Von 06. bis 07.03. fand das zweite Modul im CleaRNetworking für das Jahr 2024 im Hotel Intercity in Magdeburg statt. Der Schwerpunkt lag auf den rechtlichen Rahmen schulischer Radikalisierungsprävention. Dafür waren wie bereits im Vorjahr der emeritierte Prof. Dr. jur. Klaus Riekenbrauk sowie die Lehrerin und politische Bildnerin Gabi Elverich eingeladen. Die Themen des Moduls lagen in den strafrechtlichen Bestimmungen im Kontext von radikalisiertem Verhalten, in der Anzeigepflicht, in den schulrechtlichen Vorgaben der unterschiedlichen Bundesländer der Teilnehmenden, in der Kindeswohlgefährdung, im Datenschutz, der Schweigepflicht und Offenbarungsbefugnissen und -pflichten.
Vermittelt wurde den Teilnehmenden unter anderem, dass es sich bei dem skizzierten rechtlichen Rahmen auch um einen solchen, um einen Rahmen nämlich, handelt, der also gewissen Spielraum bietet. Recht, das war eine zentrale Erkenntnis für mehrere Teilnehmende, ist nicht so starr, wie man meinen könnte.
Jugendstrafrecht und Erwachsenenstrafrecht
Mit Blick auf das Jugendstrafrecht ging Riekenbrauk auf die unterschiedlichen Mündigkeiten je nach Alter der Kinder/Jugendlichen ein. Unter 14 Jahren sind Kinder strafunmündig; zwischen 14 und 17 Jahren werden sie nach dem Jugendgerichtsgesetz [1] behandelt, das sich vom Strafrecht für Erwachsene unterscheidet, etwa indem Sanktionen aufgrund des Erziehungsgedankens tendenziell begrenzt werden und eine frühzeitige Haftentlassung früher als bei Erwachsenen möglich ist. Zwischen 18 und 20 Jahren können die Betroffenen je nach geistiger Entwicklung nach Jugendgerichtsgesetz oder nach Erwachsenenstrafrecht behandelt werden.
In diesem Zusammenhang zeigte sich die Macht, die Richter:innen im Rahmen eines Gerichtsverfahrens inne haben. Ob nach JGG oder Erwachsenenstrafrecht geurteilt wird, liegt im Ermessen des jeweiligen Richters bzw. der jeweiligen Richterin. Auch sind etwa psychiatrische Gutachten in diesem Zusammenhang lediglich eine unverbindliche Unterstützung in der Urteilsfindung. Im Rahmen des Vergleichs der schulrechtlichen Vorgaben zwischen Bayern und NRW ergaben sich etwa insofern Unterschiede, als die Wahrscheinlichkeit, als 19-jährige:r nach Erwachsenenstrafrecht beurteilt zu werden, in Bayern tendenziell höher ist, als in NRW.
Riekenbrauk wies außerdem auf den Erziehungsgrundsatz im Strafrecht hin, nach dem Ziel von Strafe nicht Vergeltung oder Generalprävention sein darf, sondern ausschließlich der Verhinderung zukünftiger Straffälligkeit. Er beschränkte sich in seinem Vortrag außerdem nicht auf die trockene Frontalvermittlung der relevanten Inhalte, sondern warf stets einen kritischen Blick auf die eigene rechtliche Fachpraxis, wie einige Teilnehmende später auch rückmeldeten.
Rechtliche Sanktionen haben auch einen Erziehungsauftrag
Ein weiteres Thema von Riekenbrauks Vortrag war die Unterscheidung zwischen verschiedenen Sanktionen (z.B. Arbeitsstunden, soziale Trainingskurse, Wohnen bei einer Familie, Täter-Opfer-Ausgleich, Verkehrsunterricht) und Zuchtmitteln (z.B. Haft). Maßstab für die Auswahl einer bestimmten Maßnahme sei dabei stets die Frage, ob diese geeignet sei, das mit derselben verbundene Erziehungsziel zu erreichen.
Konkret widmete sich die Gruppe auch den unterschiedlichen Straftatbeständen von der Volksverhetzung über die Aufforderung zu Gewalt, Gewaltdarstellungen bis zu Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen. Wo also findet die ja grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit ihre Grenzen?
Kontrovers diskutiert wurden etwa die Fragen nach den Unterschieden zwischen dem Billigen, dem Verherrlichen oder dem Rechtfertigen; was bedeutet also Gutheißen, was Bestreiten von Tatsachen, was bagatellisieren? Handelt es sich beim Schulhof um öffentlichen Raum und gelten die entsprechenden rechtlichen Grundsätze?
Schulische Präventionspraxis und Anzeigenpflicht
Hingewiesen wurden die Teilnehmenden auch auf die Anzeigepflicht. Erfährt eine Lehrkraft beispielsweise von einem begangenen Mord, so ist sie grundsätzlich nicht verpflichtet, diesen zur Anzeige zu bringen. Erlangt sie jedoch Kenntnis von einem geplanten Mord, dann ist sie dazu verpflichtet, um ihn zu verhindern. Immer wieder kam dabei die praktische Frage auf, inwiefern schulisches Personal Fälle anzeigen soll oder sie pädagogisch angehen und Staatsgewalt raushalten soll.
Riekenbrauk ging auf die Rolle von Jugendämtern ein, die Gefährdungsrisiken einschätzen müssen. Die Verpflichtung schulischen Personals, bei den Erziehungsberechtigten im Falle von fortschreitender Radikalisierung auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinzuwirken, bedeute eine Meldung ans Jugendamt. Ein Jugendamt muss dann eine beratende Fachkraft zur Verfügung stellen, was aber in der Praxis häufig nicht passiert. Das schulische Personal hat dann gar einen Anspruch darauf, zu erfahren, was das Jugendamt unternommen hat. Hat sich die Gefährdung also etwa bestätigt; ist man tätig geworden?
Datenschutz in der schulischen Präventionsarbeit
Während Datenschutz grundsätzlich den Informationsfluss sperrt, ist (verbeamtetes) schulisches Personal unter Umständen verpflichtet, die Schulleitung über Fälle von Radikalisierung zu informieren. Auch die Weitergabe von Daten ans Jugendamt ist dann zulässig, wenn dies zur Erfüllung der ihnen durch Rechtsvorschriften übertragenen Aufgaben erforderlich ist. Es ging also um die Balance zwischen Datenschutz und notwendiger Kommunikation im Rahmen von Radikalisierungsprävention. In dem Zusammenhang relevant ist auch die Schweigepflicht, denn wer unbefugt ein fremdes Geheimnis offenbart, das ihm anvertraut worden oder sonst bekannt geworden ist, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Praktisch stellt sich die Frage, wie schulisches Personal vorgeht, wenn ein:e Schüler:in von sexuellem Missbrauch erzählt und zugleich darauf besteht, dass die Information nicht weitergegeben wird. Was wiegt dann schwerer? Die Schweigepflicht oder das Rechtsgut der freien sexuellen Entwicklung?
Schulrechtliche Rahmenbedingungen in der Schulpraxis
Der Legalitätsgrundsatz besagt, dass die Polizei bei Kenntnis von strafbarem Verhalten zur Ermittlung verpflichtet ist. In diesem Zusammenhang wurden die juristischen Perspektiven Riekenbrauks um die Praxisperspektive Dr. Gabi Elverichs ergänzt. Zwar seien rechtliche Perspektiven auf Radikalisierungsprävention für schulisches Personal von großer Bedeutung, betonte die Referentin. Schulische Prävention:sakteur:innen sollten ihrer Ansicht nach jedoch vor allem ihre pädagogischen Kompetenzen in die Radikalisierungsprävention bzw. die Beziehungsarbeit mit Schüler:innen einbringen.
Das in dieser Hinsicht oft zitierte politische Neutralitätsgebot der Schule bedeute in der Hauptsache, dass Lehrer:innen im Unterricht keine Politik machen dürften, sondern sich parteipolitisch neutral zu verhalten hätten. Denn wie „Schülerinnen und Schüler können sich auch Lehrerinnen und Lehrer auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit berufen. Wenn Schülerinnen und Schüler sich in der Schule politisch äußern, können Lehrerinnen und Schüler gefordert sein, pädagogisch zu reagieren“, wie Joachim Wieland vor einigen Jahren in einem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung gezeigt hat [2]. Beim Entgegenwirken verfassungsfeindlicher Bestrebungen handele es sich somit um einen gesetzlichen Auftrag, so Elverich.
Sie verwies zudem auf den Beutelsbacher Konsens, nach dem Schüer:innen nicht zu überwältigen sind und Kontroversität in der Vermittlung kontroverser Inhalte aufrechtzuerhalten seien [2]. Schule müsse per se diskriminierungskritisch sein, wenn sie ihre eigenen gesetzlichen Grundlagen ernst nehme.
Diskriminierungskritische Schule im Alltag
Wie aber kann Schule eine diskriminierungskritische Haltung im Alltag praktisch umsetzen? Hierzu gab Elverich ein alltagspraktisches wie anschauliches Beispiel: Sie schlug vor, im Falle von schulischem Personal als problematisch oder zunächst einmal als unbekannt wahrgenommenen Stickern, Logos oder T-Shirts auch mal bei den Schüler:innen nachzufragen, was diese bedeuten würden.
Nehme man Veränderungen bei Schüler:innen wahr, gelte es diese zu spiegeln, auch emotionale Sorge auszudrücken, dabei aber stets die Unschuldvermutung gelten zu lassen, den Respekt vor der Person zu wahren und Fragen als Denkanstöße zu formulieren. „Es gibt ein Verhalten, das sanktioniert wird, ich arbeitete aber trotzdem mit dir als Person weiter [zusammen]“, gab Elverich den CleaRNetworking-Teilnehmer:innen als Prämisse an die Hand. Es gelte außerdem, die eigenen Vorgaben nicht nur für Schüler:innen gelten zu lassen, sondern sich als Lehrkraft auch selbst daran zu halten, Vertraulichkeit zu bewahren, in der Pause den Klassenraum zu verlassen, etc.
Kritisch bemerkte Elverich, vermeintliche religiös begründete Radikalisierung werde in Schulen tendenziell früh problematisiert und dramatisiert, während für Rechtsextremismus größeres Verständnis herrsche. Sie wies außerdem auf die Wichtigkeit davon hin, schulische Konzepte, Strategien und Regeln zu verschriftlichen, um eine gemeinsame verbindliche Grundlage zu haben.
Rechtsextreme Symbole im Schulalltag erkennen: Die Datenbank von Nina-NRW
Oftmals fällt es schulischem Personal im Schulalltag schwer, auf den ersten Blick zu erkennen, ob Symbole, Lieder, Texte etc. nicht nur aus ihrer Sicht problematisch, sondern auch gesetzlich verboten sind. Eine willkommene Unterstützung stellte hierbei die von Riekenbrauk vorgestellte Internetseite Nina-NRW [3] dar. Schulisches Personal findet dort Infomaterial und pädagogische Handreichungen zum Umgang mit rechtsextremen Inhalten. Zudem bieten die Betreiber:innen eine Übersicht rechtsextremer Codes und Symbole, zum Nachlesen. Die Datenbank ist übersichtlich nach einem Ampelsystem strukturiert. Strafbare Symbole werden mit einem roten, teilweise verbotene Symbole mit einem gelben und erlaubte Symbole mit einem grünen Punkt dargestellt. Praktisch: Zu jedem Symbol/Code gibt es eine kurze und übersichtliche Einordnung.
Kollegiale Fallberatung
Den Abschluss des Weiterbildungsmoduls bildete eine kollegiale Fallberatung, die sich vom juristischen Schwerpunkt löste. Hierzu hatte ein Schultandem einen konkreten Fall aus dem eigenen Schulalltag mitgebracht, der anschließend im Plenum besprochen wurde. Das Projektteam hatte sich ein strukturiertes Vorgehen in zehn Schritten überlegt, das sich bereits in anderen Kontexten bewährt hat:
- Rollenverteilung
- Fallschilderung
- Verständnisfragen
- Auftragsklärung
- Austausch I: Fachliche Einordnung
- Austausch II: Lösungsvorschläge
- Präsentation der Lösungsvorschläge
- Rückfragen durch Fallgeber:in
- Bestimmung nächster Schritte
- Feedback
In einem ersten Schritt wurden zunächst die Rollen verteilt, die alle Teilnehmer:innen während der Fallberatung übernehmen sollten. Das Schultandem, das den Fall mitgebracht hatte, übernahm dabei die Rolle der Fallgeber:innen. Anschließend wurden die Moderation sowie eine Sprecherin bestimmt. Die Moderation nahm die Wortmeldungen der Teilnehmer:inne auf und achtete zudem auf die Zeit. Die Sprecherin notierte sich wichtige Aspekte im Diskussionsverlauf, notierte die im Plenum gefundenen Lösungsvorschläge und spiegelte diese anschließend geordnet an die Fallgeber:innen zurück. Die anderen Teilnehmer:innen fungierten als Plenum.
Anschließend schilderten die Fallgeber:innen die Fallgeschichte, von den ersten Hinweisen, bis zur Gegenwart. In ihrer Erzählung wurde aufs Neue deutlich, dass sich Fälle einer vermeintlichen Radikalisierung langsam aus zunächst mehrdeutigen Hinweisen zusammensetzen, also nicht gewissermaßen „vom Himmel fallen“, sondern sich erst mit der Zeit von einem Vor-Fall zu einem Fall (für das Clearingteam) entwickeln. Ein/e Schüler:in hatte in einer klasseninternen Chatgruppe antisemitische Äußerungen getätigt und diese auch später im Unterricht wiederholt. Die besonderes Herausforderung dieses Falles sei es gewesen, diesen zunächst einmal in allen Facetten kennenzulernen. Zur Fallklärung führten die Fallgeber:innen viele Gespräche mit dem/der betroffenen Schüler:in, Eltern und Lehrkräften. Dieser entpuppte sich dabei als ein vielschichtiger Fall, der sich je nach Perspektive anders darstellte und bei dem die Fallgeber:innen nach eigener Aussage nicht so recht weiterkamen. Auch, da die von ihnen bereits getroffenen pädagogischen Maßnahmen nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt hätten, nämlich dem Unterlassen antisemitischer Äußerungen und Posten entsprechender Bilder und Videos in Klassenchat und Unterricht.
Nach der Fallschilderung hatten die Teilnehmer:innen Gelegenheit Verständnisfragen zu klären. Anschließend wurden die Fallgeber:innen von der Moderation gebeten, ihren Auftrag für die kollegiale Fallberatung zu klären. Dieser bestand darin, weitere bzw. alternative pädagogische Maßnahmen im Umgang mit dem/der Schüler:in zu finden, um bei diesem/dieser eine Verhaltensänderung zu bewirken.
Es folgten zwei Austauschphasen: Die fachliche Einordnung der Kolleg:innen, danach die Diskussion möglicher Lösungsvorschläge im Plenum. Die Sprecherin sammelte alle Vorschläge und gab diese anschließend an die Fallgeber:innen weiter. Das Plenum empfahl den Fallgeber:innen auf weitere Ressourcen des/der Schüler:in zu schauen und dabei auch die Eltern und das familiäre Umfeld noch einmal in den Blick zu nehmen. Zudem sollte auch die Perspektive des/der Schüler:in bei der Suche nach weiteren pädagogischen Maßnahmen stärker berücksichtigt werden als dies bisher der Fall gewesen sei. Was sind seine/ihre Sorgen, was wünscht er/sie sich? Zusätzlich empfahl das Plenum auch mit der Klasse zu arbeiten, etwa einen gemeinsamen Projekttag zu Antisemitismus durchzuführen, zugleich aber auch den Zusmamenhalt in der Klasse zu stärken.
Im nächsten Schritt konnten diese Rückfragen zu den Lösungsvorschlägen an das Plenum stellen. Abschließend stellten die Fallgeber:innen die nächsten Schritte vor, die sie in dem an Modul 2 besprochenen Fall gehen wollten. Dazu gehörten u.a. eine weitere Präzisierung des Präventionsauftrages und die stärkere Berücksichtigung der Perspektive des/der Schüler:in, aber auch die Arbeit mit den anderen Schüler:innen in der Klasse. Die Fallberatung endete mit einer gemeinsamen Feedbackrunde aller Teilnehmer:innen.
Gruppenarbeiten und Feedback
Dieses Modul zeichnete sich, so auch das Feedback der Teilnehmenden, durch eine Ausgewogenheit aus zwischen der Vermittlung zentraler rechtlicher Kenntnisse und der Anwendung von und der Reflexion über ebenjene. Immer wieder wurden die thematisierten Inhalte in Gruppenarbeiten gemeinsam angewendet. Wie also sind Sprüche gegen Schwarze, gegen Jüd:innen, gegen Geflüchtete, gegen Muslim:innen etc. strafrechtlich zu bewerten? Wie ist etwa die Äußerung „Ey, du Jude“ strafrechtlich zu bewerten; wie die Äußerung „Warum vergewaltigt ihr Araber unsere deutschen Frauen“; wie die Äußerung „Ihr Muslime seid doch alle Bombenleger“, wie „N… Go home“? Wie sind Graffitis zu bewerten wie „Adolf statt Olaf“, wie ein tätowiertes Hakenkreuz? Wann ist man verpflichtet, Wissen an die Schulleitung, an Eltern, ans Jugendamt oder die Polizei weiterzugeben? Anhand praktischer Fälle wurden die Teilnehmenden für solche Fragen sensibilisiert.
Literatur:
[1] Bundesministerium der Justiz (o.J): Jugendgerichtsgesetz. Online verfügbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/jgg/BJNR007510953.html.
[2] Wieland, Joachim (2019): Was man sagen darf: Mythos Neutralität in Schule und Unterricht. Online verfügbar unter: https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/292674/was-man-sagen-darf-mythos-neutralitaet-in-schule-und-unterricht/.
[3] Nina-NRW (o.J.): Codes und Symbole. Online verfügbar unter: https://nina-nrw.de/codes-und-symbole/.]