Am 22. und 23. Januar fand das Auftaktmodul der CleaRNetworking-Weiterbildung 2025 im Select Hotel Handelshof in der Ruhrgebietsmetropole Essen statt. Im Mittelpunkt standen die Einführung in die Fortbildung und das Clearingverfahren sowie die Klärung zentraler Begriffe wie Prävention und Radikalisierung. Zudem erfuhren die Teilnehmer:innen, welche psychologischen Einflussfaktoren auf Radikalisierungsprozesse einwirken, welche möglichen Resilienz- und Schutzfaktoren es gibt und wie sie zeitliche Ressourcen für die Durchführung des Clearingverfahrens schaffen können

Fortbildungsauftakt und Erwartungen an die Fortbildungen

Die Fortbildung startete mit der Begrüßung durch unsere Projektleitung Dr. Junus el-Naggar. Er stellte den Ablauf des Auftaktmoduls vor und führte dabei gleichzeitig in die Fortbildungsinhalte ein. Im Unterschied zu den weiteren Fortbildungsmodulen nahm am Auftaktmodul zusätzlich zu den künftigen Clearingbeauftragten auch ein Schulleitungsmitglied aller Schulen teil. Diese Einladung haben wir im CleaRNetworking bewusst ausgesprochen, um von Beginn an hervorzuheben, dass schulische Radikalisierungsprävention auf das engagierte Mitwirken der Schulleitung angewiesen ist. Oder wie es ein Referent später am Tag formulieren sollte: „Ohne die Schulleitung geht es nicht“.

Er sei neugierig, mit welchen Erwartungen die Teilnehmer:innen zu diesem ersten Fortbildungsmodul angereist seien, zeigte sich el-Naggar gespannt und bat diese darum, ihre Erwartungen in eine Mentimeterumfrage einzutragen. Der Großteil der Teilnehmenden wünschte sich  fachliche Expertise, Methoden und Techniken, um Hinweise auf mögliche Radikalisierungsprozesse an ihren Schulen kompetent bearbeiten zu können. Aber auch der Wunsch eine (religions)sensible Haltung zu entwickeln, das Clearingverfahren in den eigenen schulischen Regelstrukturen zu verankern und vieles mehr war auf der Leinwand im großen Tagungsraum zu sehen. Pointiert ließen sich Erwartungshaltungen der Teilnehmenden vielleicht in der Formel zusammenfassen: Haltung, Handwerkzeug und Handlungsfähigkeit.

Unser Selbstverständnis im Projekt CleaRNetworking

Anschließend stellten Junus el-Naggar und Sören Sponick aus dem CleaRNetworking-Projektteam die fünf zentralen Merkmale des CleaRNetworking-Ansatzes vor. Diese Ausführung lässt sich als das Selbstverständnis unseres Projektes bezeichnen:

  1. Systematik: Schulische Radikalisierungsprävention ist dann am erfolgversprechendsten, wenn sie systematisch betrieben wird. Unkoordiniertes Vorgehen birgt diverse Gefahren. Klare Zuständigkeiten und Routinen erleichtern die Arbeit.
  2. Die Bedürfnis-Brille: Wir halten das Aufbauen und Pflegen einer Beziehung zu Schüler:innen für einen zentralen Schlüssel erfolgreicher Radikalisierungsprävention. Unser Ansatz im Projekt CleaRNetworking strebt nach aufwändiger und gleichzeitig ertragreicher pädagogischer Arbeit statt Sanktionen, Restriktion und Härte. Wir verstehen Radikalisierung als Reaktion der sich Radikalisierenden und bemühen uns herauszufinden, worauf sie reagieren. Radikalisierungsprävention kann durch eine Bedürfnis-Brille betrachtet werden. Schüler:innen haben Grundbedürfnisse (Anerkennung, Selbstwirksamkeit, Zugehörigkeit, etc.), die durch Radikalisierung erfüllt werden können. Werden diese nicht erfüllt, kann dies die Anfälligkeit für radikale Ideologien erhöhen. Dieser Ansatz kann helfen, eine nicht-urteilende Haltung einzunehmen..
  3. Weite Meinungsfreiheit: Wir verstehen unter grundgesetzlicher Freiheit nicht nur die Freiheit, eigene Überzeugungen und Traditionen auszuleben, sondern auch die Freiheit, sich in einer pluralistischen Gesellschaft mit unterschiedlichen Ansichten, Verhaltensweisen und Äußerungen auseinanderzusetzen, selbst – und gerade wenn diese nicht mit den eigenen kulturellen oder persönlichen Werten übereinstimmen. Das Grundgesetz schützt ausdrücklich auch die Rechte derjenigen, deren Meinungen, Handlungen oder Ausdrucksformen fundamental von der Mehrheit oder dem eigenen Weltbild abweichen.
  4. Ressourcen: Wir bemühen uns, individuelle Ressourcen von Jugendlichen zu identifizieren. Religion beispielsweise kann zu Konflikten führen, kann aber auch eine große Ressource sein. Sie aus dem schulischen Raum zurückzudrängen, halten wir für schädlich, weil sie im Leben vieler Schüler:innen wichtige Funktionen erfüllt. Wenn wir die Lebensrealitäten von Schüler:innen ernst nehmen wollen, sollten wir legitime Räume schaffen, um über Religion offen sprechen und sie auch ausleben zu können.
  5. Bekenntnis: Wir verstehen Demokratieförderung und Radikalisierungsprävention nicht als Zusatz, sondern als Teil schulischer Verantwortung. Neutralität heißt für uns nicht, dass schulisches Personal sich nicht positionieren dürfte. Vielmehr darf und soll schulisches Personal Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als Teil des Bildungsauftrags klar vertreten.

 

Die Prämissen des Clearingverfahrens

Nach der Mittagspause, in der sich den Teilnehmenden bereits erste Gelegenheiten für ein erstes gegenseitiges Kennenlernen und Netzwerken bat, ging es inhaltlich los. Prof. Dr. Michael Kiefer (Professur für Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft) von der Universität Osnabrück stellte die Prämissen des Clearing-Verfahrens vor. Dazu zählen etwa die folgenden:

  • Gemeinsames Präventionsziel: Wogegen und wofür soll Prävention arbeiten?
  • Multiprofessionalität: Sind alle relevanten Akteur:innen Teil des Clearing-Teams?
  • Verantwortung: Wer trägt im Clearing-Team welche Verantwortung?
  • Melde-, Kommunikations- und Handlungsroutinen: Wer informiert wann wen worüber?

Die Einhaltung dieser Prämissen sei für den Erfolg des Clearing-Verfahrens essenziell, so Kiefer. Besonders die Definition eines gemeinsamen Präventionsziels sei dabei von großer Bedeutung, damit das gesamte Clearing-Team ein gemeinsames Verständnis von Prävention teile. Dies sei die Grundlage aller späteren Arbeit mit dem Verfahren. Ebenso klare Verantwortlichkeiten, Melde-, Kommunikations- und Handlungsroutinen. Dadurch würden unnötige Doppelstrukturen vermieden. Übergeordnetes Ziel des Clearing-Verfahrens sei es dabei immer, die Schüler:innen „in der Schule zu behalten“, also zum Schulabschluss zu bringen. Sanktion(sandrohung)en bei Fehlverhalten seien dabei in der Regel wenig hilfreich, so der Referent. Besser sei es, gemeinsam mit den Schüler:innen nach Lösungen zu suchen, seine eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. Denn grundsätzlich hätten ja auch diese ein Interesse daran, einen Schulabschluss zu erreichen. Bayern habe das Clearingverfahren inzwischen in die eigenen Regelstrukturen der Lehrer:innenfortbildung integriert, freute sich Kiefer zum Abschluss seines Vortrages. Ab dem Jahr 2025 wird schulisches Personal dort in der Arbeit mit dem Verfahren ausgebildet.

Die 7 Schritte des Clearing-Verfahrens
Anschließend stellte Kiefer die sieben Schritte des Clearing-Verfahrens vor [1]. Es handele sich dabei um ein hochstrukturiertes Verfahren zur Problemerkundung, so der Referent. Denn nicht jeder potenzielle Fall einer Radikalisierung, der an das Clearing-Team herangetragen werde, stelle sich am Ende auch als ein solcher heraus. Wir haben schon häufiger auf das Verfahren verwiesen, etwa hier oder hier.

  1. Die Vorrecherche: Die Vorrecherche dient dazu, herauszufinden, ob es sich bei an Clearingbeauftragte herangetragenen Hinweisen auf mögliche Radikalisierung tatsächlich um Anhaltspunkte für eine beginnende Radikalisierung handelt. Dazu werden Gespräche geführt, ggf. etwa mit dem betreffenden jungen Menschen selbst; mit der Lehrkraft, die den initialen Hinweis gab und ggf. mit weiteren. Stellen sich die Hinweise als unzutreffend heraus, kann das Verfahren schon an dieser Stelle enden.
  2. Das Clearing-Team: Halten die Clearingbeauftragten nach Sichtung der Hinweise eine Radikalisierung für möglich, wird ein Clearing-Team einberufen, um alle relevanten schulischen Akteur:innen zu informieren und nächste Schritte zu planen. Die Schulleitung sollte idealerweise Mitglied des Clearing-Teams sein. Je nach Fall können weitere schulinterne (z.B. Schulsozialarbeit, Schulpsychologie) oder externe (z.B. Jugendamt, Trainer:innen aus Sportvereinen) einbezogen werden.
  3. Vertiefte Recherche: In der vertieften Recherche macht sich das Clearing-Team ein ausführliches Bild der Lage bzw. des Falls. Die Clearingbeauftragten erstellen mit dieser Methode eine Analyse des sozialen Umfeldes des:der betroffenen Jugendlichen, vor allem durch Gespräche mit Eltern, Jugendlichen und Lehrkräften oder anderen Schlüsselpersonen. Hierbei können Ressourcen für die weitere Fallbearbeitung generiert werden.
  4. Beschluss von Maßnahmen: Die pädagogische Fachkraft ruft erneut das Clearingteam zusammen und es werden die Ergebnisse der vertieften Recherche vorgestellt. Gemeinsam berät das Clearing-Team über adäquate pädagogische Maßnahmen und orientiert sich an gemeinsam vereinbarten Zielen, die im Clearingverfahren erreicht werden sollen.
  5. Durchführung von Maßnahmen: Hier ist es wichtig, dass alle Mitwirkenden gegenüber dem:der Jugendlichen Präsenz zeigen und als Allianz auftreten. Maßnahmen können an verschiedene schulische Akteur:innen delegiert werden.
  6. Evaluation der Maßnahmen: Nach einer vorher festgelegten Zeitspanne wird das Clearing-Team erneut zusammengerufen. Gemeinsam wird überprüft, inwiefern die Maßnahmen zum Ziel geführt haben oder ob man gegebenenfalls umsteuern muss.
  7. Weiterführung der Maßnahmen: Die Schritte sechs und sieben können laut Kiefer beliebig oft wiederholt werden, bis die Ziele im jeweiligen Fall erreicht sind.

 

Annäherung an die Konzepte Prävention und Radikalisierung
Anschließend ging unser Projektleiter Dr. Junus el-Naggar in seinem Vortrag näher auf das Begriffspaar Prävention und Radikalisierung ein. Er betonte im Einklang mit Kiefer, dass gelingende Prävention ein einheitliches Verständnis von Konzepten und Begrifflichkeiten voraussetze, um ein gemeinsam geteiltes Bewusstsein bei allen Beteiligten des Clearing-Teams zu schaffen. Ziel sei es nicht, dass das Clearing-Team wissenschaftliche Definitionen „rauf und runterbeten“ könnten, betonte el-Naggar. Ihm ging es eher darum, die Teilnehmer:innen für die Vielschichtigkeit von Radikalisierungsprozessen und die Vielfalt verschiedener Präventionskonzepte zu sensibilisieren. Im Projekt orientieren wir uns an den Ausführungen des Soziologen Ulrich Bröcklings zu Prävention:

„Man tut etwas, bevor ein bestimmtes Ereignis oder ein bestimmter Zustand eintreten, damit diese nicht eintreten oder zumindest der Zeitpunkt ihres Eintretens hinausgeschoben wird oder ihre Folgen begrenzt werden.“ [1]

Unser Verständnis von Radikalisierung umfasst „gewaltorientierte, menschenfeindliche und demokratiefeindliche Äußerungen, Einstellungen und Handlungen“ [2]. Gleichzeitig arbeiten wir für „Ambiguitätstoleranz, demokratische Haltung, die Offenheit für neue Perspektiven und individuelle Ressourcen fördern“ und orientieren uns dabei an folgendem Maßstab:

„Handlungsleitend [ist] die Orientierung, dass die Freiheit des Einen dort endet, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“ [2]

 

Anstoß zur Entwicklung schulischer RadikalisierungspräventionskonzepteTag 2 unseres Auftaktmoduls begann mit einem Anstoß zur Entwicklung schulischer Radikalisierungspräventionskonzepte. Die Projektleitung stellte dafür zunächst ein Muster-Konzept vor, welchesdas Projektteam auf Grundlage von Impulsen aus dem Netzwerk entworfen hat. Ziel dieses Musters ist nicht, dass es 1:1 von allen teilnehmenden Schulen übernommen werden soll. Vielmehr soll es den Teilnehmenden eine Orientierung dafür geben, welche Fragen ein solches Konzept aufgreifen und wie es aufgebaut sein kann.

Entsprechend wurden die Anwesenden anschließend in ihren Schul-Trios in die individuelle Arbeit an Schulkonzepten geschickt . Die Aufgabe: Mit der Erstellung eines Konzepts für ihre jeweilige Schule zu beginnen und sich dabei an dem Muster-Konzept zu orientieren. An diesem Konzeptentwurf können die Teilnehmenden über die Dauer der Weiterbildung und darüber hinaus weiterarbeiten.

Da das Konzept-Muster durch Kritik und Impulse jedes Jahrgangs weiterentwickelt wird, wurden alle Gruppen anschließend an die Gruppenarbeit eingeladen, im Plenum Rückmeldung zu geben. Zur geäußerten Kritik zählen etwa die folgenden Punkte:

  • Der Schutz derjenigen jungen Menschen, denen das vermeintlich radikale Verhalten schadet, müsse geregelt werden.
  • Die Sprache des Konzepts müsse einfacher werden, um auch für Schüler:innen verständlich zu sein.
  • Die Zeitpunkte, zu denen bestimmte Personen in ein Clearing-Verfahren einbezogen werden, sollten überdacht werden. Eltern der betreffende junge Mensch selbst beispielsweise würden relativ spät einbezogen.
  • Rassismus müsse definiert werden.

Religion im schulischen Raum: „Wo ein Wille ist, ist ein Weg. Wo kein Wille ist, ist auch ein Weg“

Diskussion kam wie erwartet auch über die Frage nach der Rolle von Religion im schulischen Raum auf. Es sei eher so, dass Atheist:innen an ihrer Schule marginalisiert würden, als religiöse Menschen und es gehe darum, den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen verschiedenen religiösen und nichtreligiösen Überzeugungen unter Schüler:innen zu finden, erläuterte eine Teilnehmerin. Aus Projektsicht ist dies keine Frage von entweder oder. Vielmehr gilt es, Gemeinsamkeiten zwischen unterschiedlichen Überzeugungen zu finden und gleichzeitig Schüler:innen auch in ihren Differenzen zu respektieren.

Ein kleinster gemeinsamer Nenner für schulische Radikalisierungsprävention könnte etwa aus Respekt, Empathie, Ambiguitätstoleranz, kritischem Denken oder sozialer Verantwortung bestehen. Gleichzeitig sollte Schule Unterschiede zwischen Schüler:innen nicht negieren oder nivellieren, sondern sie bewusst integrieren und fruchtbar machen, also auch Angebote je nach religiöser oder nichtreligiöser Überzeugung zu machen.

Religion sei für sie Privatsache, betonte eine weitere Schulleitung und stellte sich kritisch gegen den Absatz aus unserem Muster-Konzept, in dem es heißt: „Religiöses Leben hat deswegen an unserer Schule einen Platz und wir versuchen ihre Ausübung so weit zu ermöglichen, wie es der schulische Rahmen zulässt.“

Hier gilt es aus Projektsicht ein weit verbreitetes Missverständnis aufzuklären: Religion nämlich ist insofern „Privatsache“, als der Staat sich grundsätzlich neutral gegenüber Religionen zu verhalten und nicht in persönliche Glaubensentscheidungen einzumischen hat. Religion aber ist insofern nicht ausschließlich eine private Angelegenheit, als Religionsgemeinschaften in der Öffentlichkeit wirken dürfen. Religiöse Symbole, Feiertage und Religionsunterricht an Schulen sind Ausdruck der öffentlichen Präsenz von Religion.

Schulen sollen religiöse Symbole und Praktiken also nicht verbieten, solange diese die Rechte anderer nicht verletzen. Entscheidend aus Projektsicht ist erfahrungsgemäß die Haltung der entscheidenden Personen. Versteht eine Schule sich als offen gegenüber dem Wunsch junger Menschen, ihre Religion zu praktizieren, kann sie dafür Möglichkeiten im schulischen Raum schaffen. Versteht sie Religion vor allem als Gefahr, wird sie ihre Rolle im schulischen Raum vermutlich so weit wie möglich zurückdrängen.

„Reihenfolge eines Clearing-Verfahrens einhalten“

Es folgte eine Gruppenarbeit zum Umgang mit Fällen von Radikalisierung, für die sich jeweils zwei bis drei Schulen zusammensetzten. Die Gruppen sollten prüfen, wie das ihnen vorgestellte Clearing-Verfahren auf einen aktuellen Fall von Radikalisierung angewendet werden könnte und dabei gegebenenfalls sogar schon Teile des zuvor angestoßenen Radikalisierungspräventionskonzepts zu nutzen.

Diskutiert wurde anschließend im Plenum über das Spannungsverhältnis zwischen einer schnellen Reaktion auf vermeintlich radikalisiertes Verhalten und einem besonnenen Vorgehen. Aus der Erfahrung der drei CleaR-Projekte empfiehlt sichimmer der letztere Ansatz. Besonnenheit bedeutet aus demnachnicht, einen initialen Hinweis nicht oder nur schleppend zu bearbeiten, sondern,dass die sieben Schritte des Clearingverfahrens eingehalten werden,statt etwa den Beschluss von Maßnahmen den Recherche-Phasen vorzuziehen. Den (potenziellen) Fall von Radikalisierung ausführlich kennenzulernen hilft dem Clearingteam aus Projektsicht in jedem Fall dabei, adäquate pädagogische Maßnahmen zu ergreifen.

„Der eigenen pädagogischen Kompetenz vertrauen“

Auch der Aspekt der außerschulischen Präventionsakteur:innen wurde diskutiert und die Wichtigkeit davon erkannt, die Ressourcen im eigenen Umfeld zu analysieren und bei Bedarf zu nutzen. Die Projektleitung richtete gleichzeitig einen Appell an die Anwesenden, der eigenen pädagogischen Kompetenz zu vertrauen und diese zu nutzen.

Es folgte ein Workshop von Stefan Vieres und Torben Hollin vom Beratungsnetzwerk Grenzgänger des Vereins IFAK e.V. aus Bochum [3]. Vieres ist Psychologe mit Schwerpunkt Distanzierungs- und Ausstiegsbegleitung, Hollin Systemischer Berater (DGSF), Sozialarbeiter, Gemeindepädagoge und Diakoniker. Anhand einer Fallarbeit in Gruppen erarbeiteten die beiden mit den Anwesenden Risiko- und Schutzfaktoren mit Blick in Radikalisierungsprozessen. Die wissenschaftliche Datenlage bzgl. dieser Faktoren sei zwar gering, betonten die beiden Referenten. Trotzdem ließen sich auch anhand von Erfahrungswerten bestimmte unterschiedliche Faktoren immer wieder beobachten. Mit Bezug auf vier verschiedene Fälle erarbeiteten die Teilnehmenden die folgenden Faktoren:

Schutzfaktoren:

  • Bewegung und Gemeinschaft durch Fußballspielen
  • Eine stabile Familienbeziehung
  • Halt durch eine Religion
  • Ein gesundes Selbstbewusstsein
  • Ein Orientierung schaffendes klares Weltbild
  • Familiäre, schulische, berufliche oder andere Verpflichtungen
  • Eine (Kirchen)gemeinde
  • Eine stabile Partnerschaft

Risikofaktoren:

  • Ein neuer Freundeskreis
  • Traumatische Erfahrungen (z.B. aus einem Kriegsgebiet)
  • Eine Bindungsstörung
  • Eine absolute Auslegung der Religion, die Gegenperspektiven verweigert
  • Junges Alter
  • Eine über-ausgeprägte Suche nach Sinn und Identität
  • Ein Gefühl der Ungerechtigkeit
  • Fehlender Schlaf
  • Beziehungsabbrüche
  • Die Vernachlässigung einzelner Lebensbereiche (Schule, Sport, etc.)
  • Mobbing-Erfahrungen
  • Die Scheidung der Eltern
  • Drogen-Missbrauch

 

Aus Projektsicht sind beide Faktorentypen für das Clearingverfahren von großer Bedeutung. Die Analyse möglicher Risikofaktoren hilft dem Clearingteam dabei richtig einzuschätzen, ob es sich bei gemeldeten Hinweisen auf mögliche Radikalisierung wirklich um eine solche handelt. Die Schutzfaktoren werden hingegen für die Durchführung von pädagogischen Maßnahmen relevant. Etwa, wenn diese darauf abzielen, dass die Schüler:innen innerhalb der Schule neue Freundschaftsbeziehungen aufbauen.

„Chancen und Grenzen phänomenübergreifender Ansätze“

Eine Diskussion brach anschließend über die Chancen und Grenzen eines phänomenübergreifenden Blicks auf Radikalisierung aus. Dieser schütze zwar vor Stigmatisierungen und betone vor allem die häufig ähnlichen Rahmenbedingungen unterschiedlicher Radikalisierungsprozesse. Gleichzeitig jedoch betonten die beiden Referenten Unterschiede zwischen Radikalisierungsprozessen in unterschiedlichen Phänomene. So strebten etwa viele rechtsextreme Strömungen nach mehr Volkswillen und Direktdemokratie, während radikale Akteur:innen, die ihre Ideologie religiös begründen, der Demokratie als Staatsform grundsätzlich skeptisch gegenüberstünden. Auch die Zielgruppen unterschieden sich; für viele Akteur:innen, die ihre radikale Ideologie religiös begründen, sei der kulturelle, ethnische oder religiöse Hintergrund der zu radikalisierenden Menschen unerheblich. Das sei bei rechtsextremen Akteur:innen anders.

„Bedürfnisse nach Bedeutung und Anerkennung anders erfüllen“

Für pädagogisches Personal gelte es deswegen, den Selbstwert junger Menschen so weit wie möglich zu stärken, um Resilienz gegenüber radikalisierenden Ansprachen zu fördern. Die sogenannte Significance-Quest-Theorie [4], was sich in etwa mit „Suche nach Bedeutung“ übersetzen ließe, beispielsweise betont dass radikale Verhaltensweisen nicht aus einer intrinsischen Bösartigkeit resultierten, sondern aus einem psychologischen Bedürfnis nach Bedeutung und Anerkennung. Pädagogisches Personal kann solche Bedürfnisse im Verlauf eines Clearingverfahrens identifizieren und versuchen sie auf andere Weise zu erfüllen.

„Ressourcen schaffen, Spielräume nutzen – eine Vision für wirksame Bildung im 21. Jahrhundert“

Gerade an Tag 1 des Auftaktmoduls wurden die zahlreichen Voraussetzungen betont, die mit der Implementierung von Strukturen schulischer Radikalisierungsprävention einhergehen. Da das Proektteam sich darüber bewusst ist, dass der Implementierungsprozess zeitlicher und personeller Ressourcen bedarf, hatte es Frank Wagner eingeladen. Er ist Schulleiter der Gebrüder-Grimm-Schule (GGS), einer offenen Ganztagsgrundschule in Hamm. 2019 hat seine Schule den Hauptpreis des deutschen Schulpreises gewonnen. Wagner zeigte seine Vision auf, wie Schulen einem System am Limit trotzen und zeitliche Ressourcen gewinnen können. Zeit sei das wertvollste Kapital, das Pädagog:innen hätten. Die Vision seiner GGS basiere auf mehreren Säulen, die wir im Folgenden zusammenfassen:

  1. „Ein Film statt 3 Wochen Unterricht“: Digitalisierung

Heutzutage gehe man nicht mehr zu einem Professor, um sich zu informieren, sondern kann das Internet nutzen. Digitale Hilfsmittel können für Schulen eine Ressource sein, die Zeit freiräumt. Wagner erzählte von einem Schüler, der zu Hause einen etwa 45-minütigen Film über die Kaiserzeit geguckt habe. Als durchschnittlicher Schüler habe er in der anschließenden Geschichts-Klausur eine 2- geschrieben, nachdem er das Thema, um das sich drei Wochen Geschichtsunterricht gedreht habe, verpasst hatte. Es gebe Möglichkeiten, sich fachliche Inhalte im Internet anzueignen, etwa durch den Youtube-Kanal von „Lehrerschmidt“. Viele fachliche Inhalte könnten also in die Digitalität geschoben werden. Youtube-Videos brächten außerdem den Vorteil mit sich, vor- und zurückspulen zu können. An der GGS gebe es darüber hinaus eine Zoom-Sprechstunde am Nachmittag, die stark nachgefragt werde.

  1. „Bedeutung und zeitlichen Aufwand in ein angemessenes Verhältnis bringen“: Priorisierung

Wagner erzählte den Weg, den seine Grundschule gegangen sei, rückblickend nach. Vor etwa zwölf Jahren hatte es kaum Anmeldungen gegeben, Schüler:innen hätten sich immer wieder geprügelt und die Schule sei als „Türkenschule“ bezeichnet worden. Die Schule mit einem Sozialindex von 135,7 stand bereits kurz vor der Schließung; doch ihr vermeintliches Ende wurde zum Auslöser dafür, dass man sich zusammengesetzt und diskutiert hätte, welche Fähigkeiten und Kompezten die Schüler:innen unbedingt für den Wechsel auf die weiterführende Schule bräuchten. Schließlich ist der Wechsel von der Grund- in die weiterführende Schule für viele alle Schüler:innen eine Zeit großen Umbruchs wie auch Michael Kiefer gezeigt hat. [5]-. Inhalte der Lehrpläne teilten die LehreR:innen anschließend ein in Basis-, Regel- und Optimalkompetenzen. Dieses Vorgehen sei auch auf weiterführende Schulen übertragbar. Die GGS zählte etwa im Mathe-Unterricht das sichere Addieren zu einer unverzichtbaren Basiskompetenz; ob hingegen erst ein Punkt und dann das Abführungszeichen folge oder umgekehrt, die Sicherheit in dieser Frage ordnete die GGS dem Bereich der Optimalkompetenzen zu.

Wichtig war Wagner zu betonen, dass seine Schule keine vorgeschriebenen Inhalte aus den Lehrplänen auslasse, sondern dass sie sich genau damit auseinandersetze, wie viel Zeit wofür aufgebracht werde. Es gelte die Freiheiten, die die Lehrpläne umfasste, konstruktiv zu nutzen. Es sei eben keine feste Stundenzahl für die Vermittlung spezifischer Inhalte vorgeschrieben.

  1. „Schüler:innen brauchen Lehrkräfte, doch wofür?“ Ressourcen nutzen

Die durch Priorisierung und Digitalisierung frei gewordenen Ressourcen können auf vielfältige Weise genutzt werden, nicht nur für Radikalisierungsprävention oder die Arbeit mit dem Clearing-Verfahren. Die GGS etwa hat sich zum Ziel gesetzt, Charakterbildung ebenso zu fördern wie Kommunikationskompetenzen und das Lernen, selbständig zu lernen, etwa mit Hilfe digitaler Zugänge. Schüler:innen bräuchten Lehrkräfte definitiv, nicht unbedingt jedoch für Fachliches, betonte Wagner, sondern eher für die Förderung einer emotionalen Intelligenz, kritischen Denkens und demokratischen Handelns.

An der GGS bestand eine Aufgabe für eine Klasse beispielsweise darin, selbstorganisiert Geld zu verdienen. Das hatte nicht nur den Vorteil, dass die Lehrkraft die Unterrichtsstunde nicht vorbereiten musste, sondern dass die Klasse lernte, selbstorganisiert Probleme zu lösen. In dem Fall beispielsweise eröffneten sie einen Schulkiosk. Die Lehrkraft gab ihnen den Tipp, Preise stark nachgefragter Produkte höher zu setzen und bei weniger stark nachgefragten Produkten den Preis zu senken. Dadurch wiederum eröffnete sich ein Bezug zu den Basiskompetenzen Addieren und Subtrahieren.

Wichtig war Wagner auch hier zu betonen, dass es seiner Schule durchaus um Leistung geht. Es seien keine realitätsfernen, idealistischen Zugänge, die seine Schule wähle, sondern es gelte ein Leistungsprinzip. Entsprechend werden auch Noten vergeben an der GGS. Er persönlich nutze aber auch mal den Ansatz der pädagogischen Noten; es müsse eben nicht immer ein Leistungsschnitt errechnet werden und jede Abweichung nach oben oder unten bedeute unverhandelbar diese oder jene Note.

  1. „Eltern-Lounge“, Unterricht ab halb 9 und „Komplimente-Kärtchen“: Weitere Ansätze der GGS

Wagners Schule nutzt zahlreiche weitere unkonventionelle Zugänge, über die sich pädagogisches Personal auch persönlich ein Bild machen kann. Die Schule lädt auch zu Hospitationen ein. Die GGS arbeitete beispielsweise noch mit dem Ansatz der bedingungslosen Wertschätzung. Dieser bedeute etwa, Eltern einzelner Schüler:innen nicht nur bei Problemen anzurufen, sondern auch zwischendurch, um mitzuteilen, dass ein Kind heute etwas ganz tolles gemacht hätte. „Das wollte ich Ihnen heute einfach kurz sagen. Tschüss!“, könne ein solches Gespräch auch schnell enden. Es sei wichtig, dass Eltern wüssten, dass ihre Kinder geliebt würden.

Die Eltern-Lounge ist ein weiterer der zahlreichen Ansätze der GGS. Dort warteten Kinder, um ihre Kinder abzuholen, statt dies draußen auf dem Parkplatz zu tun. Es gebe Kaffee, Bücher und sie sei vor allem mitten in statt vor der Schule.

Der Unterricht beginnt an der GGS erst um 8:30 Uhr. Zwischen 7:15 und 8:30 Uhr hätten die Kinder die Chance, individuell zu lernen, zu quatschen oder im Büro des Schulleiters an einem Glücksrad zu drehen.

Die Schule arbeite zudem mit Komplimente-Kärtchen, für die sich Schüler:innen gegenseitig Komplimente zuteilten: „Mit dir kann ich gut spielen“ etwa oder „Du kannst so schnell laufen“. Das fördere ein Selbstbewusstsein, das langfristig, wie im Psychologie-Workshop unseres Auftaktmoduls angedeutet, auch Radikalisierung vorbeugen kann.

Wagner plädierte nicht dafür, die Ansätze seiner Schule 1:1 zu übernehmen. Vielmehr ging es dem Projektteam darum, die Anwesenden dafür zu motivieren, sich zu trauen, unkonventionell zu denken, um Lösungen zu finden, die schulischem Personal Wege aufzeigen, zeitliche Ressourcen für Radikalisierungsprävention und all die Kompetenzen zu generieren, die ihnen wichtig sind, für die aber meist keine Zeit bleibt.

Mit diesen ermutigenden Ansätzen endete das Auftaktmodul unseres Weiterbildungsjahrgangs 2025. Das Modul hatte eine breite Brücke geschlagen von den Prämissen des Clearing-Verfahrens über dessen sieben Schritte, eine Annäherung an die Konzepte Radikalisierung und Prävention, den Anstoß der Konzept-Arbeit, Fallarbeit, psychologischen Hintergründen und dem Schaffen zeitlicher Ressourcen.

Literatur:
[1] Kiefer, Lisa; Kiefer, Michael; Wurzel, Hanne; Stuppert, Wolfgang; Sträter, Till (2019): CleaR – Clearing Verfahren gegen Radikalisierung. Praktische Handeichung zur Radikalisierungsprävention im schulischen Kontext. Hg. v. Aktion Gemeinwesen und Beratung e.V., S. 31-34, online verfügbar unter https://www.clearing-schule.de/veroeffentlichung-der-handreichung-zum-modellprojekt/.

[2] Bröckling, Ulrich (2008): Behemoth. A Journal on Civilisation, 1 (38–48), S. 38. Online verfügbar unter: https://www.soziologie.uni-freiburg.de/personen/broeckling/dokumente/3-pravention-behemoth.pdf.

[3] https://ifak-bochum.de/beratungsnetzwerk-grenzgaenger/.

[4] Kruglanski, Arie W.; Molinario, Erica; Jasko, Katarzyna; Webber, David; Leander, N. Pontus; Pierro, Antonio (2022): Significance-Quest Theory. In: Perspectives on psychological science : a journal of the Association for Psychological Science 17 (4), S. 1050–1071. DOI: 10.1177/17456916211034825.

[5] Kiefer, Michael (2023): No man’s land und hermeneutische Abstinenz in der Schule. 8 – 33 Seiten / Perspektiven – Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft und muslimische Wohlfahrtspflege, Nr. 1 (2023). DOI: 10.48439/PERSPEKTIVEN.1-2023.213.V0.