Zu Modul 6 versammelte sich der aktuelle CleaRNetworking-Jahrgang im Hotel Schweizer Hof in Kassel-Wilhelmshöhe. Dieses Modul verfolgte einen explizit praktischen Ansatz, der sich auf die Arbeit mit dem Clearing-Verfahren spezifizierte.

Phänomenübergreifende Radikalisierungsprävention
Zu Beginn jedoch sollte eine Brücke geschlagen werden zu Modul 4, in dem die Gruppe sich den einzelnen Phänomenen der Radikalisierung widmete, darunter religiös begründete Radikalisierung, Verschwörungstheorien, Rechtsextremismus und Antisemitismus. In Kassel nun widmeten wir uns dem Ansatz der phänomenübergreifenden Radikalisierungsprävention. Dazu zählten Fragen danach, inwiefern sich pädagogisches Vorgehen, Hintergründe und Verstärker von Radikalisierung mit Blick auf Rechtsextremismus, religiös begründeten Extremismus und anderen Phänomenen voneinander (nicht) unterscheiden.

Gemeinsam wurde der Kurzfilm RADIKAL gezeigt und analysiert, der vom Hessischen Ministerium des Innern und für Sport in Kooperation mit dem Hessischen Kultusministerium und der Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien herausgegeben wurde. Eine anschließende Diskussion zielte auf die Frage ab, inwiefern sich der pädagogische Umgang der Teilnehmenden mit den drei im Film gezeigten Formen der Radikalisierung je nach Phänomen voneinander unterscheiden würde. Kritisch wurde durchaus die im Film verwendete Dreiteilung in Linksextremismus, Rechtsextremismus und islamistisch begründeten Extremismus gesehen. Gleichzeitig deutete der Film an, dass Push- und Pullfaktoren sich überlappen. So bilden die Frustration, der aggressive Vater, der schulische Misserfolg, die Gewalt in allen drei Szenarien einen Nährboden, der den Radikalisierungsprozess des Hauptcharakters befeuert. Gleichzeitig verfügen die drei skizzierten Phänomene über eine Anziehungskraft, die sich in Pull-Faktoren wie einer simplen und politisierten Erklärung eigener Probleme ebenso äußert, wie im Anbieten von Zugehörigkeit, Sinn, Ordnung, im Schaffen eines klaren Feindbildes (ob nun der Kapitalismus, die Muslim:innen oder der Westen). Eine zentrale Erkenntnis lag darin, dass sich das pädagogische Vorgehen des schulischen Personals unabhängig davon, um welches Phänomen der Radikalisierung es sich handelt, kaum voneinander unterscheidet.

Es folgte eine Gruppenarbeit, die sich zwei Fällen von Radikalisierung widmete. Die Gruppen arbeiteten in der Folge heraus, wie sich die (vermeintliche) Radikalisierung in den beiden Fällen äußert, was mögliche Hintergründe und Verstärker für das skizzierte Verhalten sind und wo zwischen den beiden Fällen Gemeinsamkeiten und Unterschiede liegen. Die beiden durchaus bewusst etwas überspitzten Szenarien verdeutlichten die Nähe unterschiedlicher Radikalisierungsphänomene zueinander. Hier die beiden Fälle:

Fall 1 (Janina): Janina ist 16 Jahre alt und sorgt sich um ihre Zukunft, weil sie sich von ihren Lehrer:innen unfair behandelt fühlt und ihre Versetzung gerade zum zweiten Mal gefährdet ist. Janinas Mutter hat es vor einigen Wochen geschafft, sich vom Vater zu trennen, nachdem er über Jahre Gewalt angewendet hatte. Janina hat sich in dieser Zeit zunehmend zurückgezogen und hat keine Bezugspersonen mehr in ihrer Klasse. Statt etwas mit Freund:innen zu unternehmen, spielt sie lieber Videospiele. Auf Instagram folgt sie einem Kanal, auf dem Bilder aus ihrem Lieblings-Ego-Shooter-Spiel geteilt und mit politischen Botschaften kombiniert werden. Es wird geschossen gegen „die da oben“, die sich nur noch um Migrant:innen kümmerten, während „die Deutschen“ vernachlässigt würden. Gewarnt wird vor einer übermäßigen politischen Korrektheit. Schwul, lesbisch oder transsexuell zu leben, sei ekelhaft und verwerflich. Vor 90 Jahren wäre das unmöglich gewesen, hieß es letztens auf einem Bild. Heute drehe sich alles nur noch um den Klimawandel, der von einer jüdischen Elite herbeigeredet werde, um die Bevölkerung ruhig zu halten. Über Instagram hat Janina ein paar Gleichgesinnte kennengelernt, mit denen sie sich neuerdings auch trifft und in deren Gesellschaft sie sich aufgehoben fühlt. Die Gruppe weiß, dass sie mit ihren Positionen aneckt, aber das Abenteuer, anders zu sein und zu den Ausgeschlossenen zu zählen, finden sie gemeinsam reizvoll. Die Hakenkreuze, die seit Neuestem an einigen Wänden in Janinas Schule zu sehen sind, findet sie schön. Im Klassenchat hat sie rassistische und homophobe Symbole geteilt. Das Fass läuft endgültig über, als sie einen Lehrer in einer Freistunde beim Einkaufen in einem benachbarten Supermarkt mit einem Hitlergruß begrüßt und ihm zuruft „Du Zecke, verpiss dich!“. Mitschüler:innen, die ihr widersprechen, schikaniert sie ebenso wie solche, die sie für nicht deutsch hält. Das schulische Personal scheint hilflos und die Schüler:innen fühlen sich von Janina zunehmend bedroht.

Fall 2 (Souhail): Souhail ist 15 Jahre alt und gerade hat sich seine Freundin von ihm getrennt. Souhails Vater ist chronisch krank und greift regelmäßig zum Alkohol. Souhail versteht sich eigentlich als deutsch, was in seinem Alltag aber immer wieder hinterfragt wird. Als sein Freund Lennart ihm einen YoutubePrediger empfiehlt, der Memes aus Souhails aktuellem Lieblings-Action-Film teilt, beginnt Souhail sich mit der von dem Prediger beschworenen zunehmenden Diskriminierung von Muslim:innen in Deutschland auseinanderzusetzen. Seinem Umfeld fällt auf, wie sich Souhails Ton verändert. Er warnt vor einer Assimilation an „westliche“ Werte und fordert eine Rückkehr zur Zeit der Gründung des Islams. Frauen würden sich heute nicht mehr ehrwürdig verhalten und die Zionist:innen machten mit den Palästinenser:innen das, was Nazis früher mit Jüdinnen und Juden gemacht haben. Der Gedanke an eine große, zusammenhaltende muslimische Umma, die sich gemeinsam gegen die geteilten Erfahrung zur Wehr setzt, beruhigt Souhail. Dass seine Eltern vor dem Prediger warnen, führt nur dazu, dass er sich mit ihm noch mehr identifiziert. Heimlich nimmt Lennart Souhail dann einmal mit zu einem Live-Vortrag des Predigers. Anschließend trinken die Anwesenden, fast ausschließlich Jugendliche, in einer gemütlichen Runde zusammen Tee. Alle helfen beim Vor- und Nachbereiten mit. In der Schule fällt Souhail zunehmend durch provokative, hasserfüllte Äußerungen auf, etwa indem er sich vor allem an muslimische Schüler:innen wendet und deren Religionsverständnis als lasch und falsch verurteilt. Irgendwann beginnt er gar, ihnen zu drohen und sie zu beschimpfen. Sein Glaube sei der einzig wahre und es gelte sich endlich gegen die „westliche“ Unterdrückung zur Wehr zu setzen. Viele Schüler:innen haben inzwischen Angst vor Souhail und das schulische Personal sorgt sich.

Anschließend an die Arbeit mit den beiden Fällen folgte ein kurzer Vortrag der Projektleitung zum Ansatz der phänomenübergreifenden Radikalisierungsprävention. Grundsätzlicher Nutzen des Ansatzes liegt etwa in der Vermeidung von Stigmatisierung, weil der Blick weiter reicht, als auf ein einzelnes Phänomen. Zudem ermöglicht er einen Fokus auf Bedingungen statt einer Einteilung von Phänomenen in Schubladen; er ermöglicht die Arbeit an konkretem Verhalten, statt dieses vorschnell etwa mit Kultur zu begründen.

Viele der Push-Faktoren treffen auf unterschiedliche Radikalisierungsphänomene zu, so etwa Identitätskrisen, erlebte Diskriminierung oder Marginalisierung oder Ängste. Selbiges gilt für die Pull-Faktoren, die eine Anziehungskraft zu unterschiedlichen Radikalisierungsphänomenen entfalten; so etwa das Angebot von Sicherheit, Orientierung, Identifikation, Zugehörigkeit, Gemeinschaft, sozialer Bindung, Anerkennung, Selbstwirksamkeit, Abenteuer & Faszination und Abgrenzung (etwa von Eltern oder der Gesellschaft als solcher).

Auch ein Blick auf Biografien sich radikalisierender Menschen offenbart phänomenübergreifende Parallelen, etwa Erfahrungen mit familiären Konflikten, instabilen Bindungen, Trennung, Tod, Sucht, Krankheit, Gefängnisaufenthalte, autoritäre Erziehungsstile, Gewalt- oder Nichtzugehörigkeitserfahrungen.

Radikale Ideologien weisen außerdem insofern Parallelen auf, als sie sich als homogene Gruppe konstruieren und von einer Fremdgruppe abgrenzen. Lediglich in der konkreten Ausgestaltung dieser Fremdgruppe unterscheiden sie sich voneinander. So verweisen rechtsextreme Gruppen beispielsweise auf die Fremdgruppe der Migrant:innen, der Ausländer:innen, der Linken, der Grünen, der Geflüchteten oder der Muslim:innen und bringen sich selbst als homogenes, moralisch überlegenes, wahres Volk hervor. Islamist:innen hingegen verstehen sich selbst als wahre Muslim:innen, verweisen auf die Umma und grenzen diese von Konstrukten wie dem Westen, den Ungläubigen oder auch Muslim:innen, die ihre Religion anders verstehen, ab.

Auch was die Ansprachen angeht nutzen unterschiedliche Ideologien sowohl Popkultur (Sport, Musik, Literatur, Filme) als auch soziale Medien. Es gibt etliche Brückennarrative zwischen unterschiedlichen Radikalisierungsphänomenen, etwa Antisemitismus, ethnisch-kulturell homogene Gruppenidentitätskonstruktionen, Antimodernismus, nostalgische Vergangenheitsbezüge, die Ablehnung von Vernunft, Pluralismus und Wissenschaft oder auch Antifeminismus. Grenzen phänomenübergreifender Radikalisierungsprävention liegen etwa in den häufigeren Aufrufen zu physischer Gewalt im Rechtsextremismus, als in anderen Phänomenen oder auch in der größeren Zielgruppe islamistischer Rektutierender. Der Ansatz der phänomenübergreifender Radikalisierungsprävention gerät also durchaus an seine Grenzen. Er ermöglicht aber vor allem einen pädagogischen Blick auf Verhalten und Ressourcen, statt Schüler:innen in Schubladen und Schablonen einzuordnen

 

Schulische Implementierung von Radikalisierungsprävention
Nach einer Pause referierte Projektmitarbeiter Sören Sponick über unterschiedliche Ansätze der Definition von Radikalisierung und Prävention. Unser Projekt geht davon aus, dass eine einheitliche Definition vor allem von Radikalisierung essenziell an einer Schule ist, um im Zweifelsfall auf schriftliche Grundlagen verweisen zu können, wenn die Frage aufkommt, ob es sich bei einem vermeintlichen Fall von Radikalisierung tatsächlich um einen solchen handelt. Gleichzeitig gilt es, Definitionen nicht mit Checklisten zu verwechseln. Sponick stellte etwa die folgenden beiden Definitionen vor, grenzte sie voneinander ab und ermutigte die Teilnehmenden, unterschiedliche Teilaspekte verschiedener Definitionen zu einer Definition zusammenzuführen, auf die sich das Kollegium verständigen kann und die zur jeweiligen Schule passt:

Radikalisierung als Abweichung: “[Wir] verstehen Radikalisierung als die zunehmende Infragestellung der Legitimation einer normativen Ordnung und/oder die zunehmende Bereitschaft, die institutionelle Struktur dieser Ordnung zu bekämpfen“. (Abay Gaspar et al., 2018: 5)

Radikalisierung als Polarisierungsprozess: „[D]er zu einer extremen Polarisierung von Gefühlen, Überzeugungen und Verhaltensweisen führt, die mit der gesellschaftlichen Norm inkonsistent ist sowie zu Extremismus und letztendlich zu Gewalt führt“ (Zick/Böckler 2015:7)

Diskutiert wurde dann etwa über die Frage, ob Radikalisierung per se negativ ist. Sponick verwies nachdrücklich auf die Prozesshaftigkeit von Radikalisierung, die eben nicht zwingend zu Gewalt und/oder Extremismus führen muss. Anknüpfend an den vorherigen Programmpunkt zu phänomenübergreifender Radikalisierungsprävention verwies er auf unterschiedliche radikalisierungsbegünstigende Faktoren wie etwa eine Sinnsuche, biografisch kritische Lebensereignisse, schulische, familiäre oder berufliche Problemlagen, Süchte sowie Diskriminierungs- oder Marginalisierungserfahrungen.

Auch was Prävention angeht stelle Sponick zwei Definitionen vor und stellte diese zur Diskussion:

Prävention als Zeitschema: „Etwas wird getan, bevor ein bestimmtes unerwünschtes Ereignis oder ein bestimmter unerwünschter Zustand eintreten, damit diese nicht eintreten oder zumindest der Zeitpunkt ihres Eintretens hinausgeschoben wird und/oder die erwarteten negativen Effekte des Ereignisses oder Zustands begrenzt werden.“ (Bröckling 2017:74)

(Radikalisierungs)Prävention als Demokratieförderung: “Nachhaltige Prävention stellt die Ursachen von Radikalisierung in den Mittelpunkt und vermittelt die Notwendigkeit pluraler politischer und religiöser Deutungsangebote. Hierbei spielt politische Bildung als Instrument für gesellschaftliche Teilhabe eine wichtige Rolle. Dabei muss auch Antisemitismus frühzeitig verstärkt präventiv begegnet werden“. (Radikalisierungsprävention 2018, S. 1–2)

Aufgabe von schulischer Radikalisierungsprävention müsse entsprechend sein, mögliche Problemlagen frühzeitig zu identifizieren; Risiken kritisch einzuschätzen und auf Grundlage dieser Einschätzungen spezifische Vorsorgemaßnahmen zu treffen, um unerwünschten Verhaltensweisen vorzubeugen. Grundlegende Präventionsziele können etwa die Unterbrechung von Radikalisierung und die Förderung der Ressourcen der jeweiligen Schüler:innen sein. Prävention, so Sponick, erfolgt jedoch nicht gegen als beliebige, sondern gegen gewaltorientierte, menschenfeindliche und demokratiefeindliche Äußerungen und Handlungen.

Eine Grundsatzdiskussion kam auch über die Frage auf, inwiefern das Projekt CleaRNetworking überhaupt Prävention betreibt, weil es eben erst da ansetzt, wo es bereits vermeintliche Fälle beginnender oder fortschreitender Radikalisierung gibt. Unser Projekt betreibt keine primäre/universelle Prävention, die sich an alle Personen richtet und keine Zielgruppenspezifika aufweist, sondern es betreibt sekundäre/selektive Prävention, die sich an Personen richtet, die Gefahr laufen oder Faktoren ausgesetzt sind, die möglicherweise zu einer Radikalisierung führen könnten sowie tertiäre/indizierte Prävention, die sich gezielt mit Personen auseinandersetzt, die sich bereits radikalisiert haben oder sich in einem Radikalisierungsprozess befinden. Der präventive Grundsatz des Projekts liegt im Schaffen funktionierender schulischer Strukturen, die ermöglichen, bei aufkommenden Fällen systematisch und strukturiert agieren zu können.

Anschließend ging es in den Schultandems an die praktische Arbeit, anhand von Leitfragen ein Konzept für die Implementierung von Radikalisierungsprävention an der eigenen Schule zu entwerfen. Folgende Leitfragen fungierten als Orientierung für den Entwurf eines Konzeptes:

  • Wie wird an eurer Schule Prävention definiert? (Wogegen soll präventiv agiert werden? Wogegen nicht?)
  • Welche Ziele verfolgt die Implementierung von Radikalisierungsprävention an eurer Schule?  Wessen Interessen werden verfolgt? (Z.B. Ermöglichung eines Schulabschlusses, Schulfrieden, Entstigmatisierung der Schule in der öffentlichen Wahrnehmung)
  • Inwiefern lassen sich diese Ziele in eurem Landesschulgesetz wiederfinden?
  • An welche Zielgruppe wendet sich Radikalisierungsprävention an eurer Schule? Wieso?
  • Wie wird an eurer Schule Radikalisierung definiert? Inwiefern gibt es Indikatoren, die Radikalisierung anzeigen? (Stigmatisierung vermeiden, Fokus auf Verhalten)
  • Welche außerschulischen Akteur:innen können zurate gezogen werden? Wessen externe Expertise kann genutzt werden?
  • An welche vorhandenen Schulstrukturen könnt ihr andocken? Wie lassen sich Ressourcen bündeln?
  • Aus wem besteht ein CleaRing-Team? Wer soll bei Zusammenkünften des Clearing-Teams grundsätzlich immer dabei sein? Wer soll bei Bedarf hinzugezogen werden? Auf wen sollte möglichst verzichtet werden? Jugendamt, Schulleitung, Polizei, Eltern, Schulsozialarbeit, Klassenleitung der betroffenen Person, regionale Fachstellen, Beratungslehrkraft, Verfassungsschutz, Bezugspersonen des Jugendlichen.
  • Wie sieht die konkrete Aufgabenverteilung aus? Wer ist wofür wann wozu in welchem Umfang zuständig?
  • Wie geht ihr mit personeller Fluktuation um? Wie wird die Langfristigkeit der Implementierung von Radikalisierungsprävention an eurer Schule sichergestellt?
  • Wie viele Stunden brauchen die CleaRing-Beauftragten für ihre Präventionsarbeit? Inwiefern können sie diese bekommen?
  • Wie wird die fortwährende Fachkompetenz des Clearing-Kompetenz sichergestellt (z.B. durch regelmäßige Teilnahme an CleaRNetworking-Netzwerktreffen)?
  • Inwiefern wird sichergestellt, dass möglichst alle Lehrkräfte, Schüler:innen und Eltern und die Schulsozialarbeit über das Verfahren bescheid wissen (z.B. jährliche Veranstaltung)?
  • In welchem Rahmen (z.B. Arbeitsgemeinschaft) soll Austausch über Prävention stattfinden? Inwiefern soll es an eurer Schule (regelmäßige) Präventionssitzungen geben? Inwiefern wollt ihr Zwischenbilanzen ziehen?

Anhand einiger Beispiele wurden im Anschluss im Plenum gemeinsam Rückfragen diskutiert.

Erprobung des Clearing-Verfahrens
Im Rahmen dieses Programmpunktes wurden der Verlauf zweier hypothetischer Fälle von Radikalisierung sowie das Handeln des Clearing-Teams und die Anwendung der sieben Schritte des Clearing-Verfahrens durchgesprochen. Dabei stellte das Projektteam Schritt für Schritt vor, was passierte und wie das Clearing-Team vorging. Anschließend an jeden Schritt wurde dann Kritik von Seiten der Teilnehmenden am beschriebenen Vorgehen laut. So wurden diese für sinnvolle Schritte ebenso sensibilisiert, wie für weniger sinnvolle, eine angemessene Reihenfolge des Vorgehens, usw. So begann etwa der erste Fall folgendermaßen:

  • Was passiert? Eine Klassenlehrerin aus einer neunten Klasse wendet sich im Treppenhaus an dich, weil dir an deiner Schule die offizielle Zuständigkeit der Radikalisierungsprävention zukommt.
  • Hypothetisches Vorgehen: Du bittest sie zu einem Gespräch in Ruhe.

Darauf folgte Schritt 1, die Vorrecherche:

  • Was passiert? In diesem Gespräch erfährst du, dass ein Schüler, den du als zuverlässig und freundlich kennst, sich seit Schuljahresbeginn einen Bart wachsen lasse. Er sei außerdem mit dem Wunsch auf die Klassenlehrerin zugekommen, ihm in der Mittagspause einen Raum zum Beten zur Verfügung zu stellen, weil die Zeit für das Mittagsgebet nach der 8. Stunde verstrichen sei. Er habe außerdem auf seine vier muslimischen Mitschüler:innen Druck ausgeübt, gemeinsam mit ihm in der Pause zu beten und auf die beiden weiblichen Mitschülerinnen, ein Kopftuch zu tragen. Die Klassenlehrerin gibt an, sich zu sorgen, der Schüler könne den Klassenfrieden nachhaltig stören. Ein Kopftuch wolle sie im Unterricht nicht sehen. Religion sei Privatsache und dürfe keine Unruhe in die Klasse bringen.
  • Hypothetisches Vorgehen: Du willst die Sorgen der Kollegin ernst nehmen. Deswegen berufst du das CleaRing-Team ein. Teil dieses Teams zu Beginn sind zunächst vier Personen: Die Schulleitung, die Klassenlehrerin, dein:e Clearing-Kolleg:in und du. Du moderierst die Sitzung und leitest das Verfahren.

In dieser Form wurden alle sieben Schritte anhand von zwei unterschiedlichen Fällen durchgesprochen. Diskussion entbrannten etwa darüber

  • inwiefern es Sinn macht, Gespräche umgehend im Treppenhaus zu führen oder doch in Ruhe, aber dafür zeitverzögert.
  • ob zunächst das Clearing-Team einberufen oder das Gespräch mit dem betroffenen Schüler gesucht werden sollte.
  • ob die Klassenlehrerin wissen sollte, dass mit dem Schüler Gespräche geführt werden
  • ob die Clearing-Beauftragten Gespräche selbst führen oder die Klassenlehrerin diese führen lassen
  • wie mit Parallelkonflikten umzugehen ist, etwa zwischen Teilen des Clearing-Teams, die während eines Verfahrens aufkommen
  • wie weit die Vorrecherche geht und welche Recherchen Teil der vertieften Recherche sind
  • wie konkrete Maßnahmen aussehen können, inwiefern Schüler etwa motiviert werden können, sich etwa in der SV zu engagieren, um Selbstwirksamkeit zu erfahren
  • wem welche Aufgaben wann wie delegiert werden können
  • wer wann Teil des Clearing-Teams sein sollte und wer nicht
  • inwiefern parallel zu Sitzungen des Clearing-Teams Einzelgespräche geführt werden sollten
  • inwiefern strafrechtliche Folgen angedroht oder auch umgesetzt werden sollten

 

Demokratische Schulentwicklung
An Tag zwei der Fortbildung standen zwei Themen im Mittelpunkt: Demokratische Schulentwicklung und Beziehungsarbeit. Dr. Gabi Elverich referierte zum ersten Schwerpunkt, während Janusz Biene-Clément das zweite Thema übernahm.

Elverich teilte ihren Workshop wiederum in zwei Teile: Im ersten Teile stellte sie „Schulinterne Faktoren von Radikalisierung“ vor, um danach das Potential demokratischer Schulentwicklung – auch im Kontext von Radikalisierungsprävention – auszuloten. Sei Schule Teil des Problems (von Radikalisierung), der Lösung, oder vielleicht doch in beiden Teilen zu verorten, fragte Elverich die Teilnehmer:innen zu Beginn ihres Beitrags. Eine auf den ersten Blick vielleicht widersprüchliche Frage, auf die die Referentin im weiteren Verlauf zudem mehrere Antworten gab. Denn Radikalisierungsphänomene seien stets in individuelle wie in gesellschaftliche bzw. hier organisationale Kontexte eingebunden.

Schulinterne Faktoren, die Radikalisierung zuträglich seien, gäbe es dabei auf verschiedenen Ebenen so die Referentin. Etwa auf Organisationsseite, aber auch auf Lehrer:innenseite  Auf Organisationsseite könnten folgende Faktoren in Schulen bewusst oder unbewusst dazu beitragen, ein Schulklima zu schaffen, das einer möglichen Radikalisierung von Schüler:innen zuträglich ist:

  • problemvermeidende Handlungsstrategien
  • wenig ausgebildetes Problembewusstsein
  • ein reflexiver Umgang
  • eine fehlende Professionalisierung (etwa des pädagogischen Personals)

Faktoren auf Lehrer:innenseite seien z.B.:

  • Fehlende Selbstreflexion
  • Ein ungeklärtes Verhältnis zur Macht
  • Wenig Kontakt zu der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen

Die vorgenannten Punkte führten zu Rückfragen der Teilnehmer:innen, ab wann Lehrer:innen eingreifen und Maßnahmen, wie ein Schüler:innengespräch oder ggf. ein Clearingverfahren durchführen sollten. Dies sei immer der Fall, wenn es zu einem offensiven und konfrontativen Vertreten von (Extrem)Positionen komme, die keinen Widerspruch zuließen, so Elverich. Dies müsse für jeden Fall neu geprüft werden. Demokratische Schulentwicklung bedeute etwa auch, Schüler:innebedürfnisse zu berücksichtigen, Parizipationsmöglichkeiten, eine produktive, angenehme Atmosphäre und Dialogmöglichkeiten zu schaffen.

 

Empathiefördernde Schule als Konzept für gelingende Prävention
Wie könne nun ein die Problemlagen der Schüler:innen ernstnehmender Umgang mit deren Verhalten und Selbstpräsentation aussehen? Hierzu führte Elverich das Konzept der empathiefördernden Schule ein, mit dem sich lehrer:innenseitig ein professioneller Umgang mit möglicher Radikalisierung gestalten ließe. Dieses ist sich bewusst, dass sich Schüler:innen und Lehrer:innen in unterschiedlichen Lebenswelten bewegen und es – wie überall in der Gesellschaft – verschiedene Ansichten, Bewertungen und Einstellungen gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen gibt und nimmt diese nicht nur wahr, sondern erkennt sie als legitim an. Kurz: Die Wahrnehmung und Anerkennung von Perspektivendifferenz. Nur dadurch, so Elverich, sei eine professionelle und nicht eskalierende Kommunikation über Gefühle und Perspektivendifferenzen möglich. Das Konzept der empathiefördernden Schule trage auf diese Weise entschieden dazu bei, politische Emotionen zu bändigen und demokratische Resilienz zu stärken. Als Gelingensbedingungen von schulischer Radikalisierungsprävention lasse sich laut Elverich abschließend ein Dreiklang aus verschiedenen Instrumenten formulieren:

  • Internen Handlungsspielraum nutzen
  • Minimale bis maximale Maßnahmen (Ausschulung)
  • Einrichtung einer Steuerungsgruppe und professionelle externe Begleitung

Demokratische Schulentwicklung als positive Vision
Im zweiten Teil ihres Workshops stellte Elverich die verschiedenen Prinzipien einer demokratischen Schulentwicklung (DSE) vor. Diese unterschied sie in ein partizipatives Vorgehen und demokratisches Vorgehen. Zentrales Anliegen dieses Ansatzes sei dabei stets die Ausbildung und Förderung demokratischer Handlungskompetenz – und zwar bei allen Statusgruppen einer Schule. Demokratische Schulentwicklung verstand Elverich dabei explizit als eine positive Zukunftsvision mit dem Ziel einer diskriminierungsfreien Schule, in der alle Statusgruppen gleichwertig partizipieren könnten. Dazu müsse Diskriminierung intersektional gedacht werden, so Elverich. Das heißt, die Verwobenheit verschiedener Diskriminierungsdimensionen miteinander und ineinander zu betrachten. Demokratische Schulentwicklung erstrecke sich dabei über eine Vielzahl von Handlungsfeldern, so Elverich. Vom allgemeinen Leitbild der Schule bis hin zu einer diskriminierungsfreien Gestaltung von Unterrichts- und Lerninhalten.

In der abschließenden Gruppenübung legten die Teilnehmer:innen den Grundstein für ein eigenes diskriminierungsfreies Curriculum an ihren jeweiligen Schulen. Dessen Entwicklung sei natürlich nichts, das sich von heute auf morgen umsetzen lasse, so Elverich. Sie ermutigte die Teilnehmer:innen, die Gruppenarbeit vielmehr als eine Bestandaufnahme zu betrachten: „Welche sind die ersten drei Schritte, die ihr in diesem Schuljahr gehen wollt?“.

 

Beziehungsarbeit und Netzwerkkarten
Stand am Vormittag die Schule als Organisation im Mittelpunkt, setzte der Workshop von Janusz Biene-Clément gewissermaßen eine Ebene darunter an. Er stellte den Teilnehmer:innen das Instrument der Netzwerk- bzw. VIP-Karten vor. Netzwerkarbeit, so der Referent, werde „oft einfach nur mitgemacht“. Dabei sei Beziehungsarbeit aber ein zentrales Instrument für Schulen, das jedoch oft nur als allzu selbstverständlich betrachtet werde. „Wer sind die Alliierten, wer sind die Blockierer:innen in eurer Arbeit?“, fragte Biene-Clément die Teilnehmer:innen. Beides lasse sich oftmals gar nicht so genau erkennen. Die VIP-Karten seien ein gutes Instrument, um die Beziehungen der jeweiligen Person oder Organisation zu anderen sichtbar zu machen und dadurch möglicherweise auch bislang unerkannte bzw. versteckte Ressourcenpotentiale erkennen und nutzbar machen zu können.

Ziel der Übung war, das eigene professionelle Umfeld genauer in den Blick zu nehmen und sich darüber bewusst zu werden, wen man inwiefern für die eigene Arbeit nutzen kann; sowie Beziehungen zu Institutionen, Fachkräften, Personen und Aliierten sichtbar zu machen. Wer sind außerdem diejenigen, auf die man gerne mal zugehen würde, es aber bisher nicht geschafft hat?

Nach einem kurzen theoretischen Input ging es auch schon in die Gruppenarbeiten. Biene-Clément bat die Teilnehmer:innen, pro Schulteam eine VIP-Karte zu erstellen. Ausgehend von der Person im Zentrum skizzierten die Gruppen anschließend die Beziehungen zu ihren jeweiligen sozialen Umwelten innerhalb und außerhalb der Schule. Beim anschließenden „Gallery Walk“ stellten die Gruppen ihre Karte anschließend den anderen Schulteams vor. Das vernissageartige Flanieren inspirierte rasch eine intensive Diskussion zwischen den Teilnehmer:innen. Drei zentrale Themen standen dabei im Mittelpunkt:

  • Aufbau und Kontakthalten zu außerschulischen Akteur:innen und Netzwerken
  • Das gesunde Einteilen der eigenen Ressourcen und Kraftreserven, um nicht auszubrennen
  • Aufbau und Pflege des eigenen Netzwerkes im Allgemeinen

Multiprofessionelle Beziehungsarbeit sei zwar sehr arbeitsintensiv, so das Fazit der Teilnehmer:innen in der das Modul abschließenden Reflexionsrunde,  sie lohne sich aber in jedem Fall. Nicht nur der eigenen Professionalisierung wegen, sondern auch als ein wichtiger Baustein auf dem Weg hin zu einer demokratischen Schulentwicklung.

Modul 6 fokussierte vielseitige Schwerpunkte und setzte vor allem an der Praktikabilität der Implementierung schulischer Radikalisierungsprävention an. Von einem grundsätzlichen Blick auf phänomenübergreifende Radikalisierungsprävention über konkrete Konzeptarbeit und das Durchsprechen der 7 Schritte des Verfahrens bis zu Überlegungen zu demokratischer Schulentwicklung und einer praktischen Reflexion des eigenen Netzwerkes ergaben sich neue Schwerpunkte.