
Zentrale Erkenntnisse (Kurzüberblick für die Praxis)
- Clearing-Ansatz funktioniert auch bei komplexen Extremismusvorfällen (z. B. Hakenkreuz-Schmierereien): Erst Beziehung und Analyse, dann Maßnahmen.
- Finanzierung von Präventionsprojekten ist möglich – und organisierbar: TaskCards mit Fördermöglichkeiten wurden erstellt und stehen im gesamten Netzwerk zur Verfügung.
- Berufsorientierung kann Radikalisierung vorbeugen: Unterstützung bei ganz alltagspraktischen Hürden (Bafög, Bewerbungen, Fahrkarten) stärkt Selbstwirksamkeit und reduziert Anfälligkeit für extreme Narrative.
- Demokratietage entfalten Wirkung nur, wenn Schüler:innen selbst gestalten: Beteiligung, nicht Bespaßung. Demokratie muss Schulkultur werden, nicht Event.
- Kulturelle Lernspiele stärken Empathie: Regeln wechseln, Sprache fehlt – Schüler:innen erleben, wie sich „Fremdsein“ anfühlt.
- Aggressionsacht erklärt Radikalisierung verständlich: Emotion → Frust → Option zu Gewalt oder konstruktivem Ausdruck. „Speakers Corner“ als Methode zur emotionalen Verarbeitung.
- Partizipation schützt vor Radikalisierung: Klare Meldestrukturen (Clearing + Schutzkonzept + aula) ermöglichen Schüler:innen, Probleme selbst einzubringen und Lösungen mitzugestalten.
Am 05. und 06. November 2025 fand das Abschlussmodul der CleaRNetworking-Weiterbildung 2025 statt. Im Mittelpunkt standen die gemeinsame Reflexion und Rückschau auf die vergangenen sieben Weiterbildungsmodule sowie die Darbietung der Abschlusspräsentationen der Teilnehmenden. Sie fand wie bereits im Vorjahr in Form eines Barcamps statt. Veranstaltungsort war das Hotel Gebhards in Göttingen.
Auftakt und das Konzept FreiRaum
Der erste Tag der Weiterbildung begann mit der Einführung durch CleaRNetworking Projektleiter Dr. Junus el-Naggar. Nach der anschließenden gemeinsamen Mittagspause stellte er den Schultandems das Konzept FreiRaum vor. Dabei handelt es sich um einen multifunktionalen Ort in schulischen Räumen, der von Schüler:innen für Rückzug, Gebet, Meditation und moderierte Diskussionen zu von Schüler:innen selbst gesetzten Themen genutzt werden kann. Der FreiRaum baut auf dem Konzept der „Oase“ auf, wie es unser Referent Phlilipp Mohamed Al-khazan bereits in Hamburger Schulen erfolgreich umgesetzt hat. Das Konzept verfolgt u.a. folgende Ziele:
- Die Förderung demokratischer Konfliktfähigkeit von Schüler:innen durch die Schaffung eines schulinternen sozialen Ortes dafür;
- Die Förderung der Anerkennung vielfältiger Identitäten und Herkünfte der Schüler:innen;
- Die Schaffung eines sicheren Ortes für Ruhe, Andacht und Sicherheit;
- Ein Raum für Diskussion, Meinungsaustausch und moderierte Konflikte außerhalb vorgegebener Unterrichtsstrukturen;
- Schulisches Personal kann Themen einbringen, die im regulären Unterricht keinen Platz finden;
Ein solcher Raum müsse zwingend inklusiv für alle Schüler:innen unabhängig von Religion oder Weltanschauung geöffnet sein, so el-Naggar. „Der FreiRaum ist kein Gebetsraum, sondern ein Raum für alle“. Die darin besprochenen Themen sollten daher nicht im Vorhinein unnötig beschränkt werden, um Interessen aus der Schüler:innenschaft nicht bereits im Voraus abzuwürgen. Um diesen Anspruch zu erfüllen, biete es sich an, die im Raum geltenden Gesprächs- und Verhaltensregeln gemeinsam mit den Schüler:innen zu erstellen (z.B. das “Recht auf Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes“) und dies von Beginn an klar zu kommunizieren. Dies stärke Verantwortung und Akzeptanz aufseiten der Schüler:innen. Wichtig sei zudem, dass in diesen Räumen nicht problemorientiert, sondern beziehungsorientiert gearbeitet werde. „Schüler:innen sollten nicht als ‚Problembringer:innen‘ wahrgenommen werden“, betonte el-Naggar.
Wie das Clearing-Verfahren, müsse auch das FreiRaum-Konzept in schulische Strukturen implementiert werden, so der Projektleiter. Für eine gelingende Umsetzung müssen Schulen etwa die folgenden Aspekte diskutieren:
- Raum: Welchen Raum können & wollen wir nutzen? Zonen für Rückzug & Diskussion. Gestaltung ohne Unterrichtscharakter –von Schüler:innenpartizipativ entwickelt.
- Zielgruppe: Für alle Jahrgangsstufen offen?
- Kommunikation: Wie kommunizieren mit Kollegium, Schüler:innen, Eltern?
- Betreuung: Idealerweise zwei (beliebte) Betreuungspersonen unterschiedlichen Geschlechts. Entscheidend sind Beziehungsarbeit, Sensibilität und Moderationsfähigkeit –nicht die Berufsbezeichnung.
- Nutzungszeiten: Wie Öffnungszeiten & Zugang organisieren? Mindestens täglich Mittagspause.
- Neutralität & Rechtliches: Aufsichtsperson während Nutzung stets anwesend.
- Regeln: Wen wie weit partizipieren lassen? Was tun bei Missbrauch für missionarische oder politische Zwecke? Wie religiöse/politische Spannungen moderieren? Möglichst wenige Regeln.
- Nachhaltigkeit: Wie Erfolg & Wirkung messen? Wie Nachhaltigkeit nach Projektende sichern? Wie übertragen (auf andere Bundesländer, Schulformen, Jahrgangsstufen)?
Das Barcamp: Ideen sammeln, bearbeiten und umsetzen
An die Vorstellung des FreiRaums schloss der Hauptteil des Abschlussmoduls an: Ein Barcamp. Bei diesem Format gibt es keinen fest vorgegebenen Arbeitsauftrag und keine Anleiter:innen. Die Teilnehmenden finden sich eigenständig zu Arbeitsgruppen zusammen, die eigene Fragestellungen im Rahmen eines übergreifenden Themas bearbeiten. Für das Abschlussmodul lautete das breite Thema wie im Vorjahr: Aspekte schulischer Radikalisierungsprävention. Wichtig war nur, dass die Arbeitsgruppe am Ende ein ‚Produkt’ erarbeitete, das die jeweilige Arbeitsgruppe und idealerweise das ganze Plenum über das Ende der Weiterbildung hinaus mitnehmen könne.
Die Projektleitung bat die Teilnehmenden zudem darum, möglichst abwechslungsreiche Darbietungsmethoden zu bedienen; also nicht nur Power Point, Flipcharts oder die Pinnwand zu nutzen, sondern alle möglichen kreativen und unterhaltsamen Methoden. Die Ergebnisse der Gruppenarbeiten stellten die Teilnehmenden am zweiten Weiterbildungstag während ihrer Abschlusspräsentationen vor. In der Anliegenphase fanden sich insgesamt acht Gruppen aus verschiedenen Schultandems zusammen, die ihre Ideen in der anschließenden Arbeitsphase in die Tat umsetzten. Dafür erhielten die Teams den Rest des ersten Weiterbildungstages Zeit.
Für den Abschluss des ersten Weiterbildungstages kamen alle Teilnehmenden und das Projekt-Team noch einmal zu einem letzten „bunten Abend“ zusammen, an dem all jene, die Lust hatten, ihre besonderen Talente vorstellen konnten. Gleichzeitig war der Abend eine gute Gelegenheit, um die Weiterbildung gemeinsam ausklingen zu lassen und Rückschau zu halten.
Der zweite Tag des Abschlussmoduls stand ganz im Zeichen von Praxis, Kreativität und dem sichtbaren Ergebnis eines Jahres intensiver Zusammenarbeit. Nach der thematischen Gruppenfindung am Vortag präsentierten die sieben Projektgruppen ihre Ergebnisse. Was sie gemeinsam hatten: Alle wollten Radikalisierungsprävention im Schulalltag umsetzbar machen – nachhaltig, niedrigschwellig und ressourcenschonend.
Theaterstück: Wie der Clearing-Ansatz in einer Krise funktioniert
Die erste Gruppe eröffnete mit einem Theaterstück – einer Dienstbesprechung wegen wiederholter Hakenkreuz-Schmierereien. Anstelle reflexartiger Anzeigen oder reiner Strafmaßnahmen zeigte das Stück den Clearing-Prozess Schritt für Schritt: Beziehung zu beteiligten Schüler:innen, Clearing-Team, Unterstützungsangebote, Einbindung externer Stellen.
Die Gruppe entwickelte zusätzlich eine TaskCard mit Finanzierungsmöglichkeiten für schulische Präventionsprojekte. Diese ist nun im Netzwerk verfügbar und wird gemeinsam weiter ergänzt – ein wachsendes Tool für konkrete Projektplanung.
Regionale TaskCard: Bereits umgesetzt – erstes Beispiel aus Bremen
Gruppe 2 knüpfte direkt an und erstellte bereits eine vollständige TaskCard für Bremen mit lokalen externen Partnern, Vorlagen für Elternkommunikation und Methoden aus der Weiterbildung. Für Schulen entstehen so kurze Wege: „An wen kann ich mich morgen wenden?“
Biografiearbeit: Wie Schule Entwicklungswege mitbestimmt
Gruppe 3 präsentierte künstlerisch zwei entgegengesetzte Lebensläufe einer Schülerin.
Szenario A: Orientierung an Tradwife-Accounts („kochen, schön sein, Mann glücklich machen“) – schnelle Zugehörigkeit durch einfache Rollenbilder.
Szenario B: Unterstützung durch Schule beim Beantragen von Bafög, Wohnungssuche, Ausbildungsplatz.
Die Botschaft: Orientierungslücken machen empfänglich für radikale Narrative – Selbstwirksamkeit schützt.
Die Gruppe plant, einen Ratgeber mit lebenspraktischen Infos zu entwickeln (z. B. „Wie beantrage ich Wohngeld?“).
Berufsberatung ist auch eine Form der Prävention – aber nur, wenn sie nicht mechanisch abgearbeitet wird, sondern als Beziehungsarbeit verläuft.
Demokratietag als Schulkultur – nicht als Event
Gruppe 4 nutzte die gesetzliche Pflicht zum Demokratietag in Bremen und fragte: Wie wird Demokratie spürbar? Sie sammelten Themen wie Vielfalt, Medienkompetenz, Erinnerungskultur, Ehrenamt und schlugen vor, Schüler:innen selbst Angebote entwickeln zu lassen (Stände, Workshops, Basare).
Ein externer Partner wurde besonders empfohlen: „Grundgesetz verstehen“ (ehrenamtliche Jurist:innen, bundesweit, kostenfrei)
Ein Demokratietag bedeutet Mitgestaltung statt Bespaßung. Demokratie übt man, indem man sie ausübt.
Kultursimulation: „CultuRallye“ – Regeln ohne Sprache
Gruppe 5 ließ alle Teilnehmenden ein Kommunikationsspiel spielen. Unterschiedliche Gruppen hatten verschiedene Spielregeln an ihren jeweiligen Tischen, reden war verboten, Personen wechselten nach jeweiligen Runden ihre Tische. Erst danach folgte die Auswertung. Erkenntnisse, die sich in der anschließenden Reflexionsrunde offenbarten, waren etwa die Unsicherheit, die durch Fremdheit erzeugt werden kann. Ohne Orientierung sucht man nach Machtmustern. Und kulturelle Regeln sind selten sichtbar, aber hoch wirksam. Das Spiel ist Ideal einsetzbar zu Beginn einer Klassengemeinschaft oder im Sozialkompetenztraining.
Aggressionsacht: Wut verstehen, bevor sie eskaliert
Gruppe 6 stellte die Aggressionsacht vor, ein Modell zur Unterscheidung zwischen konstruktivem (grün) und destruktivem (rot) Umgang mit Wut [1].
Die Methode wurde sofort mit schulischen Beispielen gefüllt:
Ein Teilnehmender nutzt die „Speakers Corner“ im Unterricht, in der Schüler:innen möglichst ungefiltert ihre Meinungen sammeln können und sie dann gemeinsam einordnen. Schüler:innen können selbst markieren, wo auf der Acht sie gerade stehen. Wut bekommt so Raum – ohne Gewalt als Ausdrucksform notwendig zu machen.
Partizipation, Meldestrukturen und aula
Die letzte Gruppe setzte den Fokus auf partizipative Prävention. Mit einer Bildergeschichte zeigten sie, wie eine Schülerin („Anna“) Hilfe sucht, weil ihr Freund in eine rechte Szene abrutscht. Das Clearing-Team arbeitet mit aula – einem digitalen Beteiligungstool, mit dem Schüler:innen Ideen einbringen, kommentieren, überarbeiten und abstimmen können. Wenn Schüler:innen gestalten dürfen, brauchen sie keine radikalen Räume, um gehört zu werden. Ein ganzheitliches Präventionssystem kann aus Clearing, einem Schutzkonzept und aula bestehen.
Verabschiedung: Göttingen-Rallye, Zertifizierung, Würdigung
Den Abschluss bildete eine Rallye durch Göttingen – als bewusster Perspektivwechsel nach einem Jahr intensiver fachlicher Auseinandersetzung. Gemeinsam unterwegs sein, lachen, lösen, entdecken – Teambuilding ohne Theorie. Zum Ende wurden noch die Sieger:innen geehrt und die Teilnehmenden erhielten ihre Weiterbildungszertifikate. Abschließend wurde die gesamte Weiterbildung noch gemeinsam nachreflektiert. Das Modul zeigte, wie aus einem Jahr Weiterbildung konkrete Werkzeuge für Schulen entstanden sind: TaskCards, Methoden, Spiele, Beteiligungsformate, neue Routinen. Jede Gruppe stellte etwas vor, das unmittelbar in einer Schule anwendbar ist.
CleaRNetworking hat keine fertigen Lösungen produziert – sondern Fachkräfte befähigt, Lösungen zu entwickeln.]:
Literatur:
[1] Sam-Concept GmbH (o.J.): Die Entstehung von SAM. Online verfügbar unter: https://sam-concept.eu/die-entstehung-von-sam/
Initiativen, die über das Ende der Weiterbildung hinaus bleiben: Weiterbildungsmodul 8 (25) - Abschluss, 05.-06.11.25, Göttingen