Von 14.05.24 – 15.05.24 fand in Frankfurt eine Fachtagung der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus zum Thema „Der Nahostkonflikt als Katalysator. Antisemitismus, Rassismus und Radikalisierung in Deutschland“ statt. Wegen der hohen Relevanz des Themenkomplexes für mit dem Clearing-Verfahren arbeitende Schulen war auch Sören Sponick aus dem CleaRNetworking-Projektteam dabei.

Besonders der Nahostkonflikt sei ein regelmäßiger Anlass für ideologische Mobilisierung, hieß es bereits im Ankündigungstext der Tagung. Vor dem Hintergrund des Terrorangriffs der Hamas auf Israel am 07.10.23 und den Kriegshandlungen in den vergangenen Monaten ergäben sich viele neue Herausforderungen für die zivilgesellschaftliche Demokratieförderung sowie Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit, betonte Jamuna Oehlmann in ihrer Begrüßungsansprache. Dies gelte auch und besonders für die Bereiche Antisemitismus, Rassismus und Radikalisierung. Im Mittelpunkt der Tagung standen daher vielfältigen Überkreuzungen dieser jeweils für sich schon komplexen Themengebiete und ihre Auswirkungen auf die Arbeit von Präventionsakteur:innen in Deutschland.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland in Zeiten der Eskalation in

Dr. Yasemin El-Menouar von der Bertelsmann-Stiftung ordnete die aktuellen Entwicklungen mit Blick auf die jüngste Erhebung des Religionsmonitors ihrer Stiftung ein [1]. Dessen Zahlen seien zwar vor dem 07.10.2023 erhoben worden, so die Referentin, würden aber dennoch ein gutes Schlaglicht auf die rezenten antisemitischen Einstellungen verschiedener Bevölkerungsgruppen in Deutschland werfen. Die auf Grundlage einer Melderegisterstichprobe erhobenen Ergebnisse des Religionsmonitors beruhen auf einer repräsentativen Umfrage aus der Grundgesamtheit der deutschen Bevölkerung ab 16 Jahren.

Die aktuelle Ausgabe des Religionsmonitors zeige deutlich eine „Enthemmung diskriminierender Vorurteile“ sowie des gesellschaftlichen Zusammenhalts, so die Referentin. Israelbezogener Antisemitismus sei in Deutschland weiterhin salonfähig. Insgesamt stimmten 43 Prozent der Bevölkerung der Aussage zu, was der Staat Israel mit den Palästinensern mache, sei im Prinzip nichts anderes, als was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht hätten [2]. Diese Haltung sei keinesfalls nur ein Phänomen an den sogenannten Rändern der Gesellschaft, so El-Menouar. Antisemitische Einstellungen seien in allen Teilen der Gesellschaft weit verbreitet. Auch unter Muslim:innen, Buddhist:innen und Hinduist:innen sei die Zustimmung zu den in der Erhebung abgefragten antisemitischen Aussagen weit verbreitet, teilweise mit über 70%. Die Religionszugehörigkeit allein biete aber keine ausreichende Erklärungsgrundlage für die Virulenz der Einstellungen, so die Referentin. Zusätzlich müssten die individuellen Migrationsbiografien und die individuelle Sozialisation miteinbezogen werden. So hatten Personen ohne Migrationsbiografie deutlich geringere Zustimmungswerte als solche deren Eltern migriert waren oder die selbst migrierten. Antisemitische Einstellungen korrelieren also mit der Sozialisation in den jeweiligen Heimatländern, nicht mit der Zugehörigkeit zu einer Religion per se.

So zeigten z.B. zugewanderte Christ::innen deutlich höhere Zustimmungswerte zu antisemitischen Items als solche ohne eigene Migrationsgeschichte, unabhängig davon, ob sie sich selbst eine hohe oder niedrige Religiosität zuschrieben [3] Vermutlich komme hier zum Tragen, dass „sich die Kirchen in Deutschland nach dem Holocaust mit ihrer jahrhundertelangen Geschichte der Judenfeindschaft und ihrer Rolle bei der Judenverfolgung kritisch auseinandergesetzt haben, was das Selbstverständnis ihrer aktiven Mitglieder prägt“ [4], wie es in einer prägnanten Stelle der Studie heißt. Für El-Menouar und ihr Team bedeutete dies, dass die Situation in den Herkunftsländern einen großen Einfluss auf die Genese antisemitische Einstellungen habe. So sei etwa die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen bei zugewanderten Muslim:innen aus südosteuropäischen Ländern deutlich geringer als bei Zugewanderten aus der Türkei oder dem Nahen und Mittleren Osten. Der Nahostkonflikt sei dort ein deutlich präsenteres Thema.

Es gehe also darum, wie eine Gesellschaft sich Religion aneigne, fasste El-Manouar zusammen. Damit meinte sie, dass es für die Genese antisemitischer Einstellungen von Bedeutung sei, wie sich das Zusammenleben der jeweiligen Religionen auf personaler wie auf institutioneller Ebene historisch entwickelt habe. So hat etwa der deutsch-israelische Soziologe Nathan Sznaider gezeigt, dass Christ:innen, Jüd:innen, Muslim:innen noch bis in die 1970er Jahre hinein im Maghreb in der Regel friedlich zusammenlebten [5]. Der deutsch-syrische Schriftteller Rafik Schami hat dieses friedliche Zusammenleben in seinen Kindheitserinnerungen eindrucksvoll literarisch verarbeitet [6]. Es sei aus ihrer Sicht falsch Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Religion pauschal zu verurteilen. Denn eine„Gleichsetzung von Islam und Islamismus“ spiele Extremist:innen in die Hände. Sie empfahl daher Begegnungen auf Augenhöhe, um Vorurteile und Ressentiments abzubauen. Ein effektiver Einsatz gegen Antisemitismus erfordere gleichsam eine kognitive wie eine emotionale Ansprache. Letztere könnten Prävention und Zivilgesellschaft besonders durch Begegnungsangebote leisten.

Aus Sicht des CleaRNetworking lässt sich El-Menouar an dieser Stelle nur vollumfänglich zustimmen. Besonders schulische und außerschulische Bildungsangebote sind hier gut geeignet, um die von ihr geforderten Begegnungen auf Augenhöhe zu schaffen. Das heißt einerseits sichere pädagogische Räume zu schaffen, in denen sich Schüler:innen vorurteilsfrei über die vielen Fragen, die sie zu Religion(en), religiösen Praktiken, Ge- und Verboten haben, austauschen können. Aber auch eine grundsätzlich aufgeschlossene pädagogische Einstellung zu Religion. Auch, wenn Mensch vielleicht selbst mit Religion wenig anfangen kann, eignet sich für denn schulischen Alltag eine pädagogische Haltung der religiösen Musikalität, wie sie Oulfa Schmidt im dritten Modul des CleaRNetworking-Jahrgangs 2024 gefordert hatte [7].

Die mobilisierende Wirkung des Nahostkonfliktes in islamistischen Narrativen – und was man dagegen tun kann

Altbekannte Inhalte in neuen Ansprachemustern – so ließe sich der Vortrag von Götz Nordbruch zusammenfasen. Was sei neu an den derzeit mobilisierenden Narrativen religiöser Extremist:innen? Nicht sehr viel, konstatierte der Referent. Ähnliche Diskurse seien schon vor gut 25 Jahren geführt worden, wie er anhand einer Bildercollage damaliger Presseberichte zeigte. Auch die pädagogischen Herausforderungen und Methoden seien bis heute aktuell.

Der Nahostkonflikt selbst sei – damals wie heute – eine Projektionsfläche für zahlreiche Kämpfe und Diskurse, auch und besonders in Deutschland. Die Kritik mancher Journalist:innen und Politiker:innen, die Zivilgesellschaft in Deutschland kümmere sich zu wenig um das Thema, wies Nordbruch als unzutreffend zurück. Jene Stimmen ignorierten, dass die Zivilgesellschaft schon seit den frühen Zweitausendern an diesem Thema dran sei.

Kontinuität(en) von Widerstandsnarrative(n)

Auch die Mobilisierungsnarrative von derzeit stark in den Medien vertretenen Gruppen wie z.B. Muslim Interaktiv wiesen deutliche Kontinuitäten auf, so Nordbruch. Dies gelte besonders für die Widerstandsnarrative, die Einheit und Gemeinschaft der Gruppen schaffen und bestärken sollten sowie ein starkes Wir-Ihr-Denken. Hier die deutsche Gesellschaft, dort die Muslim:innen. Jungen Menschen, die sich von diesen Narrativen angezogen fühlten, müssten Religion, Politik, Schulen und Zivilgesellschaft alternative Sinnangebote machen, ansonsten würden es Extremist:innen tun, so Nordbruch:Das alltägliche Geschäft von zivilgesellschaftlichen Präventionsakteur:innen.

Acht Mosaiksteine für die pädagogische Arbeit

Was könnten diese angesichts der aktuell unübersichtlichen Gemengelage tun? Nordbruch schlug acht Mosaiksteine für die pädagogische Arbeit, z.B. in schulischen oder außerschulischen Bildungseinrichtungen vor:

  1. Selbstreflexion (z.B. von Präventionsakteur:innen oder schulischem Personal) und eigene biografische Positionierung gegenüber dem Konflikt, inklusive der Aufstellung eines Verhaltenskodex‘ mit Sprachregeln für Veranstaltungen;
  2. Der Konflikt und ich – was macht das mit uns als (schulischen) Präventionsakteur:innen?
  3. Der Umgang mit Gewaltdarstellungen: Fragen, Sorgen und Ängste von Kindern und Jugendlichen ernst nehmen, eine aktive Verarbeitung anregen und dabei authentisch bleiben;
  4. Bindungsaufbau: Verbindliche Klassenregeln (z.B. für den Klassenchat) aufstellen, die auch jenseits des Nahostkonfliktes gelten sollen. Anregungen gibt es z.B. bei Klicksafe.de [8];
  5. Stimmen aus Israel UND Palästina sichtbar machen, Gleichzeitigkeiten ermöglichen und ein Spektrum unterschiedlicher Positionen zulassen;
  6. Biografische Erfahrungen und Narrative von Schüler:innen anerkennen. Schulisches Personal soll diese sensibel einordnen;
  7. Multiperspektivität im schulischen Alltag ermöglichen und leben:
  8. Räume für Konflikte schaffen: Konflikte benennen und konstruktive Debatten im schulischen Raum ermöglichen;

Nur durch kontinuierliche Beziehungsarbeit sei es möglich, ein „Inklusives Wir“ in der Schule und der deutschen Gesellschaft im Ganzen zu schaffen, so Nordbruch, um dem „exklusiven Wir“ extremistischer Akteur:innen wirksam entgegentreten zu können.

Podiumsdiskussion

Eine Podiumsdiskussion schloss den ersten Tagungstag ab. Es diskutierten die beiden Referent:innen, begleitet von Rüdiger José Hamm, Co-Geschäftsführer der BAG RelEx. Die Moderation übernahm Ulrike Hoole aus dem Team der BAG.

Warum emotionalisiere der Nahostkonflikt so sehr, fragte die Moderatorin das Podium zur Eröffnung. Er erkläre sich das mit dem Freund-Feind-Denken, auch in Bezug auf die Shoah und die Nakba, das sich durch den gesamten Konflikt ziehe, so Hamm. Zudem sei Antisemitismus schon lange eine Begleiterscheinung der deutschen Geschichte. Die historische Verantwortung Deutschlands durch die Shoah spiele aus ihrer Sicht ebenfalls eine wichtige Rolle, so El-Menouar. Für ein multiperspektivisches Erinnern sei es wichtig, die deutsche Erinnerungskultur an die Erfordernisse einer pluralen Gesellschaft anzupassen und die vielgestaltigen biographischen Hintergründe von Menschen zu berücksichtigen.

Ein Katalysator steigert die Reaktionsgeschwindigkeit einer chemischen Reaktion. Die Reaktion ist also schon vorher da, sie läuft nur intensiver ab. Mit antisemitischen Haltungen und Vorurteilen verhalte es sich ähnlich, so El-Menouar. Auch diese hätten schon vor Beginn des Nahostkonfliktes existiert. Mit Bezug auf die titelgebende These des Fachtages müsse man daher an die sozialen Orte gehen, an denen antisemitische Eskalationen passierten also z.B. Schulen, Universitäten, öffentliche Plätze oder digitale Plattformen, um herauszufinden, ob der Nahostkonflikt als Katalysator wirke. Ein Anstieg antisemitischer Einstellungen lasse sich bisher empirisch nicht belegen. Vielmehr werde das existierende Potential von den einschlägigen Akteur:innen laut und öffentlich deutlich sichtbar bedient.

Was sei aber nun das Neue an der aktuellen Situation, fragte die Moderation die Runde. Neu sei die gesellschaftliche Reaktion auf die propalästinensischen Proteste, antwortete Götz Nordbruch. Diese setze primär auf Sanktionierungen und Sprechverbote. Diese Maßnahmen seien jedoch kontraproduktiv und würden den Diskurs stark vereinseitigen. Die wichtigste Veränderung sah er in der noch stärkeren präventiven Aufladung pädagogischer sozialer Arbeit. Pädagogische und politische Herausforderungen müssten aus seiner Sicht getrennt behalten werden. Pädagogik könne keine politischen Probleme lösen und umgekehrt.

Pädagogische Antworten müssten die Komplexität der Lage und die Vielgestalt von sozialen Positionierungen anerkennen und diese auch in der eigenen Arbeit, etwa im schulischen Raum, sichtbar machen und reflektieren, betonten die Diskutierenden. Dazu sei es auch nötig die Grenzen der eigenen Position zu bestimmen und anzuerkennen,worüber man aus Mangel an Erfahrungshintergründen eben nicht kompetent sprechen könne, hob Götz Nordbruch hervor. Es brauche geschützte Räume, in denen über die vielen schwierigen Fragen gesprochen werden könne, ohne sich gleich positionieren zu müssen, betonte El-Menouar. Zugleich müssten Antisemitismus und antismuslimischer Rassismus in ihrer Verknüpfung als Problem klar benannt werden, forderte Hamm. Der ‚Kampf‘ müsse sich gegen Ideologien und ihre Auswirkungen richten, nicht gegen einzelne Menschen, um der gesellschaftlichen Spaltung effektiv entgegenzutreten.

Instrumentalisierung des Nahostkonfliktes – was heißt das eigentlich?

Am zweiten Tag der Fachtagung wurden die Inhalte des ersten Tages aufgegriffen und vertieft. Lag der erste Tag auf der Theorie, widmeten sich die Workshops des zweiten Tages der Präventionspraxis, erläuterte Charlotte Leikert von der BAG in ihrer Begrüßung. Welche Potentiale gäbe es bereits, um der Ansprache und den Mobilisierungsversuchen radikaler Akteur:innen effektiv entgegenzutreten? Diese und weitere Fragen wurden in vier Themenworkshops behandelt:

  1. Der Nahostkonflikt als Mobilisierungsfaktor in der islamistischen Szene Deutschlands (Hanna Baron, Annabelle Mattick);
  2. Die Instrumentalisierung des Nahostkonflikts aus einer phänomenübergreifenden Perspektive (Piotr Suder, Tariq N. Butt);
  3. Im Gespräch bleiben: Antisemitismus- und rassismuskritische politische Bildung (Nava Zarabian & Bijan Pour-Razavi);
  4. Nahostkonflikt und Soziale Medien: Propaganda, Polarisierung und Prävention (Friedhelm Hartwig, Navid Wali);

Pro Teilnehmer:in war der Besuch eines Workshops möglich. Für die Arbeit im CleaRNetworking von besonderer Bedeutung war dabei der Workshop von Suder und Butt über „Die Instrumentalisierung des Nahostkonflikts aus einer phänomenübergreifenden Perspektive“, da auch unser Projekt eine solche Perspektive vertritt. Der Krieg in Nahost habe bis zum 7.10. nicht im Zentrum ihres Projektes „ExPO – Extremismus Prävention Online“ gestanden, betonten Suder und Butt. Das habe sich seitdem geändert. Zwar sei das Thema nicht neu, dessen Intensität habe aber deutlich zugenommen.

Warum aber eine phänomenübergreifende Perspektive? Eine solche könne Verbindungslinien, ideologische und narrative Gemeinsamkeiten, Allianzen aber auch Unterschiede zwischen den Handlungsfeldern der Prävention gut aufzeigen, so Suder. Ein großer Vorteil sei dabei weiterhin ein wenig stigmatisierender Zugang. Bestimmte Handlungsweisen, Versuche von Vereindeutigungen etc. würden nicht exklusiv einem Phänomenbereich zugeschrieben werden, sondern es lasse sich zeigen, dass es diese auch in anderen Bereichen gäbe. Phänomenübergreifende Prävention sei kein geschlossener, homogener Begriff. Sie beziehe sich hauptsächlich auf die universelle Prävention; in der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit müsse man tiefer in die jeweiligen Phänomene einsteigen.

Inspektion: Ideologie und Instrumentalisierung

Zunächst baten Suder und Butt die Teilnehmer:innen, sich entsprechend verschiedener Thesen im Raum zu positionieren; etwa hinsichtlich der Frage, welche Auswirkungen der Krieg in Nahost auf die eigene pädagogische Arbeit habe und wie/ob die eigenen Angebote nach dem 7.10. überarbeitet wurden. Wenig erstaunlich stimmten die Teilnehmer:innen beiden Fragen größtenteils zu, auch wenn sich die konkreten Veränderungen je nach Organisation unterschieden.

Die anschließende Quellenanalyse als Gruppenarbeit diente nach den Referierenden als genaue „Introspektion“ des Materials. Suder und Butt hatten fünf Texte und Videoausschnitte radikaler Akteur:innen und Organisationen mitgebracht, zwei aus dem Spektrum religiös begründeter Extremismus, zwei aus dem Rechtsextremismus und einen aus dem Linksextremismus. Jede Gruppe untersuchte ihre Quelle anhand von vier gemeinsamen Leitfragen:

  1. Welche Feindbilder werden verbreitet?
  2. Welche politischen Ziele werden verfolgt?
  3. Mit welchen Methoden werden die politischen Ziele verfolgt?
  4. Welche stilistischen Mittel werden im Text angewandt?

Nach einer längeren Arbeitsphase wurden die Gruppen gemischt. Aus jeder Ursprungsgruppe begab sich ein Mitglied in eine Art ‚Supergruppe‘, in der jede Person Expert:in für eine andere Quelle war. Die Arbeitsaufträge lauteten:

  1. Welche Gemeinsamkeiten finden sich zwischen den Quellen?
  2. Welche Unterschiede finden sich zwischen den Quellen?
  3. Welche Wechselwirkungen finden sich zwischen den Quellen?

In der zweiten Workshophase nach der Pause zeigte sich, dass es gar nicht so einfach war, Gemeinsamkeiten zwischen den Narrativen der fünf Quellen zu finden. Allen gemein war die Konstruktion eines mehr oder weniger stringenten Narratives, das sich durch den Text zog, sowie die Formulierung klarer Feindbilder (Wir gegen die anderen) sowie die Ablehnung einer offenen, liberalen Gesellschaft. In Götz Nordbruchs Worten: Der Ablehnung eines inklusiven Wirs. Die Unterschiede zeigten sich z.B. darin, wie die Gegnerschaft begründet wurde. In den Texten aus dem religiös begründeten Spektrum geschah dies z.B. durch eine strikte Trennung zwischen den Muslim:innen und der sogenannten deutschen Mehrheitsgesellschaft. In den Texten aus dem rechtsextremen Spektrum wurde auf die Einheit des deutschen Volkes abgestellt und alle anderen Gruppen wurden als nichtzugehörig markiert. Parallelen bestanden auch im engen Bezug auf die Diskussion in Deutschland. Der diskursive Bezugsraum aller fünf Quellen lag hier.

Der Konflikt im Nahen Osten diente vielmehr, wie Götz Nordbruch es am Tag zuvor auf den Begriff gebracht hatte, gleichermaßen als Projektionsfläche wie als Durchlauferhitzer für eine Vielzahl von Themen. Von den (Un)Möglichkeiten einer deutsch-muslimischen Identität bis hin zu rechtsextremen Querfrontversuchen, augenscheinlich linke politische Positionen von den Rändern des linken politischen Spektrums für das eigene rechtsextreme Projekt zu vereinnahmen. Die Widersprüche zwischen diesen eigentlich unvereinbaren Positionen und die Versuche, diese rhetorisch einzuebnen, machten wieder einmal deutlich, dass politische Ideologien keine in sich geschlossenen Gebilde sind, sondern besonders an ihren Rändern eine erstaunlich große Offenheit und einen entsprechenden Pragmatismus zeigen, der sich etwa in dem oben beschriebenen Versuch einer eigentlich unwahrscheinlichen Allianzbildung zeigt.

Konsequenzen für die Präventionsarbeit

Als Konsequenzen für die Präventionsarbeit rieten die Referierenden zu einem Ausbau medienpädagogischer Angebote in Präventionsangeboten und Schulen. Medienpädagogische Kompetenzen sowohl von Präventionsarbeiter:innen, von schulischem Personal als auch von Schüler:innen, sollten gestärkt werden. Die von Suder und Butt aufgestellten Diskussionsfragen könnten sich dabei als eine Analysefolie für Präventionsakteur:innen eignen, um potentiell problematische Quellen analytisch auseinanderzunehmen und pädagogisch zu bearbeiten. Präventionsangebote sollten sich zudem stärker als bisher mit den Narrativen der Delegitimierung liberaler und offener Gesellschaftsmodelle auseinandersetzen.

Fishbowl und Abschluss

Eine Fishbowldiskussion, geleitet von Charlotte Leikert, beschloss den zweiten Tag der Tagung. Dort wurden die Ergebnisse aus den Workshops zusammengefasst und in das Plenum zurückgespielt. Angesichts der Vielzahl der dort dargebotenen Beiträge beschränkt sich die folgende Zusammenfassung darauf, die zentralen Argumente hervorzuheben:

  1. Mehr über Lösungen und Methoden als über Probleme reden. Die Probleme liegen bereits auf dem Tisch, in der Praxis sollte es nun darum gehen, die ’richtigen‘ pädagogischen Methoden zu finden, um jene angemessen zu bearbeiten;
  2. Die Ängste, Fragen und Perspektiven junger Menschen anerkennen und bestmöglich in der Präventionsarbeit berücksichtigen. Sonst tun es andere;
  3. Die Grenzen der eigenen Perspektive bzw. eigene Standortgebundenheiten berücksichtigen. Dazu die eigene Position so gut wie möglich transparent machen, dabei immer authentisch bleiben.

Am Ende der beiden Tage fuhr wohl ein Großteil der Teilnehmer:innen mit vielen neuen Erkenntnissen, aber auch mit vielen neuen Fragen im Gepäck nach Hause. Für die Arbeit im CleaRNetworking bleibt zu konstatieren: Eine phänomenübergreifende Perspektive, die die ideologischen Unterschiede anerkennt, markiert, nicht aber nivelliert, eignet sich, um Fachkräfte für Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede zwischen den Phänomenbereichen zu sensibilisieren. Nur wenn sich schulisches Personal sicher auf den sinnbildlichen Brücken zwischen diesen Bereichen bewegen kann, ist es in der Lage gute Präventionsarbeit zu leisten, ohne in vorschnelle Alarmhaltungen zu verfallen. Niemand muss alles können, aber ein Grundstock an Wissen sollte in jedem Fall vorhanden sein. Vor allem die von Nordbruch präsentierten Mosaiksteine für die pädagogische Arbeit bieten vielfältige Anknüpfungspunkte für unser Netzwerk aus schulischem Personal, das durch den Nahostkonflikt immer wieder herausgefordert wird.

Literatur

[1] Bertelsmann Stiftung (2023): Antisemitismus, Rassismus und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Ein Blick auf Deutschland in Zeiten der Eskalation in Nahost. Online verfügbar unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/antisemitismus-rassismus-und-gesellschaftlicher-zusammenhalt.

[2] ebd., S.3.

[3] ebd., S.7.

[4] ebd., S.7.

[5] Sznaider, Natan (2022): Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus: Hanser, Carl GmbH + Co.

[6] Schami, Rafik (1996): Eine Hand voller Sterne. Roman. Weinheim: Beltz..

[7] CleaRNetworking (2024): Religions- und diskriminierungssensible pädagogische Haltung: Weiterbildungsmodul 3 (2024) zu Reflexionen eigener Vorannahmen, 29.04.24 – 30.04.24, Hannover. Online verfügbar unter: https://www.clearing-schule.de/religions-und-diskriminierungssensible-paedagogische-haltung-weiterbildungsmodul-3-2024-zu-reflexionen-eigener-vorannahmen-29-04-24-30-04-24-hannover/.

[8] Klicksafe.de (o.J): Klicksafe.de. Online verfügbar unter: https://www.klicksafe.de/.