Am 30. und 31.01.2024 fand das zweite CleaRNetworking-Präsenz-Netzwerktreffen zur Vernetzung unserer als Clearing-Beauftragte zertifizierten Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter:innen im Schweizer Hof in Kassel statt. Inhaltlicher Schwerpunkt dieses Netzwerktreffens war die systemische Beratung. Geleitet wurden die beiden Tage von Oulfa Schmidt, Sozialarbeiterin, systemische Beraterin, Therapeutin, Coachin und Supervisorin (SG & DGSF) für beRATen e.V. Niedersachsen. 23 Teilnehmende erlebten eine lebhafte und interaktive zweitägige Veranstaltung. Beratung ist ein essenzieller Skill, der im Umgang mit Radikalisierung an Schulen gebraucht wird.

Zu Beginn wurde diskutiert, was die Teilnehmenden unter einem System verstehen. Ineinandergreifende Dinge, zusammenhängende Konstrukte, Organisationen und Schulen, hieß es von den Teilnehmenden. Schmidt schlug dann die Brücke zu sozialen Systemen in Gruppen, Organisationen, Vereinen oder Familien. Wir alle bewegten uns eben in unterschiedlichen Systemen und Subsystemen, die in- und nebeneinander existierten wie eine Matroschka-Puppe. Wir alle spielten unterschiedliche Rollen und verhielten uns in unterschiedlichen Kontexten je nach Erwartung und Rahmen verschieden.

„Menschen sind nicht durch Beratende veränderbar. Gleichzeitig können die eigenen Bewegungen Veränderung initiieren“

Charakteristisch für den systemischen Ansatz sei eine ganzheitliche Betrachtung des zu beratenen Menschen, seiner Ziele, seiner Probleme und seiner individuellen Ressourcen. Menschen seien demnach nicht durch Beratende veränderbar. Gleichzeitig könnten die eigenen Bewegungen Veränderung initiieren. Der beratene Mensch jedoch bleibe „Experte seiner eigenen Geschichte“. Es gelte, im Kreis zu denken, Komplexität zuzulassen, Kausalitätsannahmen zu vermeiden, nicht ursache- und vergangenheitsorientiert zu arbeiten, sondern über Ziele und Lösungen zu sprechen. Schmidt provozierte selbstkritische Reflexion der Teilnehmenden und hinterfragte deren Impuls, es ‚besser‘ zu wissen, als Schüler:innen selbst. Man neige dazu, Jugendlichen aufzufordern, was sie tun und lassen sollten, statt zu fragen „Was willst du?“.

Systemische Haltung: Beratene als Expert:innen ihrer eigenen Geschichte

Um systemische Haltung zu üben, sollten Teilnehmenden-Paare sich je 3 Mal für eine Minute in die Augen sehen und dabei je in die Rolle einer:s Beratenden und einer:s Beratenen schlüpfen. Eine Minute lang sollte schlicht durch Mimik, ohne zu sprechen, von den Beratenden ausgestrahlt werden, ihr Gegenüber sei (1) ein Problem, (2) bemitleidenswert und (3) eine Ressource. In der anschließenden Diskussion wurde gemeinsam darüber reflektiert, wie wichtig allein die Mimik und die eigene Haltung im Umgang mit Jugendlichen sind.

In diesem Zusammenhang wurde auch über die Wichtigkeit diskutiert, eigene Emotionen zuzulassen. Man könne professionell sein und gleichzeitig mit-weinen, meinte ein Teilnehmer. „Emotionen sind meine größte Ressource“, hob auch Schmidt hervor. Gleichzeitig müsse jede:r einen eigene Balance zwischen Nähe und Distanz finden und eigene Methoden entwickeln, um im Privatleben abzuschalten – etwa Sport, Tanzen oder Musik. Schmidt erzählte ihren Weg der Trennung zwischen Privatem und Beruflichem: Wenn sie zu arbeiten beginnt, steckt sie sich einen Stein in die Hosentasche und mit dem Feierabend nimmt sie ihn wieder heraus.

Merkmale systemischer Haltung, die gemeinsam als Gruppe erarbeitet wurden, sind etwa:

  • Die bloße Präsenz des Gegenübers wertschätzen
  • Lösungsvorschläge der Beratenen würdigen
  • Beratene nicht zur Beratung zwingen, sondern einladen (Hier erzählte etwa eine Teilnehmerin, manchmal würden Schüler:innen zu ihr in ihrer Rolle als Schulsozialarbeiterin als Strafe geschickt. Sie hingegen stelle ihnen immer frei, ob sie reden möchten; habe es aber noch nie erlebt, dass jemand nicht redet.)
  • Für die Beratenen da sein, sie begleiten
  • Die Haltung des Nicht-Wissens: Ich weiß es nicht besser als der:die Klient:in. Ich kenne die Lösung nicht; Klient:in als Expert:in

In diesem Zusammenhang erzählte Schmidt eine symbolkräftige Geschichte: Ein wohlhabender Mann nahm seinen Sohn einst auf eine Farm mit, um ihm zu zeigen, wie arme Leute leben. Als sie zurückkehrten, bemerkte der Sohn: „Wir haben einen Hund, die haben vier. Wir haben einen Pool, die einen See. Wir haben prächtige Lampen, die haben die Sterne. Wir haben eine Terrasse, die haben den Horizont. Danke Vater, dass du mir gezeigt hast, wie arm wir sind“. Es gelte den eigenen Blick im Rahmen von Beratungssituationen also stets zu reflektieren, das Glas als halb voll oder halb leer oder sich als X Jahre alt oder jung zu betrachten. Mehrere Teilnehmende erzählten von Situationen, in denen die eigene Haltung einen Unterschied machten. Anhand konkreter sprachlicher Beispiele wurde die Wirkung des Reframings im Rahmen von Beratungsprozessen eruiert.

Systemische Fragetechniken: „Fragen können wie Küsse schmecken“ (Carmen Kindl-Beilfuß)

Grundsatz systemischer Fragen ist, dass das Ziel nicht nur in der Informationsgewinnung liegt, sondern in der Intervention. Wir wollten keine Reporter:innenfragen stellen, sondern einen Perspektivwechsel anbieten, offene Fragen stellen, neue Sichtweisen eröffnen, mögliche Schritte aufzeigen, Muster unterbrechen, Ressourcen aktivieren und Motive hinterfragen

Die Gruppe widmete sich dann konkreten systemischen Fragetechniken. Auf die Aussage „In Puncto Hausaufgaben ist unser Sohn stinkfaul“ etwa könnten Rückfragen gestellt werden wie etwa „Wann legt er am meisten Pausen ein? Wann am wenigstens?“ oder „Wie erklären Sie sich, dass er ab und zu den Schongang einlegt?“.

Die Gruppe übte Fragetechniken anhand von Gedankenspielen:

„Du kannst einen Umstand an der Art und Weise ändern, wie du aufgewachsen bist. Welcher?“

à „Dass meine Eltern näher aneinander gelebt hätten.“ Oder „Ich hätte gerne ein Geschwisterkind gehabt.“

„Du kannst einen Menschen auf dieser Welt einen Herzenswunsch erfüllen. Wem welchen?“

à „Ich möchte meiner Freundin ermöglichen, einen neuen Job zu finden, in dem sie sich wohlfühlt.“ oder „Ich möchte meiner Tante eine Ballonfahrt ermöglichen.“

Selbstreflexion:

„Wo möchtest du im Leben stehen, wenn du deinen nächsten runden Geburtstag erreichst?“

à „Ich möchte achtsamer gegenüber mir selbst sein und weniger Gewissensbisse haben.“

„Was ist dein wichtigstes Ziel für die nächsten 6 Monate?“

à „Ich will wieder singen und schwimmen“ oder „Ich will meinen Leistungskurs gut durchs Abi bringen“

 

Allgemeine Fragetechniken:

„Was war der schwerste Abschied deines Lebens?“

à „Der mit meiner Ex-Schwiegermutter

„Was war das glücklichste Wiedersehen deines Lebens?“

à „Der gemeinsame Gedankenaustausch im Rahmen unserer Weiterbildung nach der harten Corona-Zeit.“

 

6 systemische Fragetechniken im Kontext von Beratung: „Um das Herz und den Verstand eines anderen Menschen zu verstehen, schaue nicht darauf, was er erreicht hat, sondern wonach er sich sehnt.“ (Khalil Gibran)

  • Zirkuläre Fragen: Nach Perspektive anderer fragen: „was würde … sagen?“, „wie stünde … dazu?“, in andere hineinversetzen, Denkmuster aufbrechen, neue Ideen
  • Skalierungsfragen: Von 1 – 10; „Wie fühle ich mich in meinem Klassenzimmer?“; können Fortschritte, Veränderungen erfassen; gut zum Einstieg, leicht artikulierbar
  • Hypothetisch: „Was wäre wenn…?“ regen Kreativität an; eröffnen Handlungsmöglichkeiten
  • Wunderfrage: „Wenn du einen Wunsch frei hättest…“ eröffnen Problemlösungen, kaum Tabuthemen, auch problematische Fantasien zulassen
  • Paradoxe Fragen: „Was müsste passieren, damit dein Chef dich feuert?“, „Was müsste passieren, damit es uns noch schlechter ginge?“: Systeme irritieren; verblüffen; Gegenreaktionen provozieren
  • Lösungs- und ressourcenorientierte Fragen: „Was müssten passieren, dass …?“, nach Sehnsucht fragen, um Menschen zu berühren

Um diese Fragetechniken zu üben, zogen sich nun je zwei Personen zurück und schlüpften dabei in die Rolle einer:s Freund:in im Sprechen über die teilnehmende Person selbst.

Fall einer rechtsextremen Radikalisierung an einer Gesamtschule

Gemeinsam wurde im Anschluss der Fall einer 16 Jährigen an einer Gesamtschule vorgestellt und ausführlich kollegial mit Blick auf die angeschnittenen Themen und Techniken diskutiert. Aus Respekt vor den beiden Teilnehmenden, ihrer Schule und dem Mädchen gehen wir an dieser Stelle nicht genauer auf den Fall ein. Wie im Rahmen eines Clearing-Verfahrens die Formulierung konkreter Ziele essenziell ist, so strukturierte auch Schmidt die Diskussion, indem sie die beiden Lehrkräfte präzise fragte, was ihr Auftrag an das Plenum sei; was sie also brauchten, um Lösungen zu finden. Nach dieser Fallarbeit ging es zum Abendessen.

Schulische Teilnahme an Demos gegen Rechts?

Kurzfristig hatte ein:e Teilnehmer:in Diskussionsbedarf angemeldet, nachdem ihre Schulleitung untersagte, an Demos für Demokratie gegen Rechtsextremismus als Angehörige:r der Schule gemeinsam mit Schüler:innen teilzunehmen. Nach dem Abendessen also, nach 20 Uhr, waren alle eingeladen, freiwillig an einer einstündigen Diskussionsrunde teilzunehmen und fast alle der Teilnehmenden nahmen dieses Angebot auch wahr. Thema waren etwa die Landesschulgesetze aus Hessen und NRW. Im Hessischen Schulgesetz in der Fassung vom 1. August 2017 etwa heißt es in § 2:

„(2) Die Schulen sollen die Schülerinnen und Schüler befähigen, in Anerkennung der Wertordnung des Grundgesetzes und der Verfassung des Landes Hessen

  1. die Grundrechte für sich und andere wirksam werden zu lassen, eigene Rechte zu wahren und die Rechte anderer auch gegen sich selbst gelten zu lassen,
  2. staatsbürgerliche Verantwortung zu übernehmen und sowohl durch individuelles Handeln als auch durch die Wahrnehmung gemeinsamer Interessen mit anderen zur demokratischen Gestaltung des Staates und einer gerechten und freien Gesellschaft beizutragen […].“

Im Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (§ 2) heißt es:

(2) „[…] Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung.“

(4) „Die Schule […] fördert die Entfaltung der Person, die Selbstständigkeit ihrer Entscheidungen und Handlungen und das Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwohl, die Natur und die Umwelt. Schülerinnen und Schüler werden befähigt, verantwortlich am sozialen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, beruflichen, kulturellen und politischen Leben teilzunehmen und ihr eigenes Leben zu gestalten.“

Diskutiert wurde in diesem Rahmen auch etwa über die Rolle des Beutelsbacher Konsens und wie Akteur:innen unterschiedliche Interessen in ihm legitimieren. Im Versuch, die eigene Schulleitung von der Sinnhaftigkeit zu überzeugen, Schüler:innen zur Teilnahme an Demonstrationen gegen Rechts zu motivieren oder gar gemeinsam mit ihnen als Schule teilzunehmen, wurde etwa vorgeschlagen, den Status als Schule ohne Rassismus, den einige der Schulen unserer Teilnehmenden haben, aufzuzeigen oder über die Schulkonferenz zu gehen. Im Verlaufe des Abends ging der Fokus des Gesprächs zu den aktuell medial thematisierten Plänen der Deportation von Menschen mit Migrationshintergrund. Das Wort Remigration habe viele Schüler:innen getroffen.

Schwierige Gespräche meistern

An Tag 2 unseres Netzwerktreffens ging es zunächst um das Meistern schwieriger Gespräche. Ein erster Grundsatz Schmidts lautet, dass es keine schwierigen Menschen gäbe, sondern bloß schwierige Gespräche. Die Teilnehmenden tauschten sich in Kleingruppen über ihre Erfahrungen mit schwierigen Gesprächen aus, über den jeweiligen Anlass, das Verhalten der Gesprächspartner:innen, das Ergebnis und die eigene Gemütslage nach dem Gespräch. Ein Tipp Schmidts lautete ferner, zu versuchen, zwischen einer sachlichen Ebene (was ist passiert?), einer emotionalen Ebene (welche Gefühle wurden ausgelöst?) und einer Identitätsebene (welches Bild habe ich von mir?) zu unterscheiden. Diskutiert wurde in diesem Zusammenhang auch darüber, inwiefern man sich durch das Zeigen von Emotionen verletzlich mache und welche Rolle Gender-Fragen dabei spielen. Drei weitere Tipps zum Meistern schwieriger Gespräche lauten:

  • Sich in die andere Person hineinversetzen
  • Aus einer Metaebene auf die Situation blicken
  • Zum Einstieg schwieriger Gespräche (z.B. nach Kritik vor anderen Kolleg:innen) zu unterscheiden zwischen der eigenen Wahrnehmung (z.B. so habe ich die Situation gesehen), der damit einhergehenden Wirkung auf einen selbst (z.B. unangenehmes Gefühl) und dem daraus resultierenden Wunsch (z.B. zukünftig bitte unter 4 Augen zu sprechen)

Biographiearbeit

Im Rahmen gemeinsamer Biographiearbeit wurde in der Folge die bewusste Auseinandersetzung mit dem persönlichen Lebensweg geschult. Dabei ging es nicht um psychotherapeutisches Arbeiten mit den Biographien von Klient:innen, sondern das Verwenden biographischer Fragen, um Menschen in Beratungssettings zu stärken – eine Methode, die Vertrauen und Sensibilität voraussetzt. Zu ressourcenorientierten biografischen Fragen zählen etwa die folgenden:

  • Welcher war ein Ort voller Geborgenheit für dich in deiner Kindheit?
  • Was erzählen deine Eltern, wofür du schon früh Talent hattest?
  • Wie hast du als junger Mensch deinen persönlichen Stil gefunden?
  • Was ist deine Art der Wiedergutmachung?
  • Wann warst du zum letzten Mal richtig stolz auf dich?
  • Was musstest du dir hart erkämpfen?
  • Was ist dein Geheimnis für eine gelingende Partnerschaft?

In einer ausführlichen Übung kamen die Teilnehmenden in Zweierkonstellationen zusammen, um sich solche Fragen zu stellen. Das verschaffte ihnen nicht nur praktische Übungsgelegenheiten, sondern stärkte darüber hinaus auch den Netzwerkcharakter unserer Veranstaltung.

Schnittstellen systemischer Beratung und schulischer Radikalisierungsprävention

In einer gruppenbasierten Arbeit erarbeiteten die Teilnehmenden abschließend mit Hilfe der Methode des World Cafés Schnittstellen zwischen der systemischen Haltung, systemischen Fragetechniken, dem Meistern schwieriger Gespräche und der Biographiearbeit einerseits sowie schulischer Radikalisierungsprävention und dem Clearing-Verfahren andererseits. Dabei wurden vielfältige Schnittstellen erarbeitet:

  • Systemische Grundhaltung: Eine offene, zugewandte und wohlwollende Haltung gegenüber den Beratungspersonen ist in allen sieben Schritten des Clearing-Verfahrens von Vorteil. Besonders in der Joiningphase trägt sie zum Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Berater:innen und Beratungspersonen bei.
  • Systemische Fragetechniken: Sie helfen zu klären, ob es sich bei einem Hinweis um einen möglichen Fall für das Clearing-Team handelt oder nicht. Sie sind ebenso besonders in der Vor- und der vertieften Recherche bedeutsam, um den Beratungsauftrag zu klären und für eine strukturierte Gesprächsführung zu sorgen. Aber auch in der Durchführung und Evaluation von Maßnahmen, um zu klären warum diese erfolgreich waren oder wo noch nachgesteuert werden könnte.
  • Schwierige Gespräche meistern: Techniken für die Vor- und Nachbereitung sowie die Durchführung schwieriger Gespräche können dazu beitragen, den Beziehungsaufbau zu Beratungsbeginn zu unterstützen. Außerdem, um nach Durchführung der Maßnahmen zu evaluieren, warum Beteiligte womöglich nicht mit den Maßnahmen zufrieden sind.
  • Systemische Biographiearbeit: Sie ist besonders in der vertieften Recherche hilfreich, um sich ein umfassendes Bild des Falles zu machen und das Clearing-Team für dessen Besonderheiten zu sensibilisieren. Zugleich bedarf die Anwendung von Methoden der systemischen Biographiearbeit einer vorgängigen Vertrauensbeziehung zwischen Berater:innen und Beratungspersonen.In einer abschließenden Feedback-Runde kam heraus, dass viele Teilnehmende sich Ansätze der systemischen Beratung im Kontext Radikalisierungsprävention nun durchaus zutrauen. Überrascht waren einige der Teilnehmenden davon, wie sehr kleine Fragen die Selbstreflexion anregen können und wie groß das Vertrauen in unserem CleaRNetwork ist.