Von 29.-30.04 fand das dritte Weiterbildungsmodul des CleaRNetworking-Jahrgangs 2024 im Hotel Plaza in Hannover statt. Dieses Mal ging es um die Reflexion eigener Vorannahmen der Teilnehmer:innen in Bezug auf soziale Privilegien, gesellschaftliche Machtverhältnisse sowie die Ausbildung einer religionssensiblen Haltung. Oulfa Schmidt (beRATen e.V) und Modou Diedhiou (Schwarze Schafe e.V) vermittelten den Teilnehmer:innen, welche Bedeutung diese mitunter kontrovers diskutierten Themen für den pädagogischen Umgang mit Schüler:innen im Allgemeinen und die Präventionsarbeit an Schulen im Besonderen haben.

Religionssensibilität in der Schule

Ob in Beratungskontexten, in der Bereitstellung von Hilfsangeboten oder vor Ort im Quartier: Fachkräfte werden in ihrem beruflichen Alltag immer wieder mit Herausforderungen zum Themenkomplex Religion konfrontiert. Der Workshop von Oulfa Schmidt unterstützte die angehenden Clearingteams dabei, eine eigene professionelle Haltung im Umgang mit Religion und Religiosität zu entwickeln, auch in komplexen und konflikthaften Situationen.

Zum Einstieg stellte Schmidt die Frage zur Diskussion, ab wann bzw. welche religiösen Orientierungen von Schüler:innen ein Problem seien. Und für wen eigentlich? Für ihre Mitschüler:innen, für das schulische Personal oder vielleicht gar nur für sich selbst? Die Antworten der Schultandems waren vielfältig:

-Wenn Schüler:innen andere von den eigenen Ansichten überzeugen wollen;

-Wenn kein Kontakt mit Mitgliedern anderer Religionen gewollt wird;

-Wenn Schüler:innen anderen konkrete Handlungen verbieten wollen und dafür religiöse Gründe anführen;

-Wenn es keine Freundschaften in Klassen über konfessionelle Grenzen hinaus gibt;

-Wenn Religion trennt und nicht verbindet;

In jedem Fall sei es wichtig, dass schulisches Personal die religiöse Sinnsuche von Schüler:innen ernst nähme, so Schmidt. Das bedeute auch etwa, in Erfahrung zu bringen, welche Religionen an der Schule vertreten sind; zu prüfen, nichtchristliche Feste in einen Schulplan einzubauen oder zu hinterfragen, im Sportunterricht im Ramadan (der für die Fastenden häufig viel mehr bedeutet, als sich von Essen und Trinken zu enthalten) zu tanzen. Viele Schüler:innen hätten oft genau so wenig Ahnung über andere, vielleicht auch über die eigene Religion, wie das schulische Personal selbst, stellte die Referentin als These in den Raum. Den Austausch über Religion abzublocken und Schule per se als religionsfreien Raum zu definieren, sei dabei kontraproduktiv. Die Schüler:innen würden sich ihre Antworten dann eben andernorts suchen. Eine religionssensible pädagogische Haltung bzw. eine religiös musikalische Haltung [1], wie Schmidt in Umkehr eines Ausspruchs Max Webers formulierte, könne demgegenüber ein guter Türöffner sein, um mit Schüler:innen ausgehend von ihrer Religiosität ins Gespräch zu kommen und Zugang zu ihren Lebensrealitäten zu erhalten. Dieses Gespräch übten die Teilnehmer:innen anschließend in einer Gruppenarbeit. Das Szenario: Ab wann wird die religiöse Orientierung von Jugendlichen in einer Klasse ein pädagogisch zu bearbeitendes Problem? Dazu teilte Schmidt die Gruppe in drei Untergruppen mit verschiedenen Haltungen gegenüber Religion ein:

  1. Haltung – Religion als Problem;
  2. Haltung – Neutralität gegenüber Religion;
  3. Haltung – Religiöse Musikalität;

Die erste Gruppe fand einen eher repressiven und sanktionierenden Umgang gegenüber der Religionsausübung von Schüler:innen. Die zweite Gruppe gab hingegen an, eher eine indifferente Haltung gegenüber der Religionsausübung einnehmen zu wollen. Die dritte Gruppe betonte, mit den Schüler:innen in einen Dialog über die Religionsausübung in der Schule treten zu wollen.

Auf welche Weise sollte schulisches Personal die eigene religiöse Selbstpositionierung in Unterrichten bzw. gegenüber Schüler:innen thematisieren? Hier empfahl Schmidt den Teilnehmer:innen, authentisch zu sein und zu den eigenen Ansichten zu stehen, zugleich aber auch vermeintlich kontroverse Äußerungen zuzulassen. Beziehungsaufbau hieß hier das Stichwort. Nur im Dialog und mit Wertschätzung lasse sich herausfinden, ob sich hinter diesen Äußerungen eine gefestigte ideologische Ansicht verberge – oder doch etwas anderes, wie z.B. eine bewusste Provokation oder manchmal Äußerungen aus dem Elternhaus blind kopierend. Fragen der Schüler:innen an Lehrkräfte könnten als Wunsch nach Beschäftigung mit dem Thema verstanden werden. Zugleich solle sich schulisches Personal nicht von dem Gedanken abschrecken lassen, zu wenig Wissen über Religionen zu haben. Es gehe mehr um eine grundsätzliche pädagogische Haltung gegenüber Religion und Religiosität, so Schmidt; um Offenheit und Wertschätzung.

Zugleich sei Religionssensibilität an Schulen aber immer auch ein Organisationsproblem. Das bedeute, dass Schulen Regeln und Bereiche festlegen könnten – und sollten -, wo, wann und auch wie – z.B. im Rahmen einer Projektwoche oder AG – über Religion(sausübung) diskutiert werden könne.

Vielfältige Funktion(en) von Religion

Religionen kämen verschiedene Funktionen für das Individuum sowie das Gesellschaftssystem zu, so Schmidt:

-Weltanschauliche Funktion: Erklärung von Immanenz/Transzendenz also für die sogenannten ‚letzten Dinge‘;

-Gesellschaftliche Funktion: Liefert Erklärungen für gesellschaftliche Machtverhältnisse und stabilisiert diese;

-Psychologische Funktion: Hilft bei der Bewältigung individueller Probleme;

-Ethische Funktion: Begründet, vermittelt und legitimiert Handlungen;

Dieses neugewonnene Unterscheidungsvermögen konnten die Teilnehmer:innen sogleich in einer Übung umsetzen. Die Referentin hatte eine Bildercollage mitgebracht, auf der Kinder aus verschiedenen Religionsgemeinschaften beim Beten zu sehen waren. Mal einzeln, mal in der Gruppe, mal im Beisein ihrer Eltern. „Welche Gefühle lösen die Bilde bei euch aus?“, fragte Schmidt die Gruppe? Die Wahrnehmung war durchaus ambivalent. Während die Bilder auf denen Kinder alleine zu sehen waren, größtenteils positive Gefühle weckten, standen die Teilnehmer:innen jenen Bildern eher kritisch gegenüber, bei denen es so aussah, als würden die Betenden negativ beeinflusst, auf welche Art auch immer. Es sei wichtig, auch eigene negative Gefühlen beim Anblick religiöser Praxis zu erkennen und ausdrücken zu können. Einige Anwesende äußerten auch, dass die Bilder keine tiefe emotionale Regung bei ihnen auslösen würde. Sie hätten nach eigener Aussage aber keinen größeren Bezug zu Religion oder verstanden sich als Atheist:innen.

Schmidt verwies auf die Frage nach einer Grundsatzhaltung schulischen Personals. Wolle man nur mit Religion zusammenhängende Probleme sehen, dann werde man sie auch sehen. Doch spalten Religionen oder spalten Menschen, fragte sie in die Runde. Es gelte, Religion als Ressource zu verstehen, ihre Funktionen für (junge) Menschen anzuerkennen und unterschiedlichen religiösen Positionen und Praxen mit Werschätzung zu begegnen.

Der eigene Bezug zu Religion

Es folgte eine weitere Gruppenarbeit zum eigenen religiösen Bezug der Teilnehmer:innen. Schmidt bat die Schultandems, sich über folgende drei Fragen Gedanken zu machen und teilte diese dazu in Kleingruppen auf:

  1. Was verbindet ihr persönlich mit dem Thema Religion?
  2. Welche Rolle spielt Religion in eurem Leben/eurer Biographie?
  3. Mal angenommen euer Partner:in/enge Bezugsperson/Kind konvertiert zu einer anderen Religion. Was macht das mit euch?

In der anschließenden Diskussion zeigte sich, dass der persönliche Bezug zu Religion beim Großteil der Teilnehmer:innen ähnlich aussah. Fast alle waren mehr oder weniger intensiv christlich sozialisiert aufgewachsen und hatten sich an dem einen oder anderem Punkt in ihrem Leben ausführlich mit Religion beschäftigt um eine für sich passende Position zu finden.

Die Beantwortung der dritten Frage entzündete hingegen eine längere, mitunter auch kontrovers geführte Diskussion. Ausschlaggebend für die Reaktion auf eine Konversion einer nahestehenden Person sei die soziale Beziehung, zu der man zu der Person stehe, so der Tenor der Gruppe. Bei Kindern komme dann noch das Alter dazu, in dem diese konvertieren wollten. In Deutschland sind Kinder erst ab 14 Jahren religionsmündig. Davor dürfen ihre Eltern darüber entscheiden, in welchem Bekenntnis sie ihre Kinder erziehen wollen [2]. Ebenfalls sei ausschlaggebend zu welcher Religion die Bezugsperson konvertieren wolle und welche Änderungen im sozialen Alltag des Paares, der Familie oder vielleicht auch des Freundeskreises die Konversion mit sich bringe. Einige Teilnehmer:innen gaben aber auch an, dass eine Konversion ihrer Partner:innen die Beziehung vor große Belastungen stellen würde; etwa, wenn das gemeinsame religiöse Bekenntnis ein wichtiger Teil der Beziehung sei. Zentrale Erkenntnis dieser Übung war die Frage, dass Radikalisierung für unterschiedliche Menschen an unterschiedlichen Punkten beginnt, unterschiedliche Indiktoren auf Radikalisierung hinweisen und unterschiedliche Grenzen gezogen werden – je nach eigener (religiöser) Sozialisation.

Religionssensibilität braucht Selbsterfahrung

Religionssensibilität brauche Selbsterfahrung, gab Oulfa Schmidt den Teilnehmer:innen am Ende des ersten Workshoptages mit auf den Weg. Schulisches Personal tue daher gut daran, offen zu sein für andere Lebenspraxen und -hintergründe. Eine Herausforderung bestehe natürlich immer darin, zwischen der eigenen und der professionellen Haltung zu vermitteln, ohne sich selbst zu verleugnen. Der Rahmen des deutschen Grundgesetzes sei immer ein guter Orientierungspunkt, wenn es darum gehe, die Grenzen von Religionsfreiheit zu bestimmen, so die Referentin. Dadurch lasse sich auch eine ggf. schädliche emotionale Komponente wirkungsvoll aus der Diskussion herausnehmen.

Intervention sei in jedem Fall bei den drei A’s angesagt: Abwertung, Antipluralismus, Absoluter Wahrheitsanspruch. Diese drei ließen sich laut Schmidt auch in der Praxis einfach und wirkungsvoll als Prüfstein für vermeintlich radikale oder demokratiefeindliche Aussagen verwenden. Schulisches Personal müsse auf die Fragen und Sinnsuchen ihrer SuS eingehen, so Schmidt.

Kollegiale Fallberatung

Den Abschluss des ersten Fortbildungstages bildete eine kollegiale Fallberatung. Wie gewohnt, wurden zunächst die Fallgeber:innen, die Moderation sowie die Rolle des/der Sprecher:in festgelegt, die die Beratungsergebnisse zusammenfasst.

Fallschilderung: Muslimische Schüler:innen mit einer von den Fallgeber:innen zugeschriebenen konservativen Religionsausübung versuchten andere muslimische Schüler:innen von ihrer Version der Religionsausübung zu überzeugen und gingen diese bei Nichtbefolgen verbal an. Zudem gäbe es Beleidigungen und körperliche Übergriffe auf nichtmuslimische Mädchen. Der Anstoß, genauer hinzuschauen, war ein Ereignis bei einem interkulturellen Fastenbrechen. Der Wortführer der Gruppe habe die Lehrkräfte lautstark und provokant gefragt, warum auch Christ:innen an dem Fastenbrechen teilnehmen würden. Es sei ihm unangenehm, dass auch Angehörige anderer Religionsgemeinschaften anwesend seien. Die Fallgeber:innen suchten daraufhin das Gespräch mit dem Jungen. Dieser betonte, dass er sich in Religionsfragen zwar nicht von den Lehrkräften belehren lassen wolle. Er versprach aber, diese Fragen künftig mit sich selbst auszumachen und nicht mehr in der Schule zu provozieren. Der Handlungsauftrag an die kollegiale Fallberatung: Der Wunsch nach einem Handlungsleitfaden für den pädagogischen Umgang mit der Gruppe und hilfreiche Gesprächstechniken.

Fachliche Einordnung: Welche der beschriebenen Verhaltensweisen sind auf welcher Ebene (individuell, Gruppe, Klasse) als problematisch einzustufen? Eine religiös begründete Radikalisierung sahen die Teilnehmer:innen eher als unwahrscheinlich an; auch, da ihnen viele Informationen zum religiösen Selbstverständnis der jungen Muslim:innen fehlen würden. Wichtig sei es in jedem Fall, besonders wenn es um sexuelle Übergriffe ginge, nicht nur mit den Verursacher:innen zu arbeiten, sondern auch die potentiellen Opfer zu stärken.

Die Lösungsvorschläge:

-Einbezug muslimischer religiöser Autoritäten, um zu prüfen, ob die Aussagen der Jugendlichen theologisch tragfähig sind;

-Einbezug externer Präventionsakteur:innen, wie z.B. Wegweiser;

-Empowerment der Schüler:innen in der Klasse, um Selbstwirksamkeit zu generieren;

-Eine Themenwoche zu sexueller Gewalt in der Klasse;

-Enge Zusammenarbeit mit dem sozialen Umfeld der Schüler;

-Kooperation mit dem Projekt „Kein Raum für Missbrauch“ [3]

Feedback der Fallgeber:inen: Sie müssten nun erst einmal länger darüber nachdenken, so das Schultandem. Besonders der Vorschlag, die jungen Muslim:innen und die Klasse gleichzeitig zu adressieren, wenn auch mit verschiedenen Maßnahmen, fand breite Zustimmung. Schließlich seien die Vorfälle im Klassenverband geschehen und sollten daher auch mit der ganzen Klasse aufgearbeitet werden.

Reflexion der eigenen Perspektiven, Privilegien und Position(en)

Die Leitung dieses Workshops hatte der Bildungsreferent Moudou Diedhiou vom Verein Schwarze Schafe inne. Im Zentrum stand die Entwicklung einer antirassistischen und diskriminierungssensiblen Haltung als pädagogische Herausforderung für schulisches Personal. Er wolle die Teilnehmer:innen auf die oftmals unbewussten und daher unbemerkt bleibenden Kommunikationsmuster aufmerksam machen, mit und in denen sich Rassismus und Diskriminierung fortschrieben, so der Referent. Dieser abstrakte Punkt lasse sich gut anhand der Redewendung „wie ein Fisch im Wasser“ illustrieren, so Diedhiou. Wer sich wie ein Fisch im Wasser fühle, sei sprichwörtlich in seinem Element. Oft falle einem dann gar nicht auf, dass andere Menschen, zum Beispiel POC (People of Colour), Menschen mit Behinderungen oder auch alte Menschen sowie Kinder sich in diesem Wasser bzw. in diesen sozialen Räumen nicht derart ungezwungen bewegen könnten, sich vielleicht darin unwohl fühlen, diese meiden oder gar keinen Zugang zu ihnen haben. Eine rassismuskritische/diskriminierungssensible Sichtweise ziele darauf ab, aufzuzeigen, auf welche Weise(n) Menschen aus bestimmten sozialen Räumen und Diskursen ausgeschlossen werden.

Diskriminierung verstand Diedhiou dabei als wertbesetzte Unterscheidungen in Verbindung mit Auf- und Abwertungen, z.B. arm und reich, deutsch und migrantisch, dick und dünn etc. In der Theorie gewährleiste das Allgemeine Gleichheitsbehandlungsgesetz (AGG), dass Menschen in Deutschland vor bestimmten Diskriminierungskategorien- und Formen geschützt würden. Praktisch habe das Gesetz aber viele Lücken. So müssten etwa die potentiell von Diskriminierung betroffenen Menschen diese nachweisen und nicht umgekehrt jene, denen diskriminierende Aussagen oder Handlungen zugeschrieben würden, dass sie diese nicht getätigt oder ausgeführt hätten. Menschen seien stets von bestimmten Diskrminierungsformen betroffen und zugleich durch andere privilegiert. Er sei dafür ein gutes Beispiel, so der Referent. Er werde zwar durch die Kreuzung der Diskriminierungsformen Muslim, Mann und POC diskriminiert. Zugleich werde ihm dadurch ein gewisses Erfahrungswissen zugeschrieben. Ihm werde zugehört, anderen nicht. Gleichzeitig erwische er sich mitunter selbst dabei, bestimmte Männlichkeitsvorstellungen verinnerlicht zu haben die gewisse Sicht- und Verhaltensweisen auf- und andere abwerten würden, etwa nicht zu weinen, nicht viel über Kleidung nachzudenken oder die Äußerungen von Frauen mit einem „ja, stimmt“ zu kommentieren.

Zu eben dieser Selbstreflexion regte der Coach die Teilnehmenden an, gab dafür immer wieder Impulse und bat darum, über die eigene soziale Positionierung nachzudenken. Alle Schultandems bekamen pro Person je ein Flipchart ausgehändigt. Ausgehend von dem eigenen Namen in der Mitte sollten alle Teilnehmer:innen darauf notieren, welche Identitätsfacetten sie jeweils ausmachen. Etwa, Frau, Metalhead, große Schwester, Studentin, Legastheniker, Fußballtrainerin, oder Migrationsgeschichte.

Diedhiou sensibilisierte immer wieder für einen diskriminierungssensiblen Blick. Es gelte sich etwa als Mann bewusst zu machen, von Sexismus zu profitieren, indem man statistisch etwa weniger Bewerbungen für eine Zusage verschicken müsse. Das gelte eben auch dann, wenn man sich nicht explizit sexistisch äußere. Einer Norm zu entsprechen, bedeute, sich keine Gedanken machen zu müssen. Beispielsweise müssen Menschen, die nicht von Behinderung betroffen sind, sich keine Gedanken darüber machen, ob es in der Schule einen Aufzug gibt, den sie nutzen können. Diskriminierungssensibilität bedeute, sich diese Gedanken dennoch zu machen und für andere mitzudenken. Diese Sensibilität gelte es auch an „Schulen ohne Rassismus“ weiter zu schulen, damit der Titel „ohne Rassismus“ letztlich mehr bewirkt, als von Rassismus betroffenen ihre Erfahrungen abzusprechen.

Das sei keine Frage von zahlenmäßiger Mehr- oder Minderheit. In seiner Schulklasse seien 15 von 22 Kindern Muslim:innen gewesen. Dennoch sei in den Pausen Schweinefleisch angeboten worden.

Mit Blick auf das Clearingverfahren machte die anschließende Diskussion deutlich, dass ein Clearingteam von Menschen mit verschiedenen biographischen Erfahrungshintergründen und Professionen nur profitieren kann. Vieles, was er aufgeschrieben hätte, sähe man ihm gar nicht an, so ein Teilnehmer, mit Bezug auf seine Sozialisation im Ruhrpott. Besonders biographische Brüche, Umorientierungen etc. böten ein Potential, ein gewisses Sozialkapital; ein Maß an Empathie, das sich auch in Clearingverfahren gut anwenden lässt.

Institutionelle Diskriminierungen im Feld Schule

Diedhiou stellt anschließend verschiedene Dimensionen institutioneller Diskriminierung vor. Diese würden sich mitunter überlappen und miteinander verflechten:

-Individuelle Dimension: Menschen lehnen andere Menschen(gruppen) aus persönlichen Gründen ab und werten diese ab;

-Symbolische Dimension: Hier geht es um die Darstellung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, zum Beispiel in der Werbung, in Medien oder in Bundestagsdebatten;

-Strukturelle Dimension: Überpersonale gesellschaftliche Narrative über bestimmte Gruppen, die mit Abwertungen verbunden sind;

-Institutionelle Dimension: z.B. diskriminierende Personencodes in Polizeischulen und Ausbildungen – sogenanntes Racial Profiling;

-Ideologische Dimension: Abwertungen aufgrund einer bestimmten Ideologie. Etwa Antisemitismus, Rechtsextremismus oder Verschwörungstheorien;

Schulen als Bildungsorte müssten dabei besonders sensibel sein für die vielgestaltigen Überkreuzungsformen von Diskriminierungsformen. Eine diskriminierungssensible Schulentwicklung müsse auf allen diesen Ebenen ansetzen, betonte der Referent. Ein guter Ansatzpunkt sei es, schulische Vorschriften, Raumgestaltungen, Beratungsangebote sowie allgemein alle schulischen Abläufe auf mögliche Diskriminierung zu prüfen.

Wechselwirkungen von Marginalisierung und Radikalisierungsprozessen

Mit diesem Punkt kehrte die Fortbildung zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen Marginalisierungs- und Radikalisierungsprozessen? Hier zeigte Diedhiou im Einklang mit gängigen Radikalisierungsmodellen auf, dass diese auch duch von Individuen wahrgenommenen Marginalisierungs- bzw. Abwertungserfahrungen befeuert werden können.

Kollegiale Fallberatung die zweite

Anschließend teilte Diedhiou die Schultandems in sechs Kleingruppen für eine zweite kollegiale Fallberatung ein. In den Gruppen wurde dabei eine Vielzahl von Fällen diskutiert, in denen der Bezug zur Radikalisierung nicht immer deutlich wurde. Dies zeigte, dass am Anfang einer Fallgeschichte nicht immer sofort klar ist, ob es sich um einen Fall von Radikalisierung handelt oder nicht.

Der Fall einer Gruppe wurde anschließend ausführlich diskutiert. Ein Jugendlicher in einer Realschule hatte seine Klassenlehrerin verbal sexuell belästigt. Als Verfahrensvorschlag bat der Referent die Teilnehmer:innen, herauszuarbeiten, wer in diesem Szenario welches Problem mit wem habe. Die Beantwortung dieser Frage fiel dabei mitunter schwer. Je nach Perspektive – Klassenleitung, Schulsozialarbeit, Schulleitung – ergab sich ein anderes Bild des Falles. Dazu kam: Die Schulleitung nahm das Problem laut den Fallgeber:innen nämlich nicht sehr ernst, belehrte den Schüler zwar, ordnete aber keine Sanktionsmaßnahmen an. Es fühle sich für sie nicht so an, als stünde die Schulleitung hinter dem Kollegium, so die Fallgeber:innen.

In der fachlichen Einordnung arbeiteten die Teilnehmer:innen heraus, dass der Fall auf mehreren schulischen Ebenen zugleich zu verorten sei. Er müsse daher auch gleichzeitig auf mehreren Ebenen angegangen werden. Als Lösungsoptionen schlugen die Teilnehmer:innen Sanktionsmaßnahmen für den Schüler vor, wie z.B. einen verkürzten Stundenplan und die Zusammenarbeit mit externen Beratungsstellen und den Eltern. Zugleich müsse das Kollegium empowert sowie ggf. der Lehrer:innenrat und das Schulamt eingeschaltet werden. In jedem Fall müssten die Lehrkräfte wieder handlungsfähig gemacht werden. Dies war der zentrale Punkt, den die Fallgeber:innen mitnehmen und an dem sie nach eigener Aussage weiterarbeiten wollten.

Das dritte Modul zeigte erneut, dass Radikalisierungsprävention an Schulen ein voraussetzungsvolles Unterfangen ist, das viele und oftmals unbemerkte Fallstricke bereithält. Eine religionssensible sowie rassismus- und diskriminierungskritische Perspektive auf Radikalisierung kann schulisches Personal dabei unterstützen ‚mehr‘ und ‚besser‘ zu sehen bzw. andere und neue Perspektiven auf ihre Schüler:innen zu werfen sowie die eigene privilegierte soziale Position zu erkennen und entsprechend pädagogisch zu agieren.

 

Literatur:

[1] Borchard (2020):  Religiös musikalisch? Ein neuer ‚alter‘ Weg für die Kirchen? Online verfügbar unter: https://kreuz-und-quer.de/2020/10/12/religios-musikalisch/

[2] Bundesministerium der Justiz (o.J.): Gesetz über die religiöse Kindererziehung § 5. Online verfügbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/kerzg/__5.html.

[3] Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (o.J.): Kein Raum für Missbrauch. Online verfügbar unter: https://kein-raum-fuer-missbrauch.de/.