Der „Verfassungsschutz als Ansprechpartner für Schulen?“ – unter diesem Motto fand am 04.12.2024 die dritte Ausgabe des digitalen Gesprächsformates CleaRExchange statt. Die CleaRExchange-Reihe bietet schulischem Personal aus unserem Netzwerk die Möglichkeit, außerschulische regionale oder überregionale Präventionsakteur:innen kennenzulernen, um sie für die Präventionsarbeit an der eigenen Schule bei Bedarf heranzuziehen.
Das CleaRNetworking-Team lud diesmal Thorge Koehler ein, Leiter des Bremer Landesamtes für Verfassungsschutz (LFV). Er sprach vor rund 20 Teilnehmer:innen darüber, wie seine Behörde auf Radikalisierung und Prävention blickt und welche Möglichkeiten es für Schulen gibt, sich in Fällen von potenzieller Radikalisierung an den Verfassungsschutz zu wenden.
Jedes der 16 deutschen Bundesländer habe eine eigene Behörde für Verfassungsschutz, erläuterte Koehler zu Beginn seines Vortrages. Die Arbeit seiner Behörde sei dabei nur aufgrund der demokratischen Legitimation durch den Rechtsstaat möglich. Die Befugnisse des Verfassungsschutzes seien darin klar geregelt. Dieser habe vier zentrale Aufgaben:
- Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung;
- Schutz vor Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere das friedliche Zusammenleben gerichtet sind;
- Schutz vor sicherheitsgefährdenden oder geheimdienstlichen Tätigkeiten einer fremden Macht;
- Schutz vor Bestrebungen, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange Deutschlands gefährden;
Die Befugnisse des Verfassungsschutzes und der Polizei seien ebenfalls rechtsstaatlich geregelt. Hier bestehe ein klares Trennungsgebot. „Während die Polizeien in Deutschland für die Gefahrenabwehr und die Strafverfolgung zuständig sind, besteht die Aufgabe der Nachrichtendienste in der Beschaffung und Auswertung von Informationen im Vorfeld der Gefahrenabwehr.“
Aktuell sei viel los im Bremer LFV, so der Referent. Die Corona-Pandemie sei aus Sicht seiner Behörde ein regelrechter „Katalysator für Extremismus“ gewesen. Der russische Angriff auf die Ukraine und der Krieg in Nahost hätten die Sicherheitslage zusätzlich verschärft. Er beobachte zudem eine deutliche Zunahme von extremistischer Radikalisierung im digitalen Raum, wie sich z.B. anhand der Kommentare unter den gestreamten Veranstaltungen einschlägiger Akteur:innen zeige. Mit Blick auf Bremen gäbe es zudem punktuell „Berührungspunkte“ von Reichsbürger:innen mit Schule. Wie sich Schüler:innen am besten erreichen und vor einer Einflussnahme schützen lassen könnten, sei hier eine große und noch nicht abschließend beantwortete Frage.
Ein Feld „wo sich verschiedene Extremist:innen vereinen könnten“, sei dabei der Antisemitismus. Dieser sei gewissermaßen das verbindende Element bzw. das Bindeglied zwischen in ihren Grundannahmen eigentlich völlig unterschiedlichen extremistischen Ideologien, von den Reichsbürger:innen über den religiös begründeten Extremismus bis hin zum Rechtsextremismus.
Ein zweiter Schnittpunkt sei Queerfeindlichkeit. Diese habe nach Beobachtungen seiner Behörde in den letzten Monaten besonders bei Jugendlichen stark zugenommen und werde von den einschlägigen Akteur:innen auch dort strategisch platziert, etwa durch Beiträge in den sozialen Medien, wie Koehler anhand zweier Videobeispiele extremistischer Prediger verdeutlichte.
Insgesamt stelle seine Behörde eine deutliche Verschiebung des öffentlichen Diskursraumes fest. Inhaltlich und räumlich. Insbesondere „Fakten als Grundkonsens jeder politischen Auseinandersetzung [werden] zunehmend in Frage gestellt“.
Welche Möglichkeiten gibt es nun für Schulen, die sich wegen eines Falls vermeintlicher Radikalisierung an das LFV Bremen wenden möchten? Hierzu stellte Koehler die „Meldekette der Senatorin für Kinder und Bildung“ [1] vor. Diese gibt eine Hilfestellung, wie Schulen bei Hinweisen auf Radikalisierung von Schüler:innen vertrauensvoll, geplant und mit den eigenen Bordmitteln handeln können.
Meldet eine Lehrkraft/Schulsozialarbeiter:in der Schulleitung einen Fall mutmaßlicher Radikalisierung, müsse zunächst abgeklärt werden, ob ein verfassungsfeindliches und strafrechtlich relevantes Verhalten vorliege. In diesem Fall sei eine sofortige Intervention durch schulisches Personal notwendig. Hier empfiehlt seine Behörde folgendes Vorgehen:
- Schulisches Personal informiert Schüler:innen über die Strafbarkeit ihres Verhaltens informieren
- Schulisches Personal zieht das betreffende Material in Wort und Bild einz und dokumentieren (
- Schulisches Personal bzw. die Schulleitung kontaktiert die
- Anschließend erfolgt die pädagogische Aufarbeitungdurch schulisches Personal
Die ersten beiden Schritten können wir Projektsicht völlig mitgehen. Den dritten Schritt bzw. die Verständigung der Polizei, sehen wir aus Projektsicht hingegen kritisch. Aus unserer Erfahrung im CleaRNetworking und der Logik des Clearingverfahrens heraus betrachtet, empfiehlt es sich zudem, mit der pädagogischen Aufarbeitung des verfassungsfeindlichen und strafrechtlich relevanten Verhaltens der Schüler:innen unmittelbar zu beginnen. Sie sollte parallel zu der Ansprache der Schüler:innen und Erziehungsberechtigten sowie der Einziehung des problematischen Materials ablaufen. Damit wollen wir, das sei hier mit Nachdruck betont, nicht dazu aufrufen Straftaten nicht zu melden. Vielmehr wollen wir schulisches Personal in die Lage versetzen, Fehlverhalten von Schüler:innen erst einmal mit den an Schulen vorhandenen pädagogischen Bordmitteln zu bearbeiten. Die Polizei sollte aus unserer Sicht erst hinzugezogen werden, wenn diese Mittel ausgeschöpft sind. Ein zu früher Einbezug kann die Vertrauensbeziehung – nicht nur zu den betreffenden Schüler:innen, sondern etwa auch zur Klassengemeinschaft – hingegen schwer beschädigen.
Handele es sich um kein verfassungsfeindliches und strafrechtlich relevantes Verhalten, gehe die pädagogische Aufarbeitung durch das schulische Personal vor Ort sofort los, so Koehler. Idealerweise erfolge dieses durch Einsetzung eines schulinternen Clearingverfahrens. Dieses ähnelt in Zusammensetzung und Ablauf dem unseres Clearingverfahrens, auch wenn es nur vier anstatt sieben Schritte umfasst. Aus Sicht des CleaRNetworking gilt es hervorzuheben, dass ein fest an Schulen installiertes Clearingteam mit klaren Verantwortlichkeiten einem ad-hoc installierten Team stets vorzuziehen ist. Eine bereits etablierte Struktur eines Clearingteams mit Verantwortlichkeiten und Routinen ist handlungsfähiger und kann gezielter und schneller adäquat agieren, als ein erst mit Aufkommen eines Falles zusammengestelltes [2].
Schulen, die sich unsicher seien, ob es sich bei dem Verhalten von Schüler:innen um ein verfassungsfeindliches handele, könnten sich an das „Kompetenzzentrum für Deradikalisierung und Extremismusprävention im Land Bremen“ (KODEX) [3] wenden. Denn nicht immer sei klar, ob eine Handlung X oder ein Verhalten Y ein eindeutiges Zeichen für eine Radikalisierung sei. Lehrkräfte und Schulsozialarbeit sollten die guten Beziehungen zu ihren Schüler:innen für pädagogisches Arbeiten nutzen, empfahl Koehler. Hätten sie aber den Eindruck, emotional nicht mehr an diese heranzukommen, könnten sie die anonymisierten Beratungsangebote des LFV in Anspruch nehmen, so der Referent und verwies darauf, dass seine Behörde im Unterschied zur Polizei keinen Ermittlungsauftrag habe und schulisches Personal zudem anonym beraten könne. Aus Projektsicht empfiehlt sich eine anonymisierte Beratung durch den Verfassungsschutz gerade deshalb eher als eine durch die Polizei. Ganz im Sinne unseres Clearingverfahrens: Erst einmal tief durchatmen und die Sachlage klären, bevor weitere, womöglich irreversible Schritte eingeleitet werden.
Gleichzeitig gäbe es für seine Behörde eindeutige und strenge Kriterien für Radikalisierungsmerkmale. Es gehe immer um eine Kombination verschiedener Merkmale, aus denen sich Rückschlüsse auf eine wie auch immer geartete Radikalisierung ziehen ließen. So sei z.B. rechtlich klar geregelt, was als verfassungsfeindliches Verhalten gelte, so Koehler und warf eine entsprechende Folie an die Wand:
- Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten;
- Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen;
- Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen;
- Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener;
- Volksverhetzung;
Hier wurden Unterschiede in den Perspektiven des Verfassungsschutzes und denen unseres Projektes deutlich. Während der VS mit eindeutigen Radikalisierungsmerkmalen zu arbeiten scheint, zeigt unsere Erfahrung von schulischem Personal, dass Radikalisierung in der schulischen Praxis nicht immer so leicht zu identifizieren sind. Auch wir arbeiten mit Indikatoren von Radikalisierung und appellieren gleichzeitig an die pädagogische Kompetenz des schulischen Personals, keine Schablonen und Checklisten zu nutzen, sondern im vor allem im Dialog zu bleiben, ein alltägliches Klima von Wertschätzung und Partizipation aller Schüler:innen zu schaffen und Beziehungsarbeit zu den einzelnen Schüler:innen zu investieren.
Im privaten Raum, fuhr Koehler fort, dürften alle Bürger:innen Äußerungen jeglicher Art, auch kontroverse, antidemokratischer oder verfassungsfeindlicher Natur tätigen. Es gehöre zu einem demokratischen Diskurs dazu, dass auch abweichende und von manchen Menschen vielleicht als anstößig gewertete Äußerungen getätigt würden, so Koehler. Seine Behörde werde erst dann aktiv, wenn Bürger:innen versuchten, verfassungsfeindliche Bestrebungen in die Tat umzusetzen und die Rechts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland gewaltvoll zu ändern. In Bezug auf den grundgesetzlich verbrieften äußerst weiten Rahmen der Meinungsfreiheit in der BRD verweisen wir aus Projektsicht in diesem Zusammenhang auf den Vortrag von Klaus Riekenbrauk im Rahmen von Modul 2 im CleaRNetworking-Jahrgang 2024 [4].
Aus Projektsicht ist uns darüber hinaus wichtig zu betonen, dass Freiheit im Grundgesetz nicht nur die Freiheit bedeutet, eigene Überzeugungen und Traditionen auszuleben, sondern auch die Freiheit, sich in einer pluralistischen Gesellschaft mit unterschiedlichen Ansichten, Verhaltensweisen und Äußerungen auseinanderzusetzen, selbst – und gerade wenn diese nicht mit den eigenen kulturellen oder persönlichen Werten übereinstimmen. Das Grundgesetz schützt ausdrücklich auch die Rechte derjenigen, deren Meinungen, Handlungen oder Ausdrucksformen fundamental von der Mehrheit oder dem eigenen Weltbild abweichen. Diese Vielfalt ist ein wesentlicher Bestandteil der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die Toleranz und Respekt vor unterschiedlichen Lebensweisen und Überzeugungen fördert und eine Gesellschaft ermöglicht, in der jede Person ihre eigene Identität und Meinung frei entfalten kann. Daran schließt die kontroverse Frage an, wann die Grenze eines breiten Verständnisses von Meinungsfreiheit erreicht ist, sodass ein schulischer Fall relevant für den Verfassungsschutz wird. Hier ist auf die von Koehler angeführten oben erwähnten Merkmale von Radikalisierung zu verweisen.
Diskussion
Wie geht es weiter, wenn sich schulisches Personal mit einem Hinweis an den Verfassungsschutz bzw. an Kodex wendet? Diese Frage nach den Prozessen, die sich an eine Hinweismeldung anschließen, stand im Mittelpunkt der an den Vortrag anschließenden Diskussion.
Der erste Schritt sei immer eine Abklärung, ob es sich bei dem gemeldeten Hinweis um ein verfassungsfeindliches Verhalten handele, hob Koehler mit Blick auf die von ihm vorher vorgestellte Meldekette hervor. In diesem Fall müsse seine Behörde eine Meldung an die Polizei machen. Diese habe schließlich einen Ermittlungszwang, dem der Verfassungsschutz nicht unterliege. Das bedeutet, dass schulisches Personal sich darüber im Klaren sein sollte, dass eine an ihn gerichtete nicht-anonymisierte Meldung eines potenziellen Hinweises auf Radikalisierung an die Polizei weitergeleitet werden kann. Sucht schulisches Personal hingegen lediglich Rat bei der Einschätzung des potenziellen Hinweises auf Radikalisierung – und möchte ein Einschreiten der Polizei verhindern – so ist es wichtig, sich anonymisiert beraten zu lassen. Anschließend nämlich unterstützt das Kodex-Team schulisches Personal dabei, das gemeldete Verhalten fachlich einzuordnen und vermittelt ggf. weiter an andere Präventionsakteur:innen.
Hinsichtlich der Datenspeicherung des Verfassungsschutzes gebe es verschiedene Fristen, welche Informationen wann und wie lange gespeichert würden. Bei Personen unter 14 Jahren würden (Personen)Daten in der Regel gar nicht gespeichert, es sei denn, es gehe um Ausnahmefälle wie nachgewiesenen Dschihadismus, etwa durch Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Im Regelfall fliege eine Person nach zwei Jahren ohne neue Erkenntnisse aus dem System heraus, in dem persönliche Daten gespeichert werden. Eine Weitergabe der gesammelten Erkenntnisse an Strafverfolgungsbehörden finde zudem nicht statt, es sei denn, es handele sich um Straftatbestände wie die obengenannten.
Mit Kodex vergleichbare Einrichtungen gäbe es auch in anderen Bundesländern, antwortete Koehler auf die Frage einer Teilnehmerin. Hier empfahl er einen Besuch auf der Internetseite des entsprechenden Landesamtes. In Nordrhein-Westfalen wird diese Aufgabe z.B. vom Aussteigerprogramm Rechtsextremismus („Spurwechsel“) oder der Beratungsstelle Wegweiser übernommen [5]. In Hessen heißt die entsprechende Einrichtung „Korex“ [6], und in Sachsen-Anhalt „EXTRA“ [7].
Der Vortrag und die anschließende Diskussion zeigten, dass sich Schulen nicht scheuen sollten, sich bei Unsicherheiten bezüglich einer potenziellen Radikalisierung an den Verfassungsschutz zu wenden. Die Landesbehörden für Verfassungsschutz können eine gute Quelle sein, um mehr Klarheit darüber zu erlangen, ob/wann ein beobachtetes Verhalten straffällig/verfassungsfeindlich ist. Die pädagogische Präventionsarbeit muss aber gewissermaßen „zu Hause“, in den schulischen Strukturen geschehen. Im Rahmen eines Clearing-Verfahrens kann der Verfassungsschutz im Falle von Unsicherheit des Clearingteams dabei unterstützen, Verhalten einzuordnen und sich darüber bewusst zu werden, wie fortgeschritten die Radikalisierung (nicht) ist.
Literatur
[1] Die Senatorin für Kinder und Bildung (2021): Verfahrensweise bei Extremismus in Schule. Online verfügbar unter: https://www.transparenz.bremen.de/metainformationen/mitteilung-nr-284-2021-verfahrensweise-bei-extremismus-in-schule-anlage-171116.
[2] CleaRNetworking (o.J): Das Clearingverfahren. Online verfügbar unter: https://www.clearing-schule.de/das-clearing-verfahren/
[3] https://www.kodex.bremen.de/
[4] CleaRNetworking (2024): „Rechtliche Rahmen kennen, pädagogisch handeln“: Weiterbildungsmodul 2 (2024) zu rechtlichen Rahmen schulischer Radikalisierungsprävention, 06.03.24 – 07.03.24, Magdeburg. Online verfügbar unter: https://www.clearing-schule.de/rechtliche-rahmen-kennen-paedagogisch-handeln-weiterbildungsmodul-2-2024-zu-rechtlichen-rahmen-schulischer-radikalisierungspraevention-06-03-24-07-03-24-magdeburg/
[5] https://www.im.nrw/extremismuspraevention
[6] https://lfv.hessen.de/praevention
[7] https://mi.sachsen-anhalt.de/verfassungsschutz/themenfelder/extremismuspraevention