und Bild zu problematisieren.

Eine weitere Teilnehmerin brachte ein, im schulischen Gespräch über den Nahostkonflikt zwischen einer politisch-geschichtlichen und einer menschlichen Ebene zu differenzieren. Es gelte Fakten eines Konflikts zu beleuchten und gleichzeitig eine menschliche Haltung zuzulassen.

Abschließend wurde gesammelt, was die heutige Veranstaltung den Teilnehmenden gebracht hat und was offen geblieben ist. Wir freuen uns, weit über 50 Personen aus dem Netzwerk in einigen Wochen in Essen in Präsenz wiederzusehen.