Am 04.03.2024 kamen sechs Personen aus dem CleaRNetwork digital zu einer kollegialen Fallberatung zusammen.

Die kollegiale Fallberatung setzte sich aus zehn Schritten zusammen und verfolgte das Ziel, eine Person mit Blick auf das weitere Vorgehen in einem Fall von (vermeintlicher) Radikalisierung zu beraten und die Expertise der Anwesenden dafür zu nutzen.

  1. Fallschilderung durch die Fallgeberin

Nachdem die Rollen der Fallgeberin, der Moderation und des Sprechers verteilt wurden, begann die Fallschilderung durch die Fallgeberin. Sie berichtete von einem Schüler aus einer 8. Klasse an einer Gesamtschule, der auf einem Klassenausflug andere Schüler:innen mit internationaler Geschichte anfeindete, sie etwa als Schmarotzer bezeichnete; ihnen vorhielt, sie hätten hier nichts zu suchen und weitere Worte verwendete, die die Fallgeberin nicht reproduzieren wollte. Auch nach dem Ausflug fiel die Person durch menschenfeindliche Aussagen gegen Muslim:innen und Frauen im Unterricht wie auch in den Pausen auf. Sie erzählte menschenfeindliche Witze und wollte mit Mitschüler:inne mit internationaler Geschichte nicht zusammenarbeiten.

  1. Skizzierung des bisherigen Vorgehens durch die Fallgeberin

Befragt nach dem Vorgehen, das bisher angewendet wurde, um den Fall zu bearbeiten, erzählte die Fallgeberin, die Klassenlehrerin habe das Gespräch mit dem Schüler gesucht und habe Haltung bezogen. Der Schüler jedoch bagatellisierte seine Aussagen und entgegnete, das sei nur Spaß gewesen. Es habe zwei Gespräche mit der Klassenleitung gegeben; beim zweiten war auch die Schulsozialarbeit dabei. Weil sich in der Folge aber nichts veränderte, wurden die Eltern zu einem Gespräch geladen. In diesem Gespräch zeigte sich, dass den Eltern im Radikalisierungsprozess des Jugendlichen eine wesentliche Rolle zukam. Sie unterstützten ihren Sohn, behaupteten, die getätigten Äußerungen stünden ihm zu, reproduzierten sie und bezeichneten die Einladung zum Gespräch als unnötig.

  1. Rückfragen der Gruppe

Der dritte Schritt der kollegialen Fallberatung bestand in Rückfragen der Anwesenden an die Fallgeberin. Dadurch ergaben sich unter anderem die folgenden zusätzlichen Informationen:

  • Der Schüler ist sozial in die Klasse eingebunden und verfügt über eine exponierte Stellung. Er wird bejubelt und hat die Rolle eines Klassenclowns.
  • Bei den bisher geführten Gesprächen waren die Fallgeberin, die Eltern, die Schulsozialarbeit und die Klassenleitung dabei.
  • Es kam in den bisher geführten Gesprächen zu keinerlei Vereinbarungen, Ordnungsmaßnahmen oder Konsequenzen.
  • Die von ihm beleidigten Schüler:innen haben sich nicht selbst bei der Klassenleitung gemeldet, sondern waren eingeschüchtert und zurückhaltend.
  • Der Schüler traf die Äußerungen öffentlich, etwa beim Ausflug oder in Pausen; er traf sie nicht verdeckt.
  • Die Fallgeberin weiß nicht, inwiefern der Schüler in inner- oder außerschulische Nachmittags- oder Vereinsaktivitäten eingebunden ist.
  • Die schulische Situation des Jugendlichen ist unauffällig. Seine Noten sind weder besonders gut noch besonders schlecht.

 

  1. Formulierung eines Auftrags an die Gruppe durch die Fallgeberin

Nachdem alle inhaltlichen Rückfragen zum Fall und zum Vorgehen geklärt waren, war es nun an der Fallgeberin, einen konkreten Auftrag an die Gruppe zu formulieren. Was also erhoffte sie sich von dieser kollegialen Fallberatung. Ihre Leitfrage lautete:

Wie können wir den Jungen trotz seiner seine Radikalisierung fördernden Eltern für die Demokratie stärken?

  1. Fachliche Einordnung durch die kollegialen Fallberater:innen

Die Fallberater:innen gingen nun in den Austausch miteinander, um den Fall fachlich einzuordnen. Dabei ergaben sich die folgenden drei Schwerpunkte:

  • Es hat bisher keinerlei Konsequenzen, Absprachen oder Vereinbarungen gegeben. Diese sind unverzichtbar.
  • Der Junge scheint die ihm zukommende Aufmerksamkeit zu genießen, dreht auf, spürt kaum Gegenwind aus der Klassengemeinschaft, sondern erhält Zuspruch.
  • Die Eltern scheinen den Jungen zu unterstützen. In diese Richtung sollte gehandelt werden.

 

  1. Austausch der kollegialen Fallberater:innen über Lösungsvorschläge

Auf diese knappe fachliche Einordnung folgte ein Austausch über mögliche Lösungsvorschläge. Diese wurden einfach in den Raum geworfen, sodass die Fallgeberin später entscheiden konnte, welche davon bei ihr auf Resonanz stießen. Die folgenden Lösungsvorschläge kamen auf:

  • Der Junge sollte die Konsequenzen seines Handelns zu spüren bekommen. Dabei sollte gleichzeitig sichergestellt werden, dass er sich nicht zurückzieht, weil ein soziales Korrektiv gebraucht wird. Es sollte also mehr als Empörung auf sein Verhalten folgen; er sollte aber gleichzeitig weiter in die Schule eingebunden werden.
  • Ausflüge in Konzentrationslager
  • Besuche von Ausstellungen
  • Konsum von Filmen der Geschichts- und Politikbildung
  • Rollenspiele, in denen der Jugendliche eine spezifische Rolle einnimmt, um ihn zu sensibilisieren
  • Einladung von NS-Zeitzeugen
  • Längerfristige Schulsozialarbeit, z.B. mit Hilfe des No-Blame-Approach, bei dem dem Jugendlichen weder Warum-Fragen gestellt werden noch seine Äußerungen oder deren Ursachen untersucht oder Rechtfertigungen verlangt werden. Vielmehr werden gemeinsam mit ihm Lösungen gesucht.
  • Biographie-Arbeit, die ihm vorhält, dass er vermutlich auch über einen mehr oder weniger weiten Migrationshintergrund verfügt
  • Arbeit mit Terminierung; mit ihm also etwa vereinbaren, dass er bis Ende des Schuljahres nicht mehr X und Y tut, sondern Z
  • Empathie fördern etwa durch einen Projekttag in einer Suppenküche
  • Förderung von Potenzialen im sozialen Umfeld (irgendeine Tante, ein Sportverein, Klassenkamerad:innen, Gruppen, etc.)

 

  1. Strukturierte Wiedergabe der Lösungsvorschläge durch den Sprecher

Dem Sprecher der kollegialen Fallberatung kam nun die Aufgabe zu, die gesammelten Lösungsvorschläge strukturiert wiederzugeben. Er wählte dafür eine Differenzierung zwischen der individuellen Arbeit mit dem Schüler und der kollektiven Arbeit mit der Klasse. Ebenfalls ordnete er manche der Vorschläge kritisch ein.

 

  1. Rückfragen durch die Fallgeberin

Die Fallgeberin bekam nun Gelegenheit, Verständnisrückfragen zu stellen oder um Spezifizierung zu bitten. Das tat sie mit Blick auf zwei der genannten Vorschläge.

 

  1. Resonanz der Fallgeberin auf die erteilten Vorschläge

Nun sollte die Fallgeberin skizzieren, welche der Vorschläge sie für sinnvoll und umsetzbar hielt, welchen Schritten sie also in Zukunft nachgehen wolle. Sie nannte primär Maßnahmen, die einem Perspektivwechsel ermöglichen, Biographiearbeit, Engagement für andere, Einladen von Zeitzeugen, Arbeit mit Konsequenzen und das Finden von Potenzialen im Umfeld des Jugendlichen. Dafür werde sie nun einen Termin mit der Klassen- und der Schulleitung vereinbaren, um konkrete Ziele und Zeiträume in der Arbeit mit dem Jugendlichen zu bestimmen.

 

  1. Feedback der gesamten Gruppe

Sowohl die Fallgeberin als auch die teilnehmende Gruppe bewerteten das Vorgehen als hilfreich und umsetzbar.