Von 17.01.-18.01.2024 fand das erste Modul unserer CleaR-Networking-Weiterbildung 2024 im Essener Hof statt. Das Modul diente dazu, in die Grundlagen des Clearing-Verfahrens einzuführen, einen Überblick der kommenden Module zu geben, erste Vernetzungen zwischen den Teilnehmer:innen anzustoßen und die Schulleitungen, die nur am ersten der acht Module teilnehmen, das Clearing-Verfahren und unsere Ansätze zu präsentieren.

Die Prämissen des Clearing-Verfahrens
Am Beginn des ersten Fortbildungstages stellte unser Projektleiter Dr. Junus el-Naggar das Konzept von CleaRNetworking vor und führte in die Inhalte der kommenden Module ein. Anschließend stellte Prof. Dr. Michael Kiefer (Professur für Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft) von der Universität Osnabrück die Prämissen des Clearing-Verfahrens vor. Dazu zählen etwa die folgenden:

  • Gemeinsames Präventionsziel: Wogegen soll Prävention arbeiten?
  • Multiprofessionalität: Sind alle relevanten Akteur:innen Teil des Clearing-Teams?
  • Verantwortung: Wer trägt im Clearing-Team die Verantwortung?
  • Melde-, Kommunikations- und Handlungsroutinen: Wer informiert wann wen worüber?
  • Verabschiedung von der Kontrollillusion: Radikalisierungs- und Präventionsprozesse lassen sich nur schwer steuern

Die Einhaltung dieser Prämissen sei für den Erfolg des Clearing-Verfahrens essenziell, so Kiefer. Besonders die Definition eines gemeinsamen Präventionsziels sei dabei von großer Bedeutung, damit das gesamte Clearing-Team ein gemeinsames Verständnis von Prävention habe. Dies sei die Grundlage aller späteren Arbeit. Ebenso klare Verantwortlichkeiten, Melde-, Kommunikations- und Handlungsroutinen. Dadurch würden unnötige Doppelstrukturen vermieden. Übergeordnetes Ziel des Clearing-Verfahrens sei es dabei immer, die Schüler:innen „in der Schule zu behalten“, also zum Schulabschluss zu bringen. Saktion(sandrohung)en bei Fehlverhalten seien dabei in der Regel wenig hilfreich, so der Referent. Besser sei es, gemeinsam mit den Schüler:innen nach Lösungen zu suchen. Denn grundsätzlich hätten ja auch diese ein Interesse daran, einen Schulabschluss zu erreichen.

Die 7 Schritte des Clearing-Verfahrens
Anschließend stellte Kiefer die sieben Schritte des Clearing-Verfahrens vor [1]. Es handele sich dabei um ein hochstrukturiertes Verfahren zur Problemerkundung, so der Referent. Denn nicht jeder potenzielle Fall einer Radikalisierung, der an das Clearing-Team herangetragen werde, stelle sich am Ende auch als ein solcher heraus. Wir haben schon häufiger auf das Verfahren verwiesen, etwa hier oder hier.

1. Die Vorrecherche: Die Vorrecherche dient dazu, herauszufinden, ob es sich bei an Clearingbeauftragte herangetragenen Hinweisen auf mögliche Radikalisierung tatsächlich um Anhaltspunkte für eine beginnende Radikalisierung handelt. Dazu werden Gespräche mit der Lehrkraft, die den initialen Hinweis gab und ggf. mit weiteren geführt. Stellen sich die Hinweise als unzutreffend heraus, kann das Verfahren schon an dieser Stelle abbrechen.

2. Das Clearing-Team: Halten die Clearingbeauftragten nach Sichtung der Hinweise eine Radikalisierung für möglich, wird ein Clearing-Team einberufen, um alle relevanten schulischen Akteur:innen zu informieren und nächste Schritte zu planen. Die Schulleitung sollte immer Mitglied des Clearing-Teams sein. Je nach Fall können weitere schulinterne (z.B. Schulsozialarbeit, Schulpsychologie) oder externe (z.B. Jugendamt, Trainer:innen aus Sportvereinen) einbezogen werden.

3. Vertiefte Recherche: In der vertieften Recherche macht sich das Clearing-Team ein ausführliches Bild der Lage bzw. des Falls. Die Clearingbeauftragten erstellen mit dieser Methode eine Analyse des sozialen Umfeldes des:der betroffenen Jugendlichen, vor allem durch Gespräche mit Eltern, Jugendlichen und Lehrkräften oder anderen Schlüsselpersonen. Hierbei können Ressourcen für die weitere Fallbearbeitung generiert werden.

4. Beschluss von Maßnahmen: Die pädagogische Fachkraft ruft erneut das Clearingteam zusammen und stellt die Ergebnisse der vertieften Recherche vor. Gemeinsam berät das Clearing-Team über adäquate pädagogische Maßnahmen und orientiert sich an gemeinsam vereinbarten Zielen, die im Clearingverfahren erreicht werden sollen.

5. Durchführung von Maßnahmen: Hier ist es wichtig, dass alle Mitwirkenden gegenüber dem:der Jugendlichen Präsenz zeigen und als Allianz auftreten. Maßnahmen können an verschiedene schulische Akteur:innen delegiert werden.

6. Evaluation der Maßnahmen: Nach einer vorher festgelegten Zeitspanne wird das Clearing-Team erneut zusammengerufen. Gemeinsam wird überprüft, ob die Maßnahmen zum Ziel geführt haben oder ob man gegebenenfalls umsteuern muss.

7. Weiterführung der Maßnahmen: Die Schritte sechs und sieben können laut Kiefer beliebig oft wiederholt werden, bis die Ziele im jeweiligen Fall erreicht sind.

 

Annäherung an die Konzepte Prävention und Radikalisierung
Anschließend ging unser Projektleiter Dr. Junus el-Naggar in seinem Vortrag näher auf das Begriffspaar Prävention und Radikalisierung ein. Er betonte im Einklang mit Kiefer, dass gelingende Prävention ein einheitliches Verständnis von Konzepten und Begrifflichkeiten voraussetze, um ein gemeinsam geteiltes Bewusstsein bei allen Beteiligten des Clearing-Teams zu schaffen. Ziel sei es nicht, dass das Clearing-Team wissenschaftliche Definitionen „rauf und runterbeten“ könnten, betonte el-Naggar. Ihm ging es eher darum, die Teilnehmer:innen für die Vielschichtigkeit von Radikalisierungsprozessen und die Vielfalt verschiedener Präventionskonzepte zu sensibilisieren. Im Projekt orientieren wir uns an den Ausführungen Bröcklings zu Prävention:

Man tut etwas, bevor ein bestimmtes Ereignis oder ein bestimmter Zustand eintreten, damit diese nicht eintreten oder zumindest der Zeitpunkt ihres Eintretens hinausgeschoben wird oder ihre Folgen begrenzt werden.“  [2]

Unser Verständnis von Radikalisierung umfasst „gewaltorientierte, menschenfeindliche und demokratiefeindliche Äußerungen, Einstellungen und Handlungen“ [3] Gleichzeitig arbeiten wir für „Ambiguitätstoleranz, demokratische Haltung, die Offenheit für neue Perspektiven und individuelle Ressourcen fördern“ und orientieren uns dabei an folgendem Maßstab:

„Handlungsleitend [ist] die Orientierung, dass die Freiheit des Einen dort endet, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“ [4]

Anstoß zur Entwicklung schulischer Radikalisierungspräventionskonzepte
Der zweite Tag der Fortbildung stand im Zeichen der Präventionspraxis an den teilnehmenden Schulen. Aufbauend auf el-Naggars interaktivem Beitrag legten die Teilnehmer:innen in einer Arbeitsphase die Grundlage für ein Radikalisierungspräventionskonzept an jeder einzelnen Schule. Dabei zeigte sich, dass die Schulen von ganz unterschiedlichen Standpunkten in der Prävention starten. Während es an einigen Schulen bereits ein eigenes Präventionskonzept gibt, etwa zur Gewaltprävention, an dem die Teilnehmer:innen weiterarbeiten können, machen sich andere Schulen im Rahmen unserer Weiterbildung erstmals Gedanken über die Erstellung eines Präventionskonzeptes.

 

Gruppenarbeit zum Umgang mit Fällen von Radikalisierung
Aufbauend auf den vorgenannten Konzepten diskutierten die Teilnehmer:innen in Kleingruppen aktuelle und/oder in der Vergangenheit aufgetretene Fälle von Radikalisierungen an ihren jeweiligen Schulen. Dabei entwickelte sich eine lebhafte Diskussion unter den Teilnehmer:innen über mögliche Wege und Maßnahmen, mit den vorgestellten Fällen umzugehen.

 

Erfahrungen der Implementierung schulischer Radikalisierungsprävention

Vier Jahrgänge haben die CleaR-Networking-Weiterbildung bisher durchlaufen. Welche Erfahrungen haben diese Jahrgänge mit der Implementierung des Verfahrens bisher gemacht? Dazu hatte das CleaRNetworking-Team Johannes Schwartzkopf vom Oberstufenzentrum Medizin- und Informationstechnik (OSZ IMT) in Berlin und Christoph Michel von der Friedrich-Ebert-Realschule in Hamm eingeladen. Das OSZ IMT gehört zu einer der ersten Projektschulen, an der in der ersten Projektphase eine pädagogische Fachkraft aus dem CleaR-Team tätig war, während die Friedrich-Ebert-Schule am Weiterbildungs-Jahrgang 2023 teilnahm. Beide Referenten stellten zunächst den aktuellen Stand der Implementierung an ihren Schulen in einem Kurzinput vor. Anschließend gab es eine Fishbowldiskussion, bei der sich die Referenten den Fragen des Publikums stellten. Dabei wurde deutlich, dass jede Schule eigene Herangehensweisen und Schwierigkeiten bei der Implementierung hat. Es zeigten sich aber auch Gemeinsamkeiten: Ohne die Rückendeckung des Kollegiums gehe es nicht, waren sich Schwartzkopf und Michel einig. Das Clearing-Verfahren sei kein Selbstläufer. Es müsse immer wieder im schulischen Alltag bekannt gemacht werden, etwa im Rahmen der Schulkonferenz oder im individuellen Gespräch mit Kolleg:innen.

 

Psychologische Erklärungsversuche von Radikalisierung

Zum Abschluss des Moduls referierten Torben Hollin und Stefan Vieres vom Projekt Evoluo des Vereins IFAK e.V. über psychologische Erklärungsfaktoren von Radikalisierung. Über radikalisierungsförderliche Faktoren wie auch Schutzfaktoren verfügten alle Menschen in ihrem Umfeld, so die Referent:innen. Die mitunter gehörte These, wonach bestimmte Gruppen per se anfälliger für Radikalisierung wären, sei nicht haltbar. Anschließend stellten die Referenten verschiedene Faktoren und Erklärungsmodelle für Radikalisierung vor. Während manche Autor:innen Radikalisierung als eine Art Fahrstuhl, Leiter oder Fließband konzipierten, gingen systemische Ansätze eher davon aus, dass Radikalisierung wie auch Prävention kein linearer Prozess seien, sondern sich vielmehr durch Unterbrechungen, Sprünge und manchmal auch Abbrüche auszeichneten.

Wo und wann aber werde Radikalisierung zu einem Problem, fragten die Referenten? Die klassische Antwort auf diese Frage: Wenn es zu (dehnbar definierbarer) Gewaltanwendung gegen sich und andere komme. Aber nicht jeder Fall von Radikalisierung hat Gewalt zum Endpunkt. In ihrer eigenen Arbeit gehe es daher vielmehr darum, gemeinsam mit den Beratungspersonen nach einer Lösung für deren Probleme zu suchen und mögliche Schutzfaktoren (z.B. Familie, Freunde, Hobbies, Religion) zu finden.

Das Einführungsmodul unserer Weiterbildung gab einen Ausblick auf die kommenden Monate, zeigte die komplexen Voraussetzungen der schulischen Implementierung von Radikalisierungsprävention auf, führte in die 7 Schritte eines Clearing-Verfahrens ein, stellte zentrale Begrifflichkeiten zur Diskussion, stieß die Entwicklung schulischer Radikalisierungspräventionskonzepte an, schaffte ersten Austausch über aktuelle Fälle und schaffte einen Überblick über psychologische Hintergründe von Radikalisierung. Auf dieser Grundlage wollen wir in den nächsten Monaten weiter in die Tiefe gehen.

Literatur:
[1] Kiefer, Lisa; Kiefer, Michael; Wurzel, Hanne; Stuppert, Wolfgang; Sträter, Till (2019): CleaR – Clearing Verfahren gegen Radikalisierung. Praktische Handeichung zur Radikalisierungsprävention im schulischen Kontext. Hg. v. Aktion Gemeinwesen und Beratung e.V., S. 31-34, online verfügbar unter https://www.clearing-schule.de/veroeffentlichung-der-handreichung-zum-modellprojekt/.

[2] Bröckling, Ulrich (2008). Behemoth. A Journal on Civilisation, 1 (38–48), S. 38. Online verfügbar unter: https://www.soziologie.uni-freiburg.de/personen/broeckling/dokumente/3-pravention-behemoth.pdf

[3] Kiefer, Lisa; Kiefer, Michael; Wurzel, Hanne; Stuppert, Wolfgang; Sträter, Till (2019): CleaR – Clearing Verfahren gegen Radikalisierung. Praktische Handeichung zur Radikalisierungsprävention im schulischen Kontext. Hg. v. Aktion Gemeinwesen und Beratung e.V., S. 12, online verfügbar unter https://www.clearing-schule.de/veroeffentlichung-der-handreichung-zum-modellprojekt/.

[4] Ebd.