Modul 7 des CleaRNetworking-Weiterbildungsdurchgangs 2024 widmete sich dem Demokratiebildungsansatz Betzavta. Das Modul verfolgte das Ziel, das anwesende schulische Personal für demokratische Prozesse zu sensibilisieren. Das besondere dieses Moduls war der noch interaktivere Charakter, der fast ausschließlich auf Selbsterfahrung basiert.

Bevor Betzavta in den Mittelpunkt rückte präsentierte das CleaRNetworking-Team zu Beginn des Moduls zunächst 14 Strategiekarten, um im schulischen Kontext unmittelbar mit Äußerungen umzugehen, die auf Radikalisierung hindeuten. Orientierung bot in diesem Zusammenhang ein Angebot der Charta der Vielfalt e.V. [1], Dieses Angebot zielt grundsätzlich auf den Umgang mit rassistischen Äußerungen ab. Das Projekt CleaRNetworking versteht rassistisches Verhalten als Ausdruck einer Form von Radikalisierung, die pädagogischer Intervention bedarf. Entsprechend stoßen die Strategiekarten im Kontext Radikalisierung zwar an manchen Stellen auf Grenzen, bieten aber dennoch zahlreiche Ansatzpunkte.

Zu den Strategien zählt etwa nachzufragen, Grenzen zu setzen, einen Perspektivwechsel anzuregen, das »die« auflösen, Ich-Botschaften und Gefühle zu senden, mit Fakten zu argumentieren, Emotionen anzusprechen, sich nicht ablenken zu lassen, Humor und Ironie einzusetzen, Verständnis und Zustimmung auszudrücken und nicht zu belehren.

In Dreiergruppen wurden die Strategien dann anhand verschiedener mehr oder weniger radikalisierter Äußerungen eingeübt. Während eine Person eine auf Radikalisierung deutende Äußerung treffen sollte, bestand die Aufgabe einer zweiten Person im Umgang mit der Äußerung und die der dritten Person in der Beobachtung. Anschließend sollten die Rollen getauscht werden. Den Teilnehmenden wurden dafür zahlreiche Äußerungen zur Verfügung gestellt, etwa die folgenden:

  • „Multikulturalismus führt zur Zerstörung unserer Identität. Wir müssen die Nation wieder für uns selbst zurückgewinnen und unsere Kultur gegen die Vermischung mit allem anderen schützen.“
  • „Die Impfungen sind Teil eines Planes, uns alle zu kontrollieren und zu entmündigen.“
  • „Eine muslimische Frau sollte nicht arbeiten gehen, denn da begegnet sie fremden Männern.“

„Demokratie als Lebensform“

Nach einer Pause wurde die Workshop-Leitung dann von MiLo Training, bestehend aus Lothar Knothe und Miriam Briem, übernommen. Die beiden stellten Betzavta einleitend vor. Demokratie ist demnach mehr als eine Staatsform, nämlich auch eine Lebensform. Jeden Tag treten wir mit anderen Menschen in Kontakt, oft auch in Konflikte. Jeden Tag müssen wir Entscheidungen treffen, wie unsere Bedürfnisse und die Bedürfnisse unserer Mitmenschen abgewogen oder in Einklang gebracht werden können. Eine Kultur der Verständigung und Verhandlung ist nicht selbstverständlich. Das hebräische Wort „betzavta“ bedeutet übersetzt „miteinander“. Im Zentrum des Ansatzes steht die Anerkennung des gleichen Rechts aller Menschen auf freie Entfaltung als Voraussetzung für ein faires Miteinander sowie die Entwicklung der Kompetenz zum demokratischen Umgang mit Freiheit. Einige Übungen haben einen besonders starken Selbsterfahrungscharakter. Sie werden als besonders spannend und wirkungsvoll bewertet. Diese Übungen zeichnen sich durch ein Minimum an Regeln und einem hohen Grad an Freiheit und Gestaltungsmöglichkeiten aus. Stillschweigende Annahmen, die manche Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit anderen Übungen assoziieren, können Ausgangspunkt von Konflikten und Missverständnissen innerhalb der Gruppe sein. Das Konzept Betzavta versucht, die Notwendigkeit und die Vorteile demokratischer Entscheidungsprozesse erfahrbar zu machen. Die Teilnehmer:innen durchlaufen drei Phasen der Bewusstseinsbildung, indem sie mit der eigenen Ablehnung von Gleichberechtigung und mit der Feststellung konfrontiert werden, dass Gleichberechtigung nur dann als nützlich erkannt wird, wenn es dem persönlichen Weiterkommen dient. Ziel ist die Anerkennung von Gleichberechtigung als generelles Prinzip – unabhängig davon, ob es sich dabei um das eigene Recht oder das Recht anderer handelt.

„Wir sind viel zu viele, um uns auf Gemeinsamkeiten zu verständigen“

Die beiden Workshopleitungen sensibilisierten während der dann folgenden Übungen immer wieder für demokratische Prozesse innerhalb von Gruppenarbeiten. So bestand etwa eine Aufgabe darin, Gemeinsamkeiten wie auch Besonderheiten innerhalb einer aus 4-6 Personen bestehenden Gruppe gemeinsam auszuarbeiten. Erst im Rahmen der Nachbesprechung der Übung kamen Stimmen zur Geltung, die rückblickend erklärten, wie sie sich zurückgezogen haben, nachdem es einen Konflikt um eine Formulierung gab. Diskutiert wurde rückblickend auch über die Frage, ob Stillschweigen als Einverständnis gedeutet werden kann. Gerade mit Blick auf den schulischen Kontext wurde dafür sensibilisiert, auch diejenigen aktiv in Gruppenprozesse einzubeziehen, die sich selten äußern. Klar wurde durch diese Gruppenarbeit außerdem, wie es mit zunehmender Zahl der Gruppenmitglieder immer schwerer wird, sich auf Beschlüsse bzw. Formulierungen zu einigen. Die Gruppenarbeit sensibilisierte außerdem die Wahrnehmung dafür, wie verschieden wir sind.

In einer anschließenden Gruppenarbeit bestand die Aufgabe darin, sich auf ein gemeinsames Verständnis der Begriffe „Demokratie“, „Toleranz“ und „Menschenrechte“ zu verständigen. Dabei zeigte sich, wie verschieden die einzelnen Gruppenmitglieder die Begriffe verstehen. Die in den Gruppen laufenden Entscheidungsprozesse unterschieden sich insofern voneinander, als manche Gruppen Divergenzen ausdiskutierten, um auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu kommen, während andere per Mehrheitsprinzip abstimmen ließen. Die Workshopleitung, und genau darin lag ihre Rolle, legte den Finger rückblickend immer wieder in die Wunde.

„Wenn man hier nicht schnell genug ist, wird man nicht gehört“

In einer weiteren Gruppenarbeit, deren Aufgabenstellung darin bestand, sich auf einen gemeinsamen Freiheitsbegriff zu verständigen, wurde etwa angemerkt, dass die Ergebnisse einzelner Gruppenarbeiten überproportional von männlich gelesenen Personen präsentiert wurden. Teilnehmende winkten hier teils ab und merkten an, dass niemand aus der Gruppe ein Problem mit dieser Entscheidung gehabt habe. Gleichzeitig merkte eine Teilnehmerin kritisch an: „Wenn man hier nicht schnell genug ist, wird man nicht gehört.“ Sensibilisierung besteht nun eben darin, für solche Prozesse ein Bewusstsein zu entwickeln und zu hinterfragen, inwiefern wirklich alle Gruppenmitglieder, auch jene, die sich nicht äußern, hinter vermeintlich gemeinsam getroffenen Entscheidungen wie der für einen Präsentierenden stehen. Hier gibt es Anknüpfungspunkte zum schulischen Raum und zu aus Schüler:innen bestehenden Gruppenarbeiten.

„Demokratie in der Schule zu stärken, ist langwierig und kompliziert“

Es folgte eine Aufgabe, in der die Hälfte der Gruppen Schritte erarbeiten sollte, um die Demokratie zu stärken und die andere Hälfte Schritte, um die Demokratie aufzuheben. Dabei zeigte sich, wie leicht es tendenziell sein kann, eine Demokratie auszuhöhlen, etwa durch die Konstruktion von Feindbildern, durch das Ausrufen einer Krise und durch das Begrenzen von Meinungsfreiheit. Eine Demokratie zu stärken hingegen, scheint langwieriger und komplizierter. Menschliche Grundbedürfnisse müssen dafür gestillt sein, Bildung muss gestärkt werden, Ambiguitätstoleranz muss verinnerlicht werden und Menschen müssen partizipieren. Demokratie als Lebensform aufrechtzuerhalten, ist aufwändig und bedarf einer Menge Kraft, wurde geschlussfolgert.

„Wer sich zurückhält, über den gestalten andere“

Tag 2 begann mit einer Übung, für die alle Anwesenden ihren Namen auf eine Karte schreiben sollten. Da, wo 20 Minuten nach Beginn der Übung die meisten Karten liegen, dürfe eine für alle verbindliche Regel beschlossen werden. Über diese Zeit werde es keinerlei Kommunikationsmöglichkeit mit der Workshopleitung geben, kündigte selbige an. Diese so große Freiheit in der Aufgabenstellung überforderte weite Teile der Anwesenden. Schon darin lag eine Erkenntnis der Übung: Gerade der Raum Schule ist von derart vielfältigen Beschränkungen, Leitplanken, Richtlinien und Regeln geprägt, dass es dem in diesem Raum aktiven Personal, mit bewusst gesetzter Freiheit produktiv umzugehen. Nach mehreren Vorschlägen endete die Übung damit, dass keine Regel beschlossen wurde. Es brauchte schließlich Initiative, um eine Regel für das gesamte Plenum zu beschließen und die hielt sich in engen Grenzen. Ein großer Teil der Gruppe hatte sich im Rahmen der Übung gar nicht geäußert. Erst in der Nachreflexion wurde die Frage aufgeworfen, wieso diese Personen im Sinne eines demokratischen Prozesses nicht weiter einbezogen wurden. Und: Wer sich zurückhält, über den gestalten andere.

„Perspektivwechsel vornehmen statt moralisch urteilen“

In der anschließenden Übung wurden die Grenzen des individuellen Gehorsams der Teilnehmenden auf die Probe gestellt. Die Teilnehmenden wurden darum gebeten, in die Rolle einer Person im Referendariat, einer:eines Polizist:in und einer:eines Mitarbeitenden der Ausländer:innenbehörde zu schlüpfen. Alle wurden anschließend in ein moralisches Dilemma versetzt. Dem:der Mitarbeitenden der Ausländer:innenbehörde wurde etwa aufgetragen, eine Familie mit zwei kleinen Kindern in ein Kriegsgebiet abzuschieben. Der Person winkte eine Gehaltserhöhung. Sie selbst habe ein chronisch krankes Kind zu Hause und die Behandlung erforderte ebenso hohe Summen wie die Tilgung der eigenen Schulden. Zweck dieser Übung war nun, einen Perspektivwechsel vorzunehmen und sich in die Lage anderer zu versetzen, statt moralisch zu urteilen. Die Diskussionen über derlei Fälle waren verständlicherweise kontrovers und keinesfalls konsensual. Die menschliche Moral stößt offenbar an einem gewissen Punkt an Grenzen. Dieser Perspektivwechsel kann nun auch im schulischen Raum vorgenommen werden; es gilt vor allem, Verständnis für Positionen, Meinungen, Äußerungen und Handlungen aufzubringen, die den eigenen Überzeugungen widersprechen.

Fruchtbar war auch die vorletzte Übung, die mehrere Szenarien aufwarf, zu denen die Anwesenden sich positionieren sollten. Die Übung zeigte auf, wie wichtig es ist, Positionen differenziert zu betrachten, statt potenzielle Hintergründe und Motivationen zu unterstellen. Zu den Szenarien zählte etwa:

  • Polygamie – ein Mann unterhält eheliche Beziehungen zu mehr als einer Frau
  • Polygamie – eine Frau unterhält eheliche Beziehungen zu mehr als einem Mann
  • Kinder werden aus religiösen Gründen nicht geimpft
  • Kinder werden zu Hause als erzieherische Maßnahme geschlagen
  • Männer werden beschnitten
  • Frauen werden beschnitten

Während beispielsweise eheliche Beziehungen eines Mannes zu mehreren Frauen für viele in Deutschland sozialisierte Menschen auf den ersten Blick verurteilenswert scheinen, kann sich bei genauerer Beschäftigung ergeben, dass diese Form der Polygamie vielfältige Hintergründe haben kann. In gesellschaftlichen Systemen etwa, in denen die wirtschaftliche Versorgungspflicht bei Männern verortet wird und gleichzeitig Armut herrscht, kann Polygamie die Versorgung mehrere Frauen sicherstellen; gerade dann, wenn etwa nach Kriegen die Zahl der lebenden Frauen die der lebenden Männer weit übertrifft. Selbst für ein umgekehrtes Verbot, als Frau mehrere eheliche Beziehungen zu Männern zu unterhalten, gibt es Argumente; etwa Fragen nach eindeutiger Zuordnung von Vaterschaft, was wiederum eine Relevanz hat mit Blick auf Fragen nach Erbschaft und Stammeszugehörigkeit. Im Zulassen von Bemühungen, andere Perspektiven zuzulassen, selbst wenn ein Umstand einem zunächst so offensichtlich widerstrebt, lag das Ziel dieser Übung. Das gilt gerade auch für den schulischen Raum; denn auch dort trifft schulisches Personal auf eine breite Meinungspalette, von der Teile zunächst irritierend wirken, die aber bei genauerer Auseinandersetzung und vor allem einer offenen Haltung Verständnis hervorrufen können.

„Wer auf das Feld vor uns kommt, gewinnt das Spiel“

Für eine letzte Übung verteilte die Workshopleitung von 1 bis 25 nummerierte Karten auf dem Boden des gesamten Raumes. Auf zweien dieser Spielfelder wurde Schokolade platziert. Die Anwesenden wurden in drei Gruppen aufgeteilt. Ein großer Stoff-Würfel wurde zur Verfügung gestellt. Die Gruppe, die gerade am Zug ist, dürfe würfeln und eine für das Spiel verbindliche Regel aufstellen. Mehr Informationen gab es nicht; und das war Teil des Spiels. Schnell entwickelte sich ein kompetitiver Kampf um die Schokolade und die aufgestellten Regeln bevorzugten jeweils die eigene Gruppe. Die Annahme schien ferner darin zu bestehen, dass das Erreichen des Feldes 25 einen Sieg bedeute; doch auch das war nicht festgelegt worden. „Wer auf das Feld vor uns kommt, gewinnt das Spiel,“ legte etwa eine Gruppe fest. Das Spiel sensibilisierte die Anwesenden für den eigenen Hang zu Kompetitivität, während auch ein kooperatives Spiel möglich gewesen wäre. Nehmen wir uns einen eigenen Vorteil, wenn wir es können, oder bin ich fair?

So endete ein provozierendes Modul, von dem nur jene profitieren konnten, die sich aktiv auf den spielerischen Charakter und die Vielzahl an Reflexionsangeboten einlassen konnten. Die Bezüge zum Clearing-Verfahren selbst waren diesmal weniger offensichtlich. Vielmehr lud das Modul dazu ein, Schule zu einem demokratischeren Raum zu machen und Schüler:innen in ihrer demokratischen Haltung zu festigen; etwa dadurch, dass Gruppendynamiken beachtet werden, dass wirklich alle Schüler:innen einbezogen werden, dass Diversität anerkannt wird, dass Perspektivwechsel vorgenommen werden und das eigene Konfliktverhalten reflektiert wird.

 

Literatur

[1] Charta der Vielfalt (2022): Rassistische Äußerungen entkräften. Online verfügbar unter: https://www.charta-der-vielfalt.de/fileadmin/user_upload/Antirassistische_Bewusstseinsbildung/Toolbox_Antirassismus/Arbeitsbl%C3%A4tter/Strategiekarten_Rassistische_%C3%84u%C3%9Ferungen_entkr%C3%A4ften.pdf.