Das siebte und vorletzte Modul unserer CleaRNetworking-Weiterbildung 2023 fand vom 18.12.23 bis zum 19.12.23 im Hotel Essener Hof in Essen statt. Dieses Modul verfolgte das Ziel, uns vom Präventionsparadoxon zu lösen, nämlich dem Grundsatz, etwas zu vermeiden:Die vergangenen Monate wurde immer wieder das fokussiert, was Radikalisierungsprävention zu vermeiden bestrebt, nämlich Radikalisierung. Wir sprachen über unterschiedliche Radikalisierungsphänomene, über rechtliche Rahmen, über Machtstrukturen und schulten Beratungsfähigkeiten. In diesem Modul hingegen sollte das im Fokus stehen, was es zu schützen gilt; nämlich eine Ambiguitätstoleranz und Demokratie als Lebensform.
Die Demokratiestunde
Am ersten Tag präsentierten zunächst Peter Krumpholz vom Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung und Insa Wessendorf, Leiterin einer schulpsychologischen Beratungsstelle im Ruhrgebiet, ihr Konzept einer Demokratiestunde. Zu Beginn wurden die Teilnehmenden in fünf Gruppen aufgeteilt, um sich auf drei Grundprinzipien einer neuen Gesellschaft zu einigen, die sie anschließend vorstellten. Dabei zeigte sich, dass der bewusst offen formulierte Arbeitsauftrag zu einer breiten Mischung an Grundprinzipien führte, idealistische und materialistische, natürliche und weltliche, persönliche und berufliche.
In den Gruppenarbeiten fielen Begriffe wie Geselligkeit, Zeit, Natur, Geld, Wertschätzung, Disziplin, Integrität, Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Selbstbestimmung. Letztlich ging es in dieser Arbeitsphase vor allem um den Aushandlungsprozess, um sich in Kleingruppen auf drei Begriffe zu einigen.
Bestimmt werden sollte auch eine Person pro Gruppe, die die Ergebnisse dem Plenum vorstellt. Die Gruppe der Teilnehmenden bestand aus 29 Personen, von denen 12 männlich und 17 weiblich gelesen werden können. Das entspricht einem prozentualen Verhältnis von 41% zu 59%. Vier der fünf Präsentierenden hingegen konnten männlich gelesen werden, was einem prozentualen Verhältnis von 80% zu 20% entspricht. Anders ausgedrückt: Jede dritte männlich gelesene Person repräsentierte ihre Gruppe vor dem Plenum; bei den weiblich gelesenen Personen war es jede siebzehnte Person. Strukturelle Gegebenheiten zeigen sich also schon in unserem Mikrokosmos der Weiterbildung.
Zwei Lehrkräfte der Theodor König Gesamtschule Duisburg kamen anschließend mit den Teilnehmenden über das Format einer schulischen Demokratiestunde in den Austausch. Dabei handelt es sich um ein Gesprächsangebot zwischen Lehrkräften und Lehrkräften, zwischen Lehrkräften und Schüler:innen oder zwischen Schüler:innen und Schüler:innen. Das Konzept soll Demokratie interaktiv erlebbar machen und dabei Interaktion und demokratische Selbstwirksamkeit stärken. Ziele können auch sein, gemeinschaftliche Regeln aufzustellen, sich eigener Bedürfnisse und Gefühle bewusst zu werden und Demokratie praktisch zu erlenen. Für Lehrkräfte bedeutet eine Demokratiestunde, auf Augenhöhe mit Schüler:innen zu kommunizieren und damit notwendigerweise auch die Abgabe von Macht. Gesprochen werden kann im Rahmen einer Demokratiestunde nicht nur über klassenspezifische, sondern auch über schulische Angelegenheiten, aber auch über gesellschaftspolitische Ereignisse, die die Schüler:innen bewegen. Sichergestellt werden soll dabei stets auch eine positive gegenseitige Abhängigkeit der Gruppe, etwa dadurch, dass Ämter verteilt werden von der Leitung über eine:n Wächter:in der Ruhe bis zu einer Person, die Protokoll führt. So fühlen sich idealerweise möglichst viele Personen einbezogen in ein interaktionsbasiertes Medium, das auch Konflikte besprechbar machen und moderieren soll und als regelmäßiges Ritual umgesetzt werden kann.
Betzavta
Anschließend führten Miriam Briem und Lothar Knothe in Betzavta-Methoden ein. Betzavta ist ein Demokratielernprogramm, das die eigene pädagogische Haltung zu hinterfragen und zu festigen bestrebt. Briem und Knothe luden dazu ein, die eigene Haltung in Bezug auf demokratische Bildungsprozesse zu hinterfragen.
Demokratische Prinzipien
Die erste Übung zielte darauf ab, den Zusammenhang von Macht und Verantwortung für die Teilnehmenden erlebbar zu machen. Zunächst sollte jede:r Teilnehmende:r den eigenen Namen auf eine Karte schreiben. Der Arbeitsauftrag legte dann fest, dass da, wo 20 Minuten nach Beginn der Übung die meisten Karten auf einem Stapel lagen, eine Regel verkündet werden durfte, die für alle Personen in diesem Raum verpflichtend sein würde. Diese Regel musste für alle Personen im Seminar umsetzbar sein und durfte die anschließende Auswertung nicht beeinträchtigen. Die Übung sensibilisierte auf spannende Weise für demokratische Prozesse. So brachte sich etwa eine Teilnehmende ein und bestimmte, dass von nun an nur reden dürfe, wer eine Packung Taschentücher, die hin- und hergeworfen wurde, in den eigenen Händen hielt. Damit waren, wie sich in der anschließenden Nachbesprechung herausstellte, nicht alle glücklich, aber es äußerte niemand auf ausreichend wirksame Weise Zweifel daran, sodass die Methode sich etabliert hatte.
Teile der Gruppe griffen sich Karten anderer, um sie auf einen Stapel zu legen, der ihren eigenen Interessen (beispielsweise die Einführung regelmäßiger Pausen zum Rauchen) diente.
Viele Vorschläge wurden eingebracht, setzten sich aber nicht oder nur geringfügig durch, so etwa der, nicht Ziele festzulegen und in Wahlkampfmanier um Stimmen zu werben, sondern Personen zu bestimmen, denen man vertraut.
Die meisten Stimmen lagen letztlich bei einem Stapel, der sich bewusst auf ein wenig innovatives Ziel festlegte, nämlich freundlich zueinander zu sein. Einige Teilnehmende erklärten im Nachhinein, sie hätten sich für das geringere Übel entschieden – ähnlich wie es in demokratischen Prozessen häufig der Fall ist.
Teile der Gruppe hielten ihre Namenskarte von den Stapeln fern, weil sie entweder dem demokratischen Prozess nicht trauten oder nicht wussten, wie die Umsetzung der angekündigten Regeln letztlich ausgestaltet würde.
Als Knothe und Briem nach der Festlegung der Regel in die Gruppe fragten, ob jemand nicht einverstanden sei, kamen Einwände, die während der Übung nicht geäußert worden waren. Klar wurde vielen so letztlich, dass sie unzufrieden waren, gegen diese Unzufriedenheit während der Übung aber nicht aktiv geworden waren.
Es zeigte sich auch die Macht einzelner, die sie an sich rissen, während andere grundsätzlich gleichberechtigte Akteur:innen sich zurückhielten und kaum Einfluss auf den Ausgang der Übung ausübten. So wurde den Teilnehmenden vor Augen geführt, dass jede Person, die nicht aktiv partizipiert, die Mehrheit trägt. Der Prozess der Übung wurde anschließend ausgiebig nachbesprochen und sensibilisierte so für demokratische Prinzipien und Prozesse.
Das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit: „Demokratie muss man lernen“
Aufgabe war nun, sich in Gruppen auf eine Definition des Freiheitsbegriffs zu einigen. Dabei zeigte sich die Vielfalt unterschiedlicher Verständnisse; etwa zu reisen, über die eigene Zeit zu verfügen, ein Gefühl der Freiheit von Erwartungen anderer, Ruhe, frische Luft. Die Gruppen präsentierten letztlich vielfältige Gedanken, etwa die Frage, ob es sich bei Kompromissen notwendigerweise um Freiheitseinschränkungen handelt. Diskutiert wurde auch etwa über die folgenden Fragen: Gibt es überhaupt Freiheit, zumal niemand die Entscheidung getroffen hat, auf dieser Welt zu sein. Sind nicht Definitionen selbst per se unfrei? Handelt es sich bei Freiheit um das Resultat der gegenseitigen Aushandlung der Grenzen der Freiheit anderer?
Auffällig war ein sich durch die Mehrheit der Gruppen ziehender individualistischer eurozentristischer Freiheitsbgeriff, der Freiheit überwiegend als Gefühl fasste, auf Selbstbestimmung fokussierte, Freiheit dabei teils auch als Privileg fasste und teils zwischen körperlicher, seelischer und finanzieller Freiheit unterschied.
Diese Übung sensibilisierte nicht nur für die Unterschiedlichkeit verschiedener Freiheitsbegriffe, die sich selbst in einer grundsätzlich ja relativ homogenen Gruppe zeigten, sondern stellte auch den Einigungs- und Aushandlungsprozess auf eine Definition in den Mittelpunkt.
Grenzen des Gehorsams: „Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“
An Tag 2 der Weiterbildung wurde in verschiedenen Gruppen der Fall einer in Abschiebegefahr stehenden Familie mit zwei kleinen Kindern aus unterschiedlichen Perspektiven behandelt, nämlich aus Sicht von Studienrefrendar:innen, aus Sicht eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin des Ausländer:innenamtes und aus Sicht der Polizei. Zeil war, die eigenen Grenzen des Gehorsams in einem Gewissenskonflikt auszutesten. Außerdem zeigte die Übung nicht nur eigene Verhaltensmuster auf, sondern auch die Gefahren, die ein weiter Gestaltungsspielraum wie in dieser Übung auch Gefahren birgt. Die Übung ermöglichte ebenfalls einen Perspektivwechsel und das Sichhineinversetzen in den Teilnehmenden zunächst unbekannte Rollen, Hierarchien, Aufgaben und Verantwortungen. So entsteht ein grundlegendes gegenseitiges Verständnis.
Gleichheit vor dem Gesetz:
Im Rahmen dieser Übung entsandten drei Gruppen je eine:n Vertreter:in auf ein mit Zahlen ausgelegtes Spielfeld in der Raummitte. Wer auf einem Feld landete, auf dem eine Tafel Schokolade lag, durfte diese Schokolade für die eigene Gruppe behalten und eine Regel aufstellen, die für das Spiel von nun an gelten sollte. Dabei zeigten sich Wettbewerbsprinzipien, wenngleich diese nicht Teil des Spiels sein mussten.
Während eine Gruppe das erste Mal auf einem Schokoladenfeld landete, standen die Vertreter:innen der beiden anderen Gruppen auf demselben Feld. Nach kurzer Rücksprache in der Gruppe legte diese dann die Regel fest, dass wenn zwei Personen auf demselben Feld sind, beide mehrere Felder zurückkehren mussten.
Als die zweite Gruppe auf einem Schokoladenfeld landete, diskutierte sie ausgiebig darüber, ob sie sich dem offensichtlich benachteiligenden, unfairen und konkurrenzorientierten Machtspiel der ersten Gruppe beugen sollte. Letztlich zweifelte sie zwischen einer Regel, von der alle profitieren, etwa dass die gesammelte Schokolade zwischen allen Gruppen geteilt werden muss – und einer Regel, die ebenfalls andere benachteiligt und die eigene Gruppe bevorzugt.
So schraubte sich das Machtspiel letztlich hoch, bis die dritte Gruppe auf einem Schokoladenfeld landete und die Regel aufstellte, dass jede Person, die auf einem Schokoladenfeld landete, auf ein weiteres Schokoladenfeld vorrücken durfte usw. So endete das Spiel. Es veranschaulichte spielerisch, wozu Menschen in der Lage sind, wie rücksichtslos man agieren kann und wie wertvoll es ist, Entscheidungen eindringlich zu reflektieren und sich Unfairness aktiv zu widersetzen.
Redezeit:
Im Rahmen einer weiteren Übung durften sich die Teilnehmenden positionieren, um sich für eine Weise der Verteilung von Redezeit auszusprechen. Dazu zählte ein sozialdemokratischer, einer sozialistischer, ein gendersensibler, ein kultursensibler, ein neoliberaler und ein Minderheitenansatz. So sah beispielsweise eine gendersensible Verteilung von Redezeit vor, dass alle Geschlechter unabhängig von ihrer Zahl gleich lange sprechen dürfen. Eine neoliberale Verteilung von Redezeit sah vor, dass jede:r Person so lange sprechen darf, wie sie beansprucht. So kamen die unterschiedlichen Positionen in den Austausch miteinander und reflektierten gemeinsam über unterschiedliche Verständnisse von Gerechtigkeit.
Das demokratische Potenzial eines Kürbisses:
Die letzte Übung bestand aus einem Kürbis und drei Personen, die diesen Kürbis je für sich beanspruchten. Es sollte nun ausgehandelt werden, wie dieser Konflikt gelöst werden konnte. Dafür gab es mehrere Vorschläge, z.B.:
– Keine:r bekommt den Kürbis.
– Der Kürbis wird dreigeteilt.
– Es wird geprüft, wer den Kürbis am nötigsten hat.
– Es wird geprüft, wer den moralisch größten Anspruch auf den Kürbis hat.
– Die durchsetzungsstärkste Person bekommt den Kürbis.
– Personen, die keinen Teil des Kürbisses bekommen, werden mit Ersatzleistungen ausgeglichen.
– Es wird geprüft, wer den Kürbis wann braucht, um anderen möglicherweise später einen zu besorgen.
– Es wird abgestimmt, wer den Kürbis bekommt.
Botschaft dieser Übung war, verschiedene Wege demokratischer und undemokratischer Entscheidungsfindung kennenzulernen. Briem und Knothe vermittelten, dass ein Mehrheitsbeschluss der undemokratischste der demokratischen Weg sei. Vorher könnten viele andere Wege geprüft werden, so etwa auch die Frage, wer den Kürbis wieso benötigt. Idealer-, aber nicht immer realistischerweise sind die Bedürfnisse gar so verschieden, dass sie einander nicht ausschließen: Möglicherweise braucht Person 1 den Kürbis für eine Kürbissuppe, Person 2 möchte lediglich die Kürbiskerne für die Zubereitung eines Salates nutzen und Person 3 möchte den Kürbis aushöhlen, um ihn für Halloween zu nutzen.
In der abschließenden Rückmelderunde äußerten viele Teilnehmende, wie sehr ihnen die Übungen geholfen haben, die eigene Haltung zu reflektieren, die eigene Neigung zu Macht und Kompetitivität zu erfassen, sensibler mit Entscheidungsprozessen vor allem im schulischen Kontext umzugehen, gesund zu streiten lernen, die eigenen Grenzen des Gehorsams zu erkennen, ein Klima von Partizipation in der Schule zu schaffen, Demokratie erfahrbar zu machen und in den Herzen von Schüler:innen zu verankern. Darin liegen zahlreiche und vielfältige Ansätze schulischer Radikalisierungsprävention.