Ein fundierter Überblick über die verschiedenen Phänomenbereiche der Prävention ist für schulisches Personal unerlässlich, um das Clearingverfahren kompetent durchführen zu können. Das Modul 5 im CleaRNetworking-Jahrgang fand am 12.06.24 und 13.06.24 in Essen statt und hatte zum Ziel, dem teilnehmenden schulischen Personal diesen fundierten Überblick zu vermitteln. Der Veranstaltungsort war wieder einmal das Hotel Essener Hof, zentral gelegen am Hauptbahnhof der Ruhrmetropole. Das Clearing-Verfahren zeichnet sich dadurch aus, dass es bei(vermeintlichen) Hinweise auf eine potentielle Radikalisierung ganz unterschiedlicher Art anwendbar ist. Darin lag eine der zentralen Erkenntnisse dieses Moduls. Aufbauend auf der Rückmeldung aus den teilnehmenden Schulen, standen der Nahostkonflikt an deutschen Schulen, die Rolle muslimischer Influencer:innen und Rechtsextremismus im schulischen Raum im Fokus dieses Moduls. Damit beschäftigten sich die angehenden Clearing-Beauftragten mit drei besonders konfliktbeladenen Feldern, in denen sie Handlungssicherheit erlangen sollten.
Tag 1 – Einführung
Der erste Tag des Moduls stand im Fokus der Intersektion zwischen Antisemitismus und Rassismus am Beispiel des Dauerkonfliktes im Nahen Osten sowie der phänomenübergreifenden Radikalisierungsprävention. Zur Einstimmung bat unser Projektleiter Dr. Junus el-Naggar die Teilnehmer:innen, sich zu den verschiedenen Themen des Weiterbildungsmoduls im Seminarraum zu positionieren je nachdem, wie sicher sie sich in den jeweiligen Phänomenbereichen fühlen. Während sich die Teilnehmer:innen zum Thema Rechtsextremismus eine relativ hohe Wissensbasis bescheinigten, sah das Groß den pädagogischen Umgang mit dem Nahostkonflikt und Online-Predigern als Themenbereiche an, in denen sie Wissen und Handlungskompetenz noch deutlich vertiefen wollten.
Anschließend stellte Sören Sponick aus dem CleaRNetworking-Team zwei Dokumente [1] vor, die schulisches Personal dabei unterstützen sollen, das Clearingverfahren an ihren Schulen zu implementieren.
– Eine „Vorlage eines Aushangs über das Clearingverfahren für das Kollegium“ [2] und einen
– „Leitfaden zur Unterstützung bei der Implementierung schulischer Radikalisierungsprävention sowie der praktischen Arbeit mit dem Clearingverfahren“ [3]
Das Projektteam erarbeitet bedarfsorientiert unterstützende Dokumente, die den Projektschulen auf dem Weg ihrer Implementierung schulischer Strukturen und in der praktischen Arbeit mit dem Clearing-Verfahren helfen sollen. Das Projektteam ist offen für Kontaktanfragen, um in diesem Zusammenhang auf schulindividuelle Bedarfe einzugehen und neue Unterstützungsangebote zu entwickeln.
Antisemitismus, Rassismus und der nahe Osten
Gunnar Meyer vom Verein „Bildungsbausteine e.V.“ stellte seinen Workshop unter das Motto „Antisemitismus, Rassismus und der Nahe Osten“. Er vertrat seine erkrankte Kollegin Susanna Harms. Sein Bezugspunkt lag auf den Perspektiven, die in Deutschland auf den Konflikt geworfen werden. Was sagt die Verhandlung des Nahkostkonfliktes in Deutschland über den hiesigen Diskurs zu Verschränkungen zwischen Antisemitismus und Rassismus aus und welche Schlüsse können daraus für schulische Radikalisierungsprävention gezogen werden?
Er wolle ein Bewusstsein für ein multiperspektivisches Verständnis schaffen, so Meyer. Zugleich aber auch dafür sensibilisieren, in welchen Konstellationen Antisemitismus und Rassismus in diesem Dauerkonflikt aufträten. Drei Thesen hielt er diesbezüglich für zentral:
- Der Konflikt hat eine lange Geschichte und Gegenwart, über die wir als schulisches Personal nicht alles wissen müssen;
- Der Konflikt lässt sich auf (mindestens) zwei Ebenen diskutieren: 1. Das Konfliktgeschehen selbst; 2. Dessen Rezeption in Deutschland;
- Es gibt eine Perspektivenpluralität auf den Konflikt, innerhalb der deutschen wie auch der israelischen und palästinensischen Gesellschaft. Diese gilt es zu anzuerkennen, da keine für sich absolute Gültigkeit reklamieren kann;
Wie Menschen den Konflikt wahrnähmen, sei immer von eigenen Prägungen, Interessen und Motiven beeinflusst. So seien nationalstaatliche Politik und gesellschaftliche Einstellungen in Deutschland, in Israel und in Palästina nicht ohne den Hintergrund der Shoah oder der Nakba zu denken. Dazu kämen weitere relevante Faktoren wie etwa Erfahrungen von (antimuslimischem) Rassismus und Migrationsbewegungen. Nicht selten kämen auch in schulischen Debatten (unbewusste) antisemitische und/oder rassistische Ressentiments und Projektionen zum Tragen, etwa wenn „Israel“ als Chiffre für Schuldabwehr genutzt werde, um sich in Deutschland nicht mit der eigenen beschädigten Vergangenheit und (kollektiven) Verantwortung in Bezug auf die Shohah zu beschäftigten;
wenn Antisemitismus auf die „Anderen“ (z.B. Muslim:innen) projiziert werde oder Muslim:innen unter den Generalverdacht von Antisemitismus gestellt würden.
Für die Diskussion im Klassenzimmer empfahl Meyer den Teilnehmenden eine erforschende, nicht urteilende Haltung und Gesprächsführung mit Schüler:innen, um vereindeutigende und dichotome Aussagen aufzubrechen; also beispielsweise Nachfragen stellen:
- „Warum siehst Du das so?“,
- „Was beschäftigt dich an diesem Konflikt?“,
- „Wie nimmst Du den Konflikt wahr?“.
- Hier gelte es die oftmals unterschätzte Unterscheidung in Sach- und Emotionsebene zu beachten. Schulisches Personal und Schüler:innen diskutierten mitunter – oft unbemerkt – auf verschiedenen Ebenen, was eine Konfliktlösung erschwere. Handlungsleitend bei der Kommunikation des Nahostkonflikts im schulischen Raum sollten dabei die Prinzipien des Beutelsbacher Konsens sein, besonders:
Kontrovers diskutierte Themen in ihrer Kontroversität darstellen
Keine Überwältigung der Schüler:innen mit eigenen Positionen bzw. eigene Position als solche kennzeichnen. Gleichzeitig natürlich Positionierung bei menschenfeindlichen Äußerungen!
In jedem Fall sollte schulisches Personal darauf hinweisen, dass ‚wir‘ in Deutschland den Konflikt nicht lösen könnten.
Die Methode ALARM/ALERT als Mittel der Sichtbarmachung pluraler Perspektiven
Die Methode ALARM/ALERT entstand in vielen Jahren Projekterfahrung bei „Bildungsbausteine e.V.“, so Meyer. Sie soll schulisches Personal und Schüler:innen dabei unterstützen, antisemitische und rassistische Aussagen qualifiziert erkennen, unterscheiden und einordnen zu können. Kriterien zur Unterscheidung (z. B. die 3-D-Regel, IHRA-Definition) böten zwar Hilfestellungen, aber ermöglichten nicht immer eine eindeutige Zuordnung. Aus Projektsicht macht die ALARM/ALERT vor allem aus, dass sie der Komplexität des Nahostkonflikts eher gerecht wird, als die genannten anderen Methoden; und dass sie Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus nicht gänzlich isoliert voneinander betrachten. Nach einer kurzen Vorstellung der Methode übten die Teilnehmer:innen deren Umsetzung in einer Gruppenarbeit mit Beispielaussagen:
Die Formel ALARM bezieht sich auf verschiedene Formen des Antisemitismus, wohingegen ALERT Formen des Rassismus unter die Lupe nimmt. ALARM steht für:
A wie: „Juden weltweit mit Israel gleichsetzen“
L wie: „Alte judenfeindliche Lügen verbreiten“
A wie: „Abwehr der Erinnerung an den Holocaust“
R wie: „Israel von der Landkarte radieren wollen“
M wie: „Israel als besonders mächtig darstellen“
ALERT steht für:
A wie: „Palästinenser:innen als antisemitisch darstellen“
L wie: „Palästinenser:innen für ihr Leid verantwortlich machen“
E wie: „Die Existenz einer palästinensischen Identität absprechen“
R wie: „Palästinenser:innen als Rückständig abwerten“
T wie: „Palästinenser:innen zu Terrorist:innen erklären“
Die Zuordnung von Beispielaussagen zu den jeweiligen Kategorien erwies sich für die Teilnehmer:innen mitunter als schwierig. Besonders, da sich einige Aussagen mehreren Kategorien zugleich zuzuordnen scheinen ließen. Auch hier wurde die Ambiguität dieses schwierigen Themas deutlich. Zudem hatte Meyer einige Zitate mitgebracht, die sich in keine der zehn Kategorien einordnen ließen Die Übung habe nicht den Zweck, zu zeigen, dass gewisse Formen von Antisemitismus oder Rassismus ‚schlimmer‘ seien, als andere, so Meyer. Vielmehr gehe es darum, in Schulunterrichten einen sicheren Diskussionsraum zu schaffen, in dem sich Schüler:innen über dieses komplexe Thema äußern könnten. Schulisches Personal solle nicht nach problematischen Äußerungen suchen, sondern in die Lage versetzt werden, solche Äußerungen zu identifizieren und die jeweilige Problematik adäquat benennen zu können.
Phänomenübergreifende Radikalisierungsprävention
Es folgte eine Einheit zur Sensibilisierung für einen phänomenübergreifenden Blick auf Radikalisierungsprävention. Projektleiter Dr. Junus el-Naggar rief eine Frage auf, die die CleaRNetworking-Weiterbildung wie ein roter Faden durchzieht, nämlich inwiefern sich pädagogisches Vorgehen, Hintergründe und Verstärker mit Blick auf Rechtsextremismus, religiös begründete Radikalisierung und andere Phänomene voneinander (nicht) unterscheiden. Als Einstieg verfolgte die Gruppe den Kurzfilm „Radikal“ [4]. Dieser stellt die Radikalisierung eines Jugendlichen in die drei Phänomenbereiche Links- und Rechtsextremismus sowie in religiös begründete Radikalisierung dar. Es folgte eine Diskussionsrunde, in der die Teilnehmenden über das Gesehene reflektierten. Dem Film gelinge es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der ideologischen Ansprache, Mobilisierung und Einbindung in Gruppenkontexte aufzuzeigen, so ein Teilnehmer. Gleichzeitig werde die besondere Vulnerabilität intersektional benachteiligter Jugendlicher deutlich, ergänzte eine Teilnehmerin. Kritisch gesehen wurde hingegen die vermeintliche Gleichförmigkeit der drei dargestellten Radikalisierungsprozesse. Eine einheitliche Verlaufsform von Radikalisierungsprozessen gäbe es nicht, hob auch Junus el-Naggar hervor.
Anschließend wurde diskutiert, inwiefern sich das pädagogische Vorgehen der Teilnehmenden im Umgang mit den drei im Film skizzierten Fällen als CleaRing-Beauftragte (nicht) unterscheiden würde. Der Ablauf des Clearing-Verfahrens eigne sich für alle Phänomenbereiche, so der Tenor des Plenums. Die sieben Schritte gäben ihm Handlungssicherheit und Vertrauen, so ein Teilnehmer, egal in welchem Bereich er sich gerade bewegen würde. Je nach Phänomenbereich würden sich jedoch die zugezogenen externen Akteur:innen unterscheiden. Für die Prävention von Rechtsextremismus böte sich z.B. die Zusammenarbeit mit einer lokalen Beratungsstelle gegen Rechts an, wohingegen für eine linksextremistische Radikalisierung eine andere Anlaufstelle geeigneter sei.
Die Teilnehmenden übten dieses phänomenspezifische Vorgehen anschließend anhand zweier Fallbeispiele in Kleingruppen ein. Im ersten Fall ging es um ein junges Mädchen, das sich dem Rechtsextremismus zuwandte; im zweiten Fall um einen Jugendlichen, der sich der salafistischen Szene zuwandte. Die Aufgabe bestand nun darin, die fallspezifischen Push- und Pullfaktoren des Radkalisierungsprozesses sowie pädagogische Umgangsformen herauszuarbeiten. In beiden Fällen zeigte sich, dass die individuelle Lebenssituation der Jugendlichen von einem großen Maß an Vulnerabilität geprägt war, welches die Ansprache durch radikale Akteur:innen erleichterte.
Kollegiale Fallberatung
Der erste Weiterbildungstag endete mit einer kollegialen Fallberatung. Dieses Mal stellte eine Teilnehmerin einen Fall im Milieu der sogenannten Reichsbürger:innen vor und erbat sich fachlichen Rat aus der Gruppe. Wie gewohnt wurden zunächst die Rollen verteilt (Fallgeber:innen, Moderation, Sprecher:in), bevor die Fallgeber:innen diesen dem Plenum schilderten. Es ging um einen Jugendlichen, dessen Vater sich zu der genannten Szene zählte. Er versuchte, den Jugendlichen zu indoktrinieren und trat auch gegenüber dem Kollegium der Schule aggressiv auf. Zugleich habe der Schüler im Schulunterricht reichsbürgerische Verschwörungstheorien verbreitet. Die Mutter sei für ihren Sohn keine Ressource, so die Fallgeber:innen; sie sei vom Vater getrennt und von der Erziehung des Schülers und seiner Geschwister überfordert. Eine Anfrage an das zuständige Jugendamt, dem Vater das Sorgerecht zu entziehen, bleibe darüber hinaus seit Monaten unbeantwortet. Der Auftrag an die Gruppe bestand darin, mögliche Handlungsoptionen für diesen Konfusionsfall auszuloten. Wo gäbe es noch Anhaltspunkte für präventive Interventionen?
In der fachlichen Einordnung diskutierte das Plenum zunächst, warum alle Beteiligten so reagierten, wie sie es taten. Habe die Schule bereits alle Möglichkeiten im Umgang mit dem Schüler und dem Vater ausgeschöpft? Wieso reagiere das Jugendamt nicht auf die Gefährdungsmeldung? Und wie sei das Standing des Jugendlichen in seiner Klasse?
Als Problemlösungen empfahl das Plenum das Stellen einer Beschwerde an das zuständige Jugendamt wegen Verletzung der Dienstpflicht, um dieses zum Handeln zu bringen. Zudem das Einberufen einer ressortübergreifenden Fallkonferenz an der Schule, um weitere Handlungsoptionen auszuloten. Dies gelte auch für die Suche nach weiteren Bezugspersonen abseits der Mutter des Schülers. Vielleicht sei auch ein außerschulisches Langzeitprojekt etwas für den Schüler. So könne dieser soziale Beziehungen außerhalb der Schule aufbauen. Schließlich wurde darüber diskutiert, inwiefern es Sinn mache und wie es möglich sein könnte, dem Vater des Schülers das Sorgerecht zu entziehen.
Die Fallgeber:innen bedankten sich vor allem für die Idee einer Dienstaufsichtsbeschwerde sowie die ressortübergreifende Fallkonferenz als zwei mögliche gangbare nächste Schritte.
Online-Prediger: Modernes Auftreten, ultrakonservatives Gedankengut
Der zweite Weiterbildungstag begann mit einem Workshop zu radikalen muslimischen Online-Prediger:innen. Diese geben sich zwar teils aufgeschlossen-modern, verbreiten in ihren Videos, Reels und Predigten aber ein ultrakonservatives Gedankengut. Dazu hatte das CleaRNetworking-Team Dr. Piotr Suder und Markus Lüke vom Projekt „Extremismus Pr@vention online“ (ExPo) eingeladen.
Im Mittelpunkt des Workshops standen jene Akteur:innen, die eine Unvereinbarkeit zwischen ‚dem Islam‘ und säkular-demokratischen Gesellschaftsmodellen postulierten. Dieses ‚Geschäftsmodell‘ sei ohne das Internet und allen voran die sozialen Medien in dieser Form nicht möglich, so Suder. Derzeit sei die Plattform Tiktok für Mobilisierungsversuche am relevantesten. Dies könne sich mit fortschreitender technischer Entwicklung jederzeit ändern.
Zum Aufwärmen hatte das Duo eine kurze Gruppenübung mitgebracht: Situation – Reaktion – Emotion. Am Beispiel dieses Dreischrittes sollten die Teilnehmer:innen eine emotional besetzte Reaktion aus ihrem Berufsalltag auswählen, darüber diskutieren, welche Emotionen diese in ihnen ausgelöst habe und warum dies so gewesen sei. Die geschilderten Situationen waren divers: Sie reichten von sexistischen Aussagen Andrew Tates bis hin zu Propaganda gegen Queerness auf Tiktok.
Anschließend gaben die Referenten einen Überblick über sogenannte Online-Da’wa, also Mobilisierungsstrategien mit dem Ziel, junge Menschen in die extremistische Szene zu ziehen. Dabei werde stark auf eine niedrigschwellige, jugendkulturell aufgemachte Ansprache und Inszenierung gesetzt. In den letzten Jahren sei zudem eine Zunahme des Stellenwerts der Online-Ansprache zu beobachten, es komme zu einer Diversifizierung und Professionalisierung der Akteur:innen und Angebote. Auch Crossmedialität werde immer wichtiger, also das Ausspielen von Inhalten auf mehreren Plattformen zugleich. Diese Beiträge zu erkennen, sei für pädagogisches Personal besonders wichtig, weil derartige Accounts kaum gelöscht und entsprechende Accounts gesperrt würden. Durch Backup- und Spiegelaccounts sowie Reposts durch andere Kanäle sei es sehr schwer, radikale Inhalte effektiv aus dem Internet zu entfernen. Soziale Medien seien zentrale Massenmedien heutiger Jugendlicher, so die Referenten. Viele würden ihre Informationen ausschließlich dort erhalten. Daher müsse Prävention in diesen Räumen präsenter sein. Zugleich gäbe es einen empirischen Zusammenhang zwischen Bedürfnissen, biografischen Erfahrungen, dem Konsum islamistischer Medienprodukte und Radikalisierungsprozessen [5], so Lüke. Anders gesagt: Nicht alle Jugendlichen, die radikale Inhalte konsumieren, radikalisieren sich. Die jeweilige Vulnerabilität von Jugendlichen ist entscheidend. Individuellen Eigenschaften (personale Dispositionen) und soziales Umfeld bestimmen mit, wie offen Jugendliche für extremistische Inhalte sind.
Videoanalyse – Der zweite Blick
Zum Abschluss übten die Referenten mit den Teilnehmer:innen in einer Gruppenübung ein, extremistische Inhalte in Videos zu erkennen. Dazu gaben sie ihnen fünf Leitfragen an die Hand, die an die klassischen journalistischen W-Fragen [6] erinnerten:
- Wer spricht? Wer ist der Inhaber des Accounts?
- Was wird gesagt? Was wird nicht gesagt?
- Wie wird argumentiert? Wie wirkt es auf euch?
- Wen adressiert das Video? Wen klammert es (eventuell) aus?
- Warum wird es gesagt? Welches Ziel verfolgt der Sprecher?
- Was fällt euch noch auf?
Oft sei auch der Drei-A-Test [7] hilfreich, um extremistische Inhalte zu erkennen, so Lüke:
- Absoluter Wahrheitsanspruch;
- Abwertung;
- Antipluralismus;
Aus Sicht des Clearingverfahrens sind diese fünf Fragen und der Drei-A-Test gut geeignet, um im Rahmen der Vor- und auch der vertieften Recherche zu prüfen, ob es sich bei eventuell von den Betroffenen verbreitetem Bild- und Textmaterial um radikale Inhalte handelt, oder nicht. Diese Prüfkriterien können auch in Quellenchecks in Schulunterrichten dienlich sein. Auch als Diskussionseinstieg über derartige Inhalte könnten Jugendliche gebeten werden, die W-Fragen auf die entsprechenden Inhalte anzuwenden.
„Durch Beziehung Zugang zu Jugendlichen bekommen“: Workshop über Rechtsextremismus
Der letzte inhaltliche Block des Weiterbildungsmoduls widmete sich dem Phänomenbereich Rechtsextremismus. Hierzu hatte das CleaRNetworkingteam den Demokratietrainer Sebastian Ramnitz eingeladen.
Ramnitz sammelte zunächst die Erwartungen der Schulungsteilnehmer:innen an den Workshop ein. Auf diese werde er später noch zurückkommen, so der Referent. Die Auseinandersetzung mit rechtsextremistischen Aussagen sei oft stark von Ängsten und Emotionen geprägt. Diese zu verstehen und nicht aus der Diskussion rauszulassen, sah Ramnitz als einen Schlüssel an, um an Menschen mit einem rechtsextremen Weltbild heranzukommen. Dazu müsse man herausfinden, auf welcher Ebene (Emotionsebene/Sachebene) ein Mensch unterwegs sei. Emotionen und Identität seien dabei eng miteinander verbunden. Ramnitz plädierte dafür, die soziale Beziehung bzw. deren Aufbau als eine Ressource zu nutzen, um durch Beziehungsaufbau einen Zugang zu bekommen.
Anschließend bat er die Teilnehmenden in eine Gruppenarbeit. In sechs Fallgruppen skizzierten die Teilnehmer:innen einen Fall aus ihrem Arbeitskontext auf einem Flipchart. Der Clou: Die Lösungsfindung übernahm dann eine andere Gruppe. So entwickelte jede Gruppe Lösungsvorschläge für einen Fall, der nicht ihr eigener war. Diese Form der partizipativen Lösungsfindung kam im Plenum gut an und sorgte für angeregte Diskussionen.
Beziehungsarbeit als Chance, Herausforderung und Ressource in der Präventionsarbeit
Im Verlauf des Workshops erläuterte Ramnitz, dass erfolgreiche und gut strukturierte Beziehungsarbeit zu Klient:innen aus seiner Sicht unerlässlich sind, um Radikalisierungsprozesse zu bearbeiten und Distanzierungsbewegungen anzustoßen. Worin bestehe das biographische Problem für die Klient:innen, für das Radikalisierung wiederum die Lösung darstelle? Zur Klärung könne Biographiearbeit beitragen, die sowohl die Sach- als auch die Emotionsebene angemessen berücksichtige. Diese Arbeitsweise lasse sich aus seiner Sicht phänomenübergreifend auf alle Bereiche der präventiven Praxis anwenden. Ramnitz sensibilisierte für Kommunikationsformen mit Eltern und ermutigte dazu, die eigene Sprache zu reflektieren. Häufig werde, auch unabsichtlich, eine hierarchische Sprache der Macht verwendet.
Provokation ungleich Ideologie
Ramnitz brachte immer wieder eigene Erfahrungen aus seiner praktischen Arbeit mit Jugendlichen ein. Dabei nutzte er auch unkonventionelle, kreative Methoden. Er lud dazu ein, bei vermeintlich problematischem Verhalten von Jugendlichen zwischen Provokation und Ideologie zu unterscheiden. Er sei von einem sich radikalisierenden Jugendlichen auch schon als „Hurensohn“ beleidigt worden. Weil er das provokative Moment in dieser Beleidigung erkannte und ihm die Beziehung mit dem Jugendlichen wichtig war, um mit ihm gemeinsam demokratiefördernd arbeiten zu können, reagierte er darauf nicht mit Sanktionen, sondern ordnete die Beleidigung als Ringen nach Aufmerksamkeit ein, die er ihm in der Folge zu geben versuchte.
Die Arbeit mit einem weiteren Jugendlichen habe folgendermaßen begonnen: Der Jugendliche wurde zur Arbeit mit Ramnitz verdonnert, ohne es zu wollen und habe immer weggeguckt, wenn Ramnitz in seinem Büro versucht habe, ein Gespräch mit ihm aufzubauen. Zur nächsten Sitzung habe Ramnitz dann ein Selfie von sich ausgedruckt, und 40 Mal im gesamten Büro verteilt. Ein Gespräch kam in der Folge vor allem deswegen auf, weil auch Humor ein nützlicher Zugang darstellen könne; und weil der Jugendliche gespürt habe, das Ramnitz sich bemühte.
Ramnitz ermutigte ferner dazu, sich zu Beginn von Unterrichtseinheiten ein paar Minuten Zeit zu nehmen und alle Anwesenden zu fragen, wie es ihnen auf einer Skala von 1-10 gehe. Nenne jemand eine Zahl unter 5, könne gefragt werden, ob die Personen etwas brauche. Es könne auch andere Wege geben. Wichtig sei, sich 10 Minuten pro Unterrichtsstunde für die Beziehugnsebene zu reservieren. Dem Einwand, die 10 Minuten würden am Ende für das Fachliche fehlen, entgegnete Ramnitz, indem er darauf verwies, dass der Lernerfolg grundsätzlich steige, wenn eine stabile Beziehung und eine gute Atmosphäre in der Klasse herrsche.
Es gelte darüber hinaus, nicht nur anlassbezogen mit Jugendlichen zu sprechen, sondern offen; also nicht nur in Negativsituationen Gespräche zu führen. Denn dann bestehe eine ganz andere Offenheit unter Jugendlichen.
Als homophobe Äußerungen im Jugendzentrum aufkamen, klebte Ramnitz das Zentrum mit Bildern sich küssender Homosexueller voll. Daraufhin kamen die entsprechenden Jugendlichen eine Woche nicht mehr in die Einrichtung. Dann jedoch kamen sie wieder und es ergaben sich gemeinsame Gesprächssituationen.
Abschluss
Ramnitz verwies immer wieder auf die Grundsatzhaltung des schulischen Personals, die so wichtig für demokratiefördernde, radikalisierungspräventive Arbeit in der Schule ist. Projekttage- und wochen gingen vorbei (und würden teilweise auch missbraucht, weil sie den Eindruck erwecken sollen, die jeweilige Schule sei im jeweiligen Bereich aktiv). Eine prodemokratische Haltung sei jedoch eine institutionelle Daueraufgabe. Mit diesem Slot endete das fünfte Modul der CleaRNetworking-Weiterbildung 2024. Mit Blick auf das Clearingverfahren wurde einerseits Bezüge zu einzelnen Phänomenbereichen der Radikalisierungsprävention hergestellt. Zugleich wurde deutlich, dass ein phänomenübergreifender Ansatz in der Radikalisierungsprävention für schulisches Personal viele Vorteile mit sich bringt:
- Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Phänomenbereichen werden deutlich;
- Vorschnelle Zuschreibungen von Phänomenen zu ausschließlich einem Phänomenbereich werden reduziert und im Idealfall verhindert;
- Schulisches Personal gewinnt Handlungs- und Haltungssicherheit mit Blick auf die Intersektionen zwischen den Phänomenbereichen.
Literatur:
[1] CleaRNetworking (o.J.): Unterstützende Dokumente. Online verfügbar unter: https://www.clearing-schule.de/unterstuetzende-dokumente/.
[2] CleaRNetworking (o.J.): Vorlage eines Aushangs über das Clearingverfahren für das Kollegium. Online verfügbar unter: https://www.clearing-schule.de/wp-content/uploads/2024/03/CleaRNetworking-Kollegium-Handreichung.docx.
[3] CleaRNetworking (o.J.): Leitfaden zur Unterstützung bei der Implementierung schulischer Radikalisierungsprävention sowie der praktischen Arbeit mit dem Clearingverfahren. Online verfügbar unter: https://www.clearing-schule.de/wp-content/uploads/2024/05/2024-04-21-Leitfaden-Implementierung-Verfahren.pdf.
[4] Hessisches Innenministerium (o.J): Radikal. Online verfügbar unter: https://hke.hessen.de/film-radikal.
[5 ] Roßmeißl, Felix (2022): Dschihadistische Karrieren in der Migrationsgesellschaft ? Was erklärt der biografische Hintergrund? In: Migration und soziale Arbeit (1), 63-71. DOI: 10.3262/MIG2201063.
[6] Deutsche Journalistenakademie (o.J.): W-Fragen. Online verfügbar unter: https://deutschejournalistenakademie.de/journalismus-lexikon/w-fragen/.
[7] Müller, Jochen (2018): „The Kids are all right!“ Ansätze zur Salafismusprävention in der pädagogischen Praxishttps. Online verfügbar unter: ://www.ufuq.de/aktuelles/the-kids-are-alright/
Radikalisierung kompetent erkennen - Modul 5 im CleaRNetworking von 12.-13.06 in Essen.