Schulische Radikalisierungsprävention braucht einen langen Atem – Weiterbildungsmodul (4) 25, Das Clearingverfahren und seine Implementierung,  04.06.2025-05.06.2025, Hannover

 

Am 04. und 05. Juni 2025 kam der diesjährige Weiterbildungs-Durchgang des Projekts CleaRNetworking zum vierten Modul im Hotel Yors in Hannover zusammen. Dieses Modul war eng am Clearing-Verfahren selbst ausgerichtet und widmete sich verschiedenen praktischen Fragestellungen – insbesondere der schulischen Konzeptualisierung von Radikalisierungsprävention sowie den konkreten Verfahrensschritten im Clearing-Prozess. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf der Frage, welche externen Präventionsakteur:innen die Schulen in ihrer Arbeit unterstützen können.

Nach einer Einführung startete Sören Sponick mit einem Workshop rund um die zentrale Frage: Wie können Schulen die notwendigen Ressourcen schaffen, um sich strukturiert mit Radikalisierungsprävention auseinanderzusetzen?

In seinem Input skizzierte Sponick verschiedene Fördermöglichkeiten und Ansätze, mit denen Schulen zeitliche, personelle, argumentative und finanzielle Ressourcen gewinnen können. Neben der Möglichkeit, über die Schulleitung Entlastungsstunden zu beantragen, stellte er Förderprogramme wie „Demokratie Leben“ (nächste Förderphase ab 2029), den Kinder- und Jugendhilfeplan des Bundes (erfordert Kooperationsverträge mit zivilgesellschaftlichen Trägern) und das Programm „Aktion Mensch – Kinder und Jugendliche stärken“ vor. Auch Sparkassen-Stiftungen sowie Quartiersgelder und Mittel der Bezirksvertretungen wurden als Finanzierungsmöglichkeiten genannt. Eine Teilnehmerin ergänzte, dass auch Mittel im Rahmen von Schutzkonzepten genutzt werden könnten. Gleichzeitig wurden im Plenum auch Herausforderungen benannt: Gerade die Aussicht auf Entlastungsstunden wurde von einigen Lehrkräften kritisch eingeschätzt – oft sei unklar, ob diese tatsächlich spürbare Entlastung bringen. Im Projekt haben wir wiederholt die Erfahrung gemacht, dass sich vor allem da Möglichkeiten auftun können, wo Schulleitungen hinter der Idee stehen.

Im Anschluss wurden die Ergebnisse von Gruppenarbeiten zusammengetragen. Zur Frage, mit welchen Argumenten die eigene Schulleitung von der Gewährung von Entlastungsstunden überzeugt werden könnte, zeigte sich zunächst, dass viele Schulleitungen an den teilnehmenden Schulen bereits offen für die Unterstützung der Präventionsarbeit sind. Dennoch brauche es häufig überzeugende Argumente, um auch das Kollegium oder die Schulaufsicht mit ins Boot zu holen. Als stärkste Argumente wurden genannt, dass durch den Aufbau klarer Präventionsstrukturen möglichen negativen Folgen – etwa einem schlechten Image bei bekannt gewordenen Radikalisierungsfällen – proaktiv vorgebeugt werden könne. Zudem betonte die Gruppe, dass eine gut implementierte Clearing-Struktur langfristig nicht nur das Kollegium, sondern auch die Schulleitung selbst entlasten könne. Hilfreich könne außerdem sein, mit belastbaren Zahlen und Statistiken zu Vorfällen an deutschen Schulen zu arbeiten, ohne dabei zu dramatisieren. Auch eine Befragung von Eltern und die Erfassung ihrer Perspektiven könnten Argumente für die Notwendigkeit zusätzlicher Ressourcen liefern.

In der Auseinandersetzung mit der Frage, wie außerschulische Akteur:innen produktiv in das Clearing-Verfahren eingebunden werden können, wurden verschiedene Ansätze entwickelt. Genannt wurden regelmäßige Schulungen durch Präventionsakteur:innen wie beispielsweise die Polizei, aber auch eine fallbezogene Unterstützung bei konkreten Verfahren. Als ideal wurde eingeschätzt, wenn bei entsprechender Finanzierung sogar eine eigene Koordinationskraft an der Schule eingestellt werden könnte. Alternativ könnten auch ein oder zwei Personen aus dem Kollegium diese Rolle übernehmen, wenn ihnen hierfür Entlastungsstunden zur Verfügung gestellt würden.

Auch die Einbindung von Schüler:innen in die schulische Präventionsarbeit wurde als potenzielle Ressource diskutiert. Dabei wurde betont, dass Schüler:innen zwar nicht in konkrete Interventionsprozesse eingebunden werden sollten, wohl aber in präventive Strukturen. Möglich sei es etwa, interessierte Schüler:innen zu Multiplikator:innen auszubilden, die Wissen und Haltungen in die Schüler:innenschaft tragen und so einen Beitrag zur Sensibilisierung leisten. Als Vorbild könnte hier das Konzept der Streitschlichter:innen dienen. Denkbar seien auch Projekte wie ein von Schüler:innen betriebener Instagram-Kanal, wobei hier auf Datenschutzfragen geachtet werden müsse. Gleichzeitig gab es auch kritische Stimmen, die davor warnten, Schüler:innen zu sehr in Verantwortung zu bringen, um sie nicht in Loyalitätskonflikte zu bringen.

Eine vierte Gruppe beschäftigte sich mit der Frage, wie schulische Strukturen selbst so gestaltet werden können, dass sie Lehrkräfte zeitlich entlasten und Raum für Präventionsarbeit schaffen. Angeregt wurde beispielsweise, thematisch verwandte Fächer – beispielsweise Erdkunde und Politik – zeitweise zusammenzulegen, um durch Synergien Freiräume für andere Inhalte – etwa Demokratiebildung – zu schaffen. Auch eine stärkere Beteiligung von Schüler:innen an schulischen Prozessen könne helfen, Verantwortlichkeiten besser zu verteilen. Hinsichtlich der Digitalisierung zeigte sich ein gemischtes Bild: Während einige Möglichkeiten wie Lernbüros zur eigenständigen Arbeit von Schüler:innen Chancen eröffnen, wurde zugleich darauf hingewiesen, dass solche Konzepte in der Praxis auch zusätzliche Belastungen erzeugen können. Deutlich wurde, dass bestehende Schulstrukturen mit ihren traditionellen Vorstellungen von Unterricht oft schwer zu verändern sind und dass es hierfür einer bewussten, schrittweisen Auseinandersetzung im Kollegium bedarf.

Der Workshop rund um Ressourcen verdeutlichte insgesamt, dass die erfolgreiche Implementierung des Clearing-Ansatzes in hohem Maß von der Verfügbarkeit passender Ressourcen abhängt. Gleichzeitig zeigte sich, dass sowohl im schulischen Umfeld als auch in Kooperation mit externen Partner:innen zahlreiche kreative Ansätze bestehen, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Entscheidend bleibt eine kontinuierliche, gemeinsame Weiterarbeit an diesen Themen – sowohl innerhalb der Schulen als auch im Netzwerk.

Zeit für Konzeptarbeit

Nach der Pause und dem Check-In ging es weiter mit der „Weiterentwicklung schulischer Radikalisierungspräventionskonzepte“ der Teilnehmenden. Im stressigen Schulalltag fehlt schulischem Personal oft die Zeit, um sich gründlich und konzentriert mit der Erstellung eines Radikalisierungspräventionskonzeptes zu befassen. An Modul vier hatten die Tandems nun die Möglichkeit dazu. Projektleiter el-Naggar bat die Teams darum während der Konzeptarbeit folgende Punkte auf ihrem bisherigen Weg der Implementierung schulischer Radikalisierungspräventionsstrukturen festzuhalten:

  • Mindestens einen Erfolg (z.B. die Erstellung einer Rohfassung des Konzeptes, das Bekanntmachen des Clearingverfahrens im Kollegium);
  • Mindestens eine aktuelle Herausforderung (z.B. Widerstände im Kollegium gegenüber dem Verfahren, ein enger Stundenplan erschwert regelmäßige Treffen im Clearingteam).

Nach der Gruppenphase stellten die Schultandems ihre Ergebnisse im Plenum vor. Die Übung zeigte, dass sich Erfolge und Herausforderung zwar je nach Schule mitunter stark unterschieden, es aber auch eine ganze Reihe Gemeinsamkeiten zwischen den Schultandems gab. Ein Überblick:

Erfolge:

  • Externe Akteur:innen konnten für die Mitarbeit im Clearingverfahren gewonnen werden;
  • Die Teilnahme an der CleaRNetworking-Fortbildung an sich;
  • Es gibt eine allgemeine E-Mailadresse für die gesamte Schule, an die sich alle wenden können;
  • Die Hausmeister:innen an einer Schule konnten als weitere potenzielle Hinweisgeber:innen gewonnen werden;
  • Eine digitale Beteiligungsplattform für alle Schüler:innen wurde an einer teilnehmenden Schule implementiert.

Herausforderungen:

  • Zeit finden, um am Konzept zu arbeiten;
  • Das Clearingverfahren im Kollegium bekannt machen – welche Veranstaltungen eignen sich hierfür am besten?
  • Definitorisches: Worüber sprechen wir eigentlich, wenn wir von Prävention/Radikalisierung sprechen?

Aus Sicht des CleaRNetworking handelt es sich bei den Punkten der Tandems um „typische“ Erfolge und Herausforderungen, wie wir sie schon in den vorangegangenen CleaRNetworking-Jahrgängen häufig beobachten konnten. Die Implementierung von Strukturen schulischer Radikalisierungsprävention ist ein langwieriger Prozess und erfordert von allen Beteiligten einen langen Atem. Dies gilt insbesondere für die Erstellung des Radikalisierungspräventionskonzeptes. Hier werden schon grundlegende Weichen gestellt, auf denen die weitere Konzeptarbeit aufbaut.

Sieben Problembereiche: Viele Lösungen

Zum Abschluss des ersten Fortbildungstages holte Junus el-Naggar die Schultandems für eine letzte Gruppenarbeit zusammen. In dieser ging es darum Lösungen für sieben Problembereiche zu finden, die schulischem Personal auf dem Weg der Implementierung schulischer Radikalisierungsprävention immer wieder begegnen. Das CleaRNetworking-Projektteam hatte die sieben Problembereiche zuvor auf sieben Flipchartwänden notiert und diese überall im Seminarraum verteilt. Dieses mal ordneten sich die Teilnehmenden selbst dem Problembereich zu, an dem sie die nächsten 90 Minuten arbeiten wollten. Der nachfolgende Abschnitt fasst die Problembereiche und die Lösungsvorschläge der Teilnehmenden zusammen:

  1. Fehlende Zeit / Ressourcen (Konzeptarbeit, Koordination, Gelder, Entlastung)
  • Entlastungsstunden einholen;
  • Schüler:innen in die Präventionsarbeit einbinden;
  • Externe Akteur:innen in die Präventionsarbeit einbinden, z.B. Life teach us;
  • Fördermittel gewinnen;
  • Clearing in bestehende Strukturen integrieren (z. B. Krisenteam);
  • Zeitfenster in pädagogischen Tagen oder Konferenzen nutzen;
  1. Verstetigung der Struktur / Langfristigkeit sichern -Konzept erstellen
    • Ein verbindliches Präventionskonzept erstellen;
    • Regelmäßige Treffen des Clearingteams;
    • Zuständigkeiten klar verankern, Unabhängigkeit von Einzelpersonen;
    • Erfolgserlebnisse der Präventionsarbeit sichtbar machen;
  1. Aufbau von Clearing-Team und Routine
  • Schulinterne Ressouccen & Kompetenzen sichtbar machen;
  • Zuständigkeiten innerhalb des Clearingteams klar verteilen;
  • Ablaufpläne bzgl. des Clearings erstellen;
  1. Kollegium hat teils radikale Haltungen / mangelndes Problembewusstsein
  • Fortbildungen entwickeln;
  • Austausch-Räume für Probleme und Lösungen schaffen;
  • Beschwerde-Strukturen für Schüler:innen und schulisches Personal schaffen;
  1. Mangelnde Expertise/Sicherheit bei ausgebildetem Personal (Social Media, Einschätzung Verhalten)
  • Unsicherheiten schulischen Personals klar benennen;
  • Teilnahme an den CleaRNetworking-Angeboten
  1. Kollegium meldet keine Fälle / Verfahren ist nicht bekannt
  • Ansprechpersonen bekannt machen und halten (z.B. Konferenz, Aushänge)
  • Hemmschwelle senken (auch kleine „Fälle“)
  • Vertrauen aufbauen, Beziehungsarbeit zum Kollegium
  1. Fehlende externe Partner:innen für Fallarbeit
  • Netzwerk-Ressourcen sammeln
  • CleaRNetwork für Erfahrungswerte nutzen
  • Projektteam kontaktieren

 

Multiprofessionelle Beziehungsarbeit

Der zweite Tag der Fortbildung begann mit einer Übung in multiprofessioneller Beziehungsarbeit. In Clearingteams kommen häufig Personen aus diversen Disziplinen, Altersgruppen, Geschlechtern und mit ihren individuellen sozialen Umfeldern sowie Netzwerken zusammen. Gleiches gilt für die Schüler:innen, die in Clearingverfahren präventiv behandelt werden. Auch sie zeichnen sich durch eine immer vielfältiger werdende Heterogenität aus. Schulisches Personal (nicht nur in der Radikalisierungsprävention) tut also gut daran, regelmäßig in die Reflexion einzusteigen und das eigene soziale Umfeld in den Blick zu nehmen, z.B. um

  • Hilfsquellen und Unterstützungsmöglichkeiten aufspüren;
  • Herausforderungen & Entwicklungsmöglichkeiten identifizieren;

Zu diesem Zweck hatte das CleaRNetworking-Projektteam die Methode der VIP-Karte mitgebracht [1]. Die VIP-Karte ist eine Methode, um das eigene soziale Umfeld bzw. die eigenen sozialen Netzwerke zu visualisieren und daraus Handlungsmöglichkeiten für künftiges (präventives Handeln) abzuleiten. Im Zentrum der Karte steht die erstellende Person, darum gruppieren sich je nach Handlungsfeld verschiedene Felder (z.B. Familie, religiöse Akteur:innen, Sport etc.). Für diese Übung hatte sich das CleaRNetworking-Team folgende Bereiche überlegt:

  • Sicherheit (z.B. Polizeibeamte:r)
  • Sport (z.B. lokaler Box-Verein)
  • Religiöse Akteur:innen (z.B. Kirchengemeinde)
  • Beratung (z.B. Jugendamt)
  • Schule (z.B. Schulleitung)
  • Kreatives (z.B. Musikschule)

Anschließend bat el-Naggar die Schultandems darum, für jedes Tandemmitglied je eine Karte zu erstellen und darauf die sozialen Beziehungen einzuzeichnen, die diese in den sechs Bereichen hätten. Im Anschluss an die Erstellung fanden sich die Schultandems zu vier größeren Gruppen zusammen, in denen die Teilnehmenden ihre individuellen Karten vorstellten. Ob sie ihre Karten vorstellen wollten oder nicht, stand den Teilnehmenden dabei offen. Die einzelnen Karten werden hier nicht vorgestellt, um Rückschlüsse auf die Ersteller:innen zu vermeiden.

Kollegiale Fallberatung

Anschließend fand eine kollegiale Fallberatung unter den anwesenden Lehrkräften und Schulsozialarbeiter:innen statt. Eine Fallgeberin brachte den Fall einer Auszubildenden ein, deren Verhalten im schulischen Alltag sie zunehmend forderte. Die Beratung wurde durch einen Moderator strukturiert, die den Ablauf koordinierte, sowie durch eine Sprecherin begleitet, welche die Beiträge der Gruppe systematisch bündelte.

Die Fallgeberin schilderte zunächst die Situation: Es handelte sich um eine etwa 20-jährige Auszubildende im ersten Jahr ihrer Erzieherinnenausbildung, die zuvor bereits eine Ausbildung zur Kinderpflegerin abgeschlossen hatte. Im Unterricht zeigte sie sich häufig unbeteiligt, führte lautstarke Gespräche mit zwei bis drei Freundinnen, reagierte kaum auf Ermahnungen und war oft mit dem Handy beschäftigt. Auffällig war auch ihr Verhalten gegenüber Mitschüler:innen: Wiederholt kam es zu abwertenden Kommentaren, die im Nachgang als vermeintliche „Witze“ relativiert wurden. Gleichzeitig trat die Auszubildende in den Pausen gegenüber der Fallgeberin freundlich und zugänglich auf. Ein besonderer Aspekt, der bei der Fallgeberin für Irritation sorgte, war die Erzählung der jungen Frau, sie bewege sich im Umfeld von Ultras eines Fußballvereins und sei von deren gewaltbereitem Auftreten fasziniert. Zudem gab es Hinweise auf eine leichte Tendenz in Richtung rechter Szenen, was innerhalb der Klasse bereits zu Spannungen geführt hatte.

Im Verlauf der Beratung stellte die Fallgeberin deutlich heraus, dass sie sich zunehmend emotional belastet fühlte. Trotz mehrfacher Versuche, über persönliche Gespräche und kreative Unterrichtsansätze Zugang zu finden, blieb der Kontakt im Unterricht schwierig. Die Fallgeberin formulierte daher als Auftrag an die Gruppe, Ideen zu entwickeln, wie sie den Kontakt zur Auszubildenden verbessern könne, ohne in Stigmatisierung zu verfallen, und wie sie insbesondere auf einer bevorstehenden Klassenfahrt eine konstruktive Beziehungsgestaltung unterstützen könne.

In der Phase des Perspektivwechsels versuchten die Teilnehmenden, sich in die junge Frau hineinzuversetzen. Aus dieser Sicht wurde deutlich, dass die Zugehörigkeit zur Ultraszene möglicherweise als Möglichkeit empfunden werde, klare Strukturen und Zugehörigkeit zu erleben – im Gegensatz zum eher diffusen sozialen Gefüge innerhalb der Klasse. Zudem könne das provokante Verhalten Ausdruck eines Bedürfnisses nach Kontrolle und Dominanz sein. Die Gruppe formulierte auch mögliche Perspektiven von Mitschüler:innen, die sich durch das Verhalten der jungen Frau zunehmend zurückzogen und sich weniger gesehen fühlen könnten.

In der Lösungsphase entwickelten die Teilnehmenden eine Vielzahl von Vorschlägen. Besonders betont wurde die Notwendigkeit, mit einer Kollegin oder einem Kollegen im schulischen Umfeld regelmäßig zu reflektieren, um die eigenen Emotionen zu sortieren. Ebenso wurde empfohlen, gezielt positive Eigenschaften und Stärken der jungen Frau wahrzunehmen, beispielsweise ihre sehr gute Leistung in einem Praktikum, um darauf im Gespräch aufzubauen. Die Möglichkeit, während einer anstehenden Klassenfahrt informelle Gespräche im kleinen Rahmen zu führen, wurde als wertvoll eingeschätzt. Auch der Versuch, die Auszubildende aktiv in organisatorische Aufgaben einzubinden, etwa als Assistentin bei Aktivitäten, wurde als Ansatz formuliert, um ihr Verantwortung zu übertragen und ihr Zugehörigkeit zur Gruppe zu vermitteln.

Darüber hinaus wurde empfohlen, das Thema Ultras – sofern es sich anbietet – in einen pädagogischen Kontext einzubetten, beispielsweise durch Kontaktaufnahme mit einem Fanprojekt oder Fanbeauftragten eines Fußballvereins, um differenzierte Einblicke in Fankulturen zu ermöglichen. Ein weiterer wichtiger Punkt war die Selbstreflexion der Fallgeberin in Bezug auf eigene Triggerpunkte und emotionale Reaktionen. Ziel sei es, die professionelle Distanz zu wahren, ohne die persönliche Beziehungsebene zu verlieren.

Die Fallgeberin entschied sich im Anschluss dazu, insbesondere folgende Ansätze aufzugreifen: Sie möchte die informellen Gespräche auf der anstehenden Klassenfahrt nutzen, Perspektivwechsel im Dialog anregen und Team-Building-Maßnahmen in der Klasse initiieren. Zudem betonte sie die Bedeutung der eigenen Selbstreflexion, um herauszufinden, welche Dynamiken sie persönlich an der Situation so stark fordern.

Die kollegiale Fallberatung zeigte eindrücklich, wie wertvoll der gemeinsame Austausch im Kollegium ist, um belastende Situationen im pädagogischen Alltag zu reflektieren, Strategien zu entwickeln und sich gegenseitig in der professionellen Haltung zu stärken.

Vortrag: Lifeteachus

Anschließend stellte sich die Bildungsorganisation LifeTeachUs vor. Julie Wiegand, Growth & Partnerships Manager bei LifeTeachUs, war digital zugeschaltet und gab einen Einblick in das Konzept der Organisation. Für das Projekt CleaRNetworking bietet LifeTeachUs einen potenziell vielversprechenden Baustein, um schulisches Personal zeitlich zu entlasten, Freiräume für Schulentwicklung zu schaffen und insbesondere auch Ressourcen für präventive Arbeit im Bereich Radikalisierungsprävention bereitzustellen. Gerade für Prozesse wie die Implementierung des Clearing-Ansatzes können solche Freiräume eine wichtige Unterstützung sein.

LifeTeachUs ist eine spenden- und stiftungsfinanzierte, gemeinnützige Bildungsorganisation, die in den vergangenen drei Jahren ehrenamtlich aufgebaut wurde. Fünf Personen arbeiten mittlerweile hauptamtlich daran, Schulen mit sogenannten „Life Lessons“ zu unterstützen. Ausgangspunkt der Arbeit von LifeTeachUs ist die hohe Belastung von Lehrkräften und der strukturelle Unterrichtsausfall an deutschen Schulen – etwa eine Million Stunden pro Woche –, verbunden mit einer ungleichen Chancenverteilung für Schüler:innen. Zudem fehlt es vielen Schulen an der Möglichkeit, externes Praxiswissen in den Unterricht einzubinden.

Hier setzt LifeTeachUs an: Über eine eigens entwickelte App können Schulen sogenannte Life Teacher anfragen – engagierte Ehrenamtliche aus verschiedenen Berufs- und Lebenswelten, die ihr Wissen und ihre Erfahrungen in Schulen einbringen möchten. Diese Life Lessons können genutzt werden, um ausgefallene Stunden zu füllen, Projekttage zu gestalten oder gezielt den Unterricht in bestimmten Fächern zu ergänzen, etwa durch den Einsatz von Native Speakern im Fremdsprachenunterricht. Auch für Zeitfenster, in denen Lehrkräfte an Fortbildungen teilnehmen möchten, können Life Lessons eine Lösung sein.

Die Themen der Life Lessons sind vielfältig und orientieren sich an den Bedürfnissen der Schulen. Mögliche Bereiche sind unter anderem „Soziales“ (zum Beispiel Social Media oder Zeitzeugengespräche), „Globales“ (wie Nachhaltigkeit oder internationale Politik), „Gesundheit“ (physisch, psychisch oder Sport), „Leben“ (beispielsweise Steuererklärung, Mietrecht oder Arbeitsverträge) oder „Karriere“ (von Berufsorientierung über Bewerbungstraining bis hin zu Studiengangsvorstellungen). Gerade für Schulen im ländlichen Raum ist der digitale Zugang eine Möglichkeit, auch außerhalb von Ballungsräumen externe Expertise ins Klassenzimmer zu holen, wenngleich die Zahl der verfügbaren Life Teacher in Städten momentan höher ist.

Ein konkreter Vorteil für Schulen und Lehrkräfte: Während eine Life Lesson läuft, kann beispielsweise eine Lehrkraft im Raum Arbeiten korrigieren oder die Schulsozialarbeit kann in unmittelbarer Nähe arbeiten. Das ermöglicht es, beispielsweise parallel ein Präventionsteam zusammenkommen zu lassen oder andere schulische Entwicklungsprozesse voranzubringen – ohne dass dabei die Betreuung der Klasse vernachlässigt wird. Die Life Lessons sollten jedoch nicht mit Vertretungsstunden verwechselt werden, denn sie übernehmen nicht die curricularen Unterrichtsinhalte.

Eine weitere Voraussetzung: Es muss immer eine Aufsichtsperson in erreichbarer Nähe sein, auch wenn diese nicht zwingend im selben Raum sein muss. Das kann eine Lehrkraft sein, ein:e Schulsozialarbeiter:in oder auch ein:e Freiwillige:r im Sozialen Jahr (FSJ). Die Aufsichtspflicht wird also nicht von den Life Teachern übernommen.

Die Life Teacher selbst sind ehrenamtlich tätig. Um tätig werden zu können, registrieren sie sich über die App, legen ein erweitertes Führungszeugnis vor, unterschreiben eine Selbstverpflichtungserklärung (unter anderem zum Verzicht auf antidemokratische Inhalte) und absolvieren digitale Schulungsinhalte zur Vorbereitung. Über einen digitalen Campus können sich die Ehrenamtlichen kontinuierlich weiterqualifizieren. Schulen haben darüber hinaus die Möglichkeit, Eltern über Elternabende oder Schulveranstaltungen für das Ehrenamt als Life Teacher zu gewinnen.

Mit aktuell über 150 Partnerschulen, mehr als 8.500 registrierten Life Teachern und über 650 eingebundenen Lehrkräften hat sich LifeTeachUs in kurzer Zeit als ergänzendes Angebot im Bildungsbereich etabliert. Für Lehrkräfte und Schulsozialarbeit ist das Konzept nicht nur eine pragmatische Unterstützung im Schulalltag, sondern auch eine Möglichkeit, Schüler:innen zusätzliche Impulse aus der Lebens- und Berufswelt zu geben und somit Bildungs- und Chancengerechtigkeit zu fördern.

Die Organisation finanziert sich vollständig aus Spenden und Stiftungsgeldern. Die Nutzung des Angebots ist für Schulen kostenfrei. Ein besonderer Vorteil: Bei der Anfrage kann ein Zeitraum eingestellt werden, bis wann eine Rückmeldung gewünscht ist – und je länger der Vorlauf, desto höher die Wahrscheinlichkeit, einen passenden Life Teacher zu finden. Was Fragen nach Datenschutz angeht, werden ausschließlich die Daten der anfragenden Lehrkräfte verarbeitet, Schüler:innendaten verbleiben bei der Schule.

LifeTeachUs kann eine sinnvolle Entlastung für schulisches Personal darstellen – insbesondere in Zeiten, in denen der Aufbau nachhaltiger Strukturen zur Radikalisierungsprävention zusätzliche Aufmerksamkeit und zeitliche Ressourcen erfordert. Schulen können mit Hilfe von LifeTeachUs organisatorische Spielräume schaffen, ohne dass dabei Bildungsqualität verloren geht. Gleichzeitig eröffnet das Konzept den Schüler:innen neue Perspektiven auf Lebenswege, Berufsbiografien und gesellschaftliche Themen – und leistet so auch einen Beitrag zu Resilienzbildung und Demokratieförderung.

Simulation eines Clearingverfahrens

Letzter regulärer Programmpunkt des CleaRNetworking-Moduls 4 war eine umfassende Simulation der einzelnen Schritte eines Clearing-Verfahrens. Ziel dieser Übung war es, die einzelnen Schritte eines idealtypischen Clearing-Prozesses praxisnah und möglichst realitätsgetreu nachzuvollziehen und dabei insbesondere die Rollenverteilung, Abläufe und möglichen Herausforderungen im Team zu erproben.

Die vier Teilnehmenden des Rollenspiels hatten die Aufgabe, möglichst authentisch und realistisch in die Rolle ihrer jeweiligen Figur zu schlüpfen. Sie waren eingeladen, auch unkonventionelle oder kritische Fragen zu stellen, zusätzliche Akteur:innen hinzuzunehmen oder – falls notwendig – auch Rollen aus dem Verfahren herauszunehmen. Das Plenum begleitete die Simulation aufmerksam und hatte die Aufgabe, insbesondere auf die Realitätsnähe des Verfahrens, gelungene Elemente sowie mögliche Verbesserungen zu achten.

Das Clearing-Verfahren gliedert sich in sieben Schritte: (1) Vorrecherche, (2) Zusammenkommen des Clearing-Teams, (3) vertiefte Recherche, (4) Beschluss von Maßnahmen, (5) Durchführung der Maßnahmen, (6) Evaluation der Maßnahmen sowie schließlich (7) die Entscheidung über eine Weiterführung oder den Abschluss des Verfahrens. In der Simulation lag der Fokus auf den Schritten 2 (Zusammenkommen des Clearing-Teams), 4 (Beschluss von Maßnahmen) sowie 6/7 (Evaluation und Abschluss).

Das Clearing-Team in der Simulation bestand aus vier Personen: der Klassenlehrerin des betroffenen Schülers Mirko, der Schulleitung sowie zwei Clearing-Beauftragten. Simuliert wurde zunächst Schritt 2. Die Klassenlehrerin stellte den Fall vor: Mirko, Schüler der 9. Klasse, zeigt zunehmend auffälliges Verhalten. Er zieht sich aus der Klassengemeinschaft zurück, trägt plötzlich ausschließlich schwarze Kleidung, spielt im Klassenchat das Lied „Erika“ ab und verbreitet rechtsextreme und antisemitische Inhalte. Zudem ist er stark in der Gaming-Szene aktiv, sein einziger Freund an der Schule ist Tibor. Erste Vorrecherchen hatten bereits ergeben, dass Mirko kürzlich in eine Prügelei verwickelt war, familiäre Unterstützung nur begrenzt vorhanden ist und die Beziehung zur Schule brüchig wirkt. Auffällig war auch, dass Mirko immer wieder den Clearing-Beauftragten 1 auf dem Flur grüßte – ein möglicher Anknüpfungspunkt über das gemeinsame Interesse an Videospielen.

Im Clearing-Team wurden zunächst organisatorische Fragen bestimmt. Etwa, dass Entscheidungen im Team einstimmig zu treffen waren, ferner, die Moderation und Dokumentation der einzelnen Sitzungen. Später wurde auch eine klare Aufgabenverteilung für die anstehenden tiefergehenden Recherchen getroffen, die allen Beteiligten Orientierung und Struktur gab. Während sich einer der Clearing-Beauftragten auf familiäre Hintergründe konzentrierte, recherchierte die andere möglichen rechtsextremen Bezüge im Verhalten Mirkos. Die Klassenlehrerin wiederum sammelte weitere Informationen über Hobbys und Interessen.

Nach der Simulation des Schrittes 2 folgte eine gemeinsame Reflexion im Plenum. Positiv hervorgehoben wurden die klare Aufgabenstruktur, die offene Kommunikation im Team sowie der wertschätzende Umgang bei unterschiedlichen Einschätzungen. Diskutiert wurde auch die Rolle der Schulleitung im Verfahren – sinnvoll für Transparenz, aber nicht zwingend erforderlich für jede Sitzung.

In der Simulation des Schrittes 4 wurde dann zunächst die Recherche ausgewertet. Es entstand ein differenzierteres Bild von Mirko: Er ist kreativ, rappt über gesellschaftliche Themen, findet kaum Anschluss an seine neue Klasse und sucht Anerkennung über Online-Foren im Gaming-Bereich. Auffällig war sein Bezug zu rechtsextremen Symbolen, darunter Kleidungsmarken mit eindeutigen Assoziationen sowie die Nutzung nationalsozialistischer Propagandabilder. Eine lokale Beratungsstelle, die zwischenzeitlich hinzugezogen worden war, bestätigte diese Einschätzung. Familiär zeigte sich eine schwierige Situation: wenig Geborgenheit, hohe Verantwortung zu Hause, kaum präsente Mutter, ein abwesender Vater – und eine ältere Schwester, die zwar schon ausgezogen war, sich aber in einer demokratischen Partei engagiert.

Das Clearing-Team einigte sich auf zentrale Ziele des Verfahrens: Mirko sollte aufgefangen werden, eine berufliche Perspektive erhalten und wieder soziale Anschlussmöglichkeiten in der Schule finden. Diese drei Ziele sollten über allen folgenden Schritten schweben. Aus ihnen entwickelten sich verschiedene Maßnahmenideen – von der Integration in Sport-AGs und die Informatik-AG über Gespräche mit der Schwester und der Mutter bis hin zu Berufsorientierung und musikalischer Förderung.

Mit Ende des Schrittes 4 wurde die Simulation erneut unterbrochen, um Raum für Feedback zu schaffen. Lob erhielten insbesondere die ruhige, souveräne Arbeitsweise des Teams sowie die realistische, lebendige Darstellung. Angemerkt wurde, dass möglicherweise zu viele Maßnahmen gesammelt wurden, was jedoch in dieser Phase sinnvoll sei – schließlich könne noch priorisiert und konkretisiert werden.

Anstelle der praktischen Umsetzung der Maßnahmen (Schritt 5) wurde anschließend direkt die Evaluation simuliert (Schritte 6) und das Verfahren wurde zugleich abgeschlossen (Schritt 7). Hier zeigte sich ein gemischtes Bild: Tibor, der Freund von Mirko, hatte das problematische Forum verlassen, Mirko selbst war zwischenzeitlich dort sogar Untergruppenleiter geworden, schließlich jedoch ebenfalls ausgestiegen. Gleichzeitig wurden Fortschritte sichtbar: Mirko nahm wieder am Handball teil, zeigte Anschluss an die Klasse, und die Gespräche hatten erste positive Wirkung gezeigt. Insgesamt erwiesen sich die Maßnahmen des Teams als überwiegend erfolgreich. Das Clearing-Verfahren konnte erfolgreich abgeschlossen werden.

Auch zum Abschluss der Simulation gab es umfangreiche Rückmeldungen aus dem Plenum. Besonders positiv wurde gesehen, dass viele der im Clearing-Ansatz vermittelten Haltungen und Methoden Anwendung fanden, ohne dass danach explizit gefragt wurde: Systematisches Vorgehen, Orientierung an den Bedürfnissen des Schülers, ein nicht eskalierendes, pädagogisches Vorgehen, multiprofessionelle Zusammenarbeit und die konsequente Nutzung des Mehraugen-Prinzips. Gleichzeitig wurde deutlich, wie herausfordernd es sein kann, die Ressourcen von Schüler:innen zu erkennen – gerade dann, wenn sie nicht sofort offensichtlich sind. Hier wurde unterstrichen, dass es eine zentrale Aufgabe im Clearing-Prozess ist, genau diese Ressourcen zu finden und mit ihnen zu arbeiten. Das macht die Qualität der pädagogischen Arbeit mit dem Clearing-Ansatz aus.

Insgesamt bot die Simulation einen praxisnahen und lebendigen Einblick in die Arbeitsweise eines Clearing-Teams und machte deutlich, wie systematisches Vorgehen und multiprofessionelle Zusammenarbeit auch in schwierigen Fällen wirksam zur Präventionsarbeit an Schulen beitragen können.

 

Literatur:

[1] Herwig-Lempp, Johannes (20027):  Ressourcen im Umfeld – Die VIP-Karte. Online verfügbar unter: https://www.herwig-lempp.de/daten/veroeffentlichungen/0701vip-karteJHL.pdf.