Am 1. Oktober 2025 fand ein digitales Netzwerktreffen im Rahmen des Projekts CleaRNetworking mit Navid Wali statt. Wali ist seit neun Jahren Mitarbeiter beim Violence Prevention Network (VPN), einer bundesweiten Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus. Sein Input verband wissenschaftliche und biografisch-pädagogische Perspektiven und zeigte eindrücklich, dass der religiöse Bezug in Radikalisierungsprozessen häufig eine nachträgliche Färbung ist – nicht deren Ursache.
Zentrale Erkenntnisse (Kurzüberblick)
-
Radikalisierung ist meist nicht religiös motiviert. Religiosität kommt häufig nachgelagert als Deutungsrahmen hinzu – nicht als Ausgangspunkt.
-
Frühe Zuschreibungen („islamistisch“, „Salafist:in“) können kontraproduktiv wirken. Sie verstärken Stigmatisierung und können zur selbsterfüllenden Prophezeiung führen.
-
Schulen sollten zwischen Religiosität und Radikalität unterscheiden. Religiöse Praxis ist nicht per se ein Warnsignal.
-
Nicht über Theologie streiten, sondern Dynamiken verstehen. Themen wie Misogynie, Gewaltfaszination, Machtstreben oder Ausgrenzung sind zentrale Warnsignale – unabhängig von Religion.
-
Gesprächsführung auf Metaebene. Fragen nach Konsequenzen („Was würde das praktisch bedeuten?“) helfen mehr als Debatten über Glaubenssätze.
-
Raum für Selbstwirksamkeit schaffen. Schüler:innen sollen Akzeptanz und Anerkennung erleben können, ohne radikale Narrative zu brauchen.
-
Prävention braucht „brave spaces“, keine „safe spaces“. Schulen können selten vollkommen geschützte Räume bieten, aber sie können Räume schaffen, in denen respektvoller Austausch möglich ist.
-
Eltern und Angehörige einbeziehen. Positive, begleitete Religiosität schützt besser als Verbote oder Isolation.
-
Religiöse Normalität entdramatisieren. Muslimische Schüler:innen sollen nicht zu „Religionsbotschaftern“ gemacht werden.
Vom Feuerwehr-Einsatz zur Beziehungsarbeit
Wali begann mit einem Rückblick auf die Entstehung von VPN im Jahr 2014, einer Zeit, in der es in Deutschland kaum pädagogische Ansätze gegen religiös begründeten Extremismus gab. Bewegungen wie „Lies!“ oder „Die wahre Religion“ prägten das öffentliche Bild: junge Männer, die kostenlos Korane verteilten und später teils in den Syrienkrieg zogen. Die gesellschaftliche Reaktion war stark sicherheitsorientiert, und auch die pädagogische Präventionsarbeit begann konfrontativ – mit klaren Labels wie „Salafismusprävention“.
Mit der Zeit habe VPN, so Wali, gelernt: Ein solches Vorgehen öffnet eher Abwehrhaltungen als Lernräume. Heute versteht sich die Organisation nicht mehr als „Feuerwehr“, die auf Radikalisierung reagiert, sondern als Partner in langfristiger Beziehungsarbeit. Pädagogische Prävention brauche ein Umfeld, das Austausch ermöglicht, auch wenn keine absolute Sicherheit gewährleistet werden kann. Schulen könnten selten „safe spaces“ bieten, also vollkommen geschützte Räume. Sie sollten stattdessen „brave spaces“ schaffen – Orte, an denen mutige, auch kontroverse Gespräche möglich sind, ohne Angst vor Bloßstellung oder Sanktionierung.
Drei Säulen der Arbeit: Prävention, Intervention, Angehörigenberatung
Wali stellte die drei Säulen der VPN-Arbeit vor. Neben Prävention steht die Intervention im Zentrum – also die Begleitung junger Menschen, die bereits mit extremistischen Narrativen in Kontakt sind. Nur ein kleiner Teil der Klient:innen sei tatsächlich ideologisch verfestigt; in der Mehrzahl gehe es um soziale Konflikte, Krisen und Orientierungssuche. Der Fokus liege auf Biografiearbeit und auf den sozialen Dynamiken, nicht auf religiöser Argumentation.
Die Angehörigenberatung bildet eine dritte Säule. Familien und Bezugspersonen seien häufig überfordert, schwankten zwischen Scham, Ohnmacht und Angst. Auch sie bräuchten Begleitung, um Beziehungen zu halten und Eskalationen zu vermeiden.
Der digitale Raum als Verstärker
Ein großer Teil des Inputs widmete sich der Rolle digitaler Räume. Seit den 2000er Jahren, so Wali, hätten salafistische Akteur:innen den deutschsprachigen Online-Raum nahezu monopolisiert. Prediger wie Pierre Vogel oder andere medial präsente Figuren hätten den Islam in vereinfachter, emotionaler Form präsentiert – „Islam in 30 Sekunden“. Diese Inhalte erreichten Jugendliche, die kaum religiöse Bildung hatten, dafür aber Fragen nach Zugehörigkeit, Sinn und Identität. Während Moscheegemeinden oft kulturell geprägt und sprachlich wenig zugänglich waren, boten Online-Prediger schnelle, verständliche Antworten – und vor allem Sichtbarkeit.
Radikalisierung vor Religiosität
Im Kern seines Beitrags stand die These der „Islamisierung von Radikalisierung“. Wali beschreibt damit, dass Radikalisierung häufig vor der Religiosität stattfindet. Religion werde anschließend als ideologische Verpackung genutzt. Gewaltfaszination, Machtstreben, Misogynie, Homofeindlichkeit oder Ausgrenzung seien oft bereits vorhanden, bevor Religion ins Spiel komme.
Er verwies auf den Fall des Terroranschlags von Solingen: Der Täter habe sich im Bekennervideo auf den „Islamischen Staat“ bezogen, zeige jedoch in seiner Biografie ein Muster impulsiver Gewalt, Statussuche und Frustration – ohne religiöse Argumentationsbasis. Diese Beobachtung spiegle sich in vielen Klient:innen: Rund 80 bis 90 Prozent wüchsen in Familien auf, in denen Religion kaum eine Rolle spiele.
In der Praxis bedeute das: Wenn Schulen Radikalisierung rein religiös deuten, verfehlen sie den Kern. Eine Schüler:in mit Bart, Gebetspraxis oder Hijab ist nicht automatisch radikal. Wali warnte vor vorschnellen Fremdzuschreibungen – sie könnten zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden. In Haftkontexten habe er oft gehört: „Wenn ich ohnehin als Salafist gelte, dann bin ich halt einer.“
Der Blick hinter die Oberfläche
Ein eindrückliches Beispiel: Eine 13-jährige Schülerin begann plötzlich, Hijab zu tragen und wurde zum Gesprächsthema der gesamten Schule. Erst später stellte sich heraus, dass sie wegen ihres Körpers jahrelang gemobbt worden war und das Kopftuch als Schutz erlebte. In religiösen Online-Communities erfuhr sie erstmals Anerkennung – als „starke junge Frau“. Die Verhüllung war hier weniger Ausdruck von Ideologie als eine Strategie zur Selbstaufwertung.
Für schulisches Personal heißt das: Nicht das sichtbare religiöse Zeichen ist der Schlüssel zur Analyse, sondern die dahinterliegenden Bedürfnisse. Häufig gehe es um Anerkennung, Zugehörigkeit oder Sicherheit.
Indikatoren – aber keine Checklisten
In der Diskussion kam die Frage nach klaren Indikatoren auf. Wali betonte, es gebe keine eindeutigen „Symptome“ von Radikalisierung, nur Indizien. CleaRNetworking arbeitet zwar mit Indikatoren, versteht sie jedoch nicht als starre Checklisten, sondern als Hinweise auf Dynamiken – etwa:
-
Selbstüberhöhung in Verbindung mit Abwertung anderer
-
Einflussnahme auf Mitschüler:innen
-
Absoluter Wahrheitsanspruch
-
Dichotomes Weltbild
-
Abbruch wichtiger Beziehungen
-
Legitimierung oder Anwendung von Gewalt
Wali plädierte dafür, die Aufmerksamkeit stärker auf die zugrundeliegenden sozialen und emotionalen Dynamiken zu richten: auf Misogynie, Gewaltfantasien, Ausgrenzung und Verschwörungsdenken – also Muster, die auch in anderen Milieus (z. B. Hooliganismus) vorkommen.
Pädagogische Gesprächsführung: Metaebene statt Theologie
Im schulischen Alltag, so Wali, sei es kontraproduktiv, sich auf theologische Diskussionen einzulassen. Pädagogisch sinnvoller sei, auf einer Metaebene zu arbeiten – über Konsequenzen, Werte und Perspektiven. Statt „Das steht im Koran“ könne man fragen: „Was würde es bedeuten, wenn deine Forderung nach Körperstrafen umgesetzt würde?“ oder „Was hieße das für deine Freunde?“ Diese Fragen öffnen Reflexionsräume, ohne Glaubensüberzeugungen frontal anzugreifen.
Ähnlich bei Themen wie „Scharia“ oder Alkohol: Statt den religiösen Wahrheitsgehalt zu verhandeln, kann man die zugrundeliegenden Motive ansprechen – etwa Sorge um Familie, Gesundheit oder Gerechtigkeit. So wird Religion nicht problematisiert, sondern kontextualisiert.
Normalität ermöglichen – ohne Überforderung
Ein wiederkehrendes Thema war die Normalisierung religiöser Praxis. Muslimisch gelesene Schüler:innen würden häufig stellvertretend für „den Islam“ befragt – ob sie wollten oder nicht. Das schaffe Druck und signalisiere, dass Religion immer erklärungsbedürftig sei. Schule könne dagegenhalten, indem sie religiöse Ausdrucksformen als selbstverständlichen Teil von Vielfalt behandelt.
Auch Fragen nach Gebetsräumen oder religiösen Pausen seien sensibel zu handhaben. Manchmal stecke dahinter kein frommes Motiv, sondern der Wunsch nach Sichtbarkeit oder Akzeptanz. Schulen sollten hier nicht reflexartig rechtliche Abwehrstrategien entwickeln, sondern pädagogisch deuten: Welche Bedürfnisse stehen dahinter? Welche Signale sendet die Schule zurück?
Angehörige stärken, Konversion begleiten
Zum Abschluss kam die Frage auf, wie Eltern reagieren sollen, wenn ein Kind – noch nicht religionsmündig – konvertieren möchte. Walis Rat war eindeutig: Nicht verwehren, sondern begleiten. Eine offene, positive Haltung der Eltern verhindere eher Abgleiten in isolierte Online-Kontexte. Verweigerung und Tabuisierung dagegen verschieben das “Problem” nur in den Untergrund.
Gruppenarbeit: Bedürfnisse hinter dem Verhalten erkennen
In der anschließenden Gruppenarbeit bearbeiteten die Teilnehmenden ein Szenario: Ein Schüler zeigt auf TikTok ein Video eines extremistischen Predigers. Aufgabe war es, spontan zu reagieren und die dahinterliegenden Bedürfnisse zu identifizieren. Die Diskussion zeigte: Erst die Analyse der Bedürfnislage eröffnet pädagogische Handlungsspielräume. Strukturen wie kollegiale Fallberatung oder Kooperation mit Fachstellen können Schulen dabei entlasten.
Fazit: Religion als Bühne, nicht als Ursache
Walis Vortrag und die Diskussion machten deutlich: Radikalisierung nutzt Religion oft als Bühne, nicht als Ursache. Pädagogische Prävention gelingt dann, wenn Schule Beziehungsräume, Reflexionsräume und Handlungsspielräume eröffnet – und wenn sie religiöse Ausdrucksformen weder überhöht noch dramatisiert. Eine Schule, die Vielfalt selbstverständlich lebt, entzieht radikalen Narrativen den Nährboden.
Radikalisierung vor Religiosität, digitales Netzwerktreffen "Islamisierung von Radikalisierung" mit Navid Wali von VPN, 01.10.2025