Am 14. Und 15.11.2024 nahmen Junus el-Naggar und Sören Sponick aus dem CleaRNetworking-Team an der internationalen Tagung „Phänomene der Co-Radikalisierung im europäischen Kontext“ der Universität Osnabrück teil. An der Tagung diskutierten Expert:innen und Praktiker:innen aus Frankreich, Österreich und Deutschland über die Praxisrelevanz dieses noch jungen Konzeptes.

Der grundlegende Ansatz von Co-Radikalisierung besteht in einem Hinterfragen grundlegend positiver Bewertungen präventiven Handelns. DCo-Radikalisierung beleuchtet Dynamiken, in denen präventives Handeln entgegen seiner Absicht Radikalisierungen nicht unterbindet, sondern verstärkt. Solche Gefahren bestehen, wie die Tagung eindrücklich zeigte auch im schulischen Raum und so konnten wiederholt Bezüge hergestellt werden zur Arbeit des Projekts CleaRNetworking. Dieser Bericht ordnet die Erkenntnisse der Tagung von dem Hintergrund des Clearingverfahrens ein.

Die nur wenige Tage zuvorerschienene Leipziger Autoritarismus-Studie hat etwa einen deutlichen Anstieg rechtsextremer Einstellung in Westdeutschland ergeben, hohe Zustimmung zu Ausländer:innenfeindlichkeit und Chauvinismus, einen Anstieg von Antisemitismus, eine weite Verbreitung von Ressentiments gegenüber Minderheiten und eine steigende Unzufriedenheit mit der Alltagsdemokratie [1]. Diese Entwicklungen machen auch vor dem schulischen Raum keinen Halt.

Die Gefahr einer wechselseitigen Co-Radikalisierung verschiedener Radikalismen kann aktuell noch mit recht wenig empirischer Evidenz unterfüttert werden, wird in den Angeboten von CleaRNetworking aber bereits umfassend berücksichtigt. Gleichzeitig hat die Tagung einige Ansätze geliefert, schulische Radikalisierungsprävention weiter zu optimieren. Während Co-Radikalisierung etwa auch durch staatliche Gewalt, durch die Verletzung von Bürger- und Menschenrechten, durch polizeiliche Repression oder durch Einschränkungen von Freiheiten wie beispielsweise der Versammlungsfreiheit provoziert werden kann [2], liegen auch im präventiven Handeln von pädagogischem Personal Gefahren wie auch vielfältige Ansatzpunkte. Es geht also darum, Rahmenbedingungen wie auch präventives Handeln selbst so auszurichten, dass Radikalisierungsprävention in der Schule gelingen kann.

Ein Gefühl der Repression etwa kommt bei vielen Schüler:innen aktuell in der Thematisierung des Nahostkonflikts auf und Schüler:innen berichten von einem Klima des Verdachts und der Unsicherheit im schulischen Raum. Schulisches Personal kann dem begegnen, indem Räume für offenen Austausch und ein Klima des Vertrauens und der Offenheit geschaffen werden. Repressionserfahrungen wurden im Rahmen der Tagung wiederholt als ein möglicher Mitauslöser oder Verstärker von Radikalisierungsprozessen bezeichnet, jedoch nie als der alleinige oder ausschließliche Grund. Wie auch die Veranstalter:innen der Tagung gehen wir auch im CleaRNetworking davon aus, dass Radikalisierungsprozesse individuell verlaufen und stets multiple Ursachen haben, die sich wechselseitig bedingen und beeinflussen.

Das Clearing-Verfahren selbst lässt sich als Versuch bezeichnen, Prävention koordiniert, strukturiert und systematisch zu betreiben, um überhastete Handlungsabläufe zu vermeiden, die im schlechtesten Fall den Radikalisierungsprozess des betreffenden Schülers oder der betreffenden Schülerin befeuern. Die für gemeinsame pädagogische Arbeit so zentrale Beziehung zwischen schulischem Personal und Schüler:in ist schließlich in Gefahr, wenn schulisches Personal mit Härte, Restriktion, Sanktion oder Machtdemonstration auf Hinweise von Radikalisierung reagiert statt mit einer Intensivierung des Kontakts, mit dem Halten einer Bindung, mit fokussierter Aufmerksamkeit, Präsenz und Interesse.

Im Kontext des Konzeptes der Co-Radikalisierung lassen sich zahlreiche weitere Schwerpunkte der Projektarbeit von ClaRNetworking verorten, etwa:

  1. Die gemeinsame kritische Reflexion der eigenen Position von schulischem Personal im Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse sowie des diskriminierenden Potenzials der Institution Schule
  2. Die Reflexion des eigenen Bezugs zu Religiosität und die Öffnung für Perspektiven, die das Potenzial von Religiosität von Schüler:innen anerkennen und nutzen
  3. Der phänomenübergreifende Ansatz schulischer Radikalisierungsprävention, der einen breiten Blick auf unterschiedliche Formen der Radikalisierung vorsieht, statt einzelne Gruppen zu stigmatisieren
  4. Konstruktive und wertschätzende Methoden der Beratung und der Gesprächsführung statt Sanktion

In diesen und weiteren Aspekten liegen bei Berücksichtigung große Chancen und bei Nichtberücksichtigung Gefahren der schulischen Präventionsarbeit, auf die das Projekt CleaRNetworking schulisches Personal aufmerksam macht. Das Konzept der Co-Radikalisierung, das hat die Osnabrücker Tagung weiter verdeutlicht, kann schulischem Personal helfen, die eigene Präventionsarbeit so weit kritisch zu reflektieren, dass sie kontinuierlich optimiert werden kann.

 

Literatur

[1] Decker, Oliver; Kiess, Johannes; Heller, Ayline; Brähler, Elmar (Hg.) (2024): Vereint im Ressentiment. Autoritäre Dynamiken und rechtsextreme Einstellungen : Leipziger Autoritarismus Studie 2024. Originalausgabe. Gießen: Psychosozial-Verlag (Forschung psychosozial). Online verfügbar unter https://www.otto-brenner-stiftung.de/leipziger-autoritarismus-studie-2024/.

[2] Pickel, Susanne; Pickel, Gert; Decker, Oliver; Fritsche, Immo; Kiefer, Michael; Lütze, Frank Michael et al. (Hg.) (2023): Gesellschaftliche Ausgangsbedingungen für Radikalisierung und Co-Radikalisierung. Springer Fachmedien Wiesbaden. Wiesbaden, Heidelberg: Springer VS (Politik und Religion). Online verfügbar unter https://portal.dnb.de/opac/mvb/cover?isbn=978-3-658-40558-8.