Am 30.11.23 und 01.12.23 kam das CleaRNetwork im Essener Hof zu einer zweitägigen Veranstaltung bestehend aus einem Mix aus Angeboten der Vernetzung und inhaltlichen Schwerpunkten rund um Radikalisierungsprävention an Schulen zusammen. Eingeladen waren all diejenigen, die unsere Weiterbildung in den vergangenen vier Jahren durchlaufen haben und Radikalisierungsprävention an ihrer Schule implementieren möchten sowie deren Schulleitungen. Trotz ein paar kurzfristiger krankheitsbedingter Absagen kamen über 50 Teilnehmende zusammen.

 

Erfolge und Herausforderungen auf dem Weg der schulischen Implementierung von Radikalisierungsprävention

Nach einer organisatorischen Begrüßung, einem Grußwort durch Lisa Kiefer von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Gelegenheit, sich untereinander etwas näher kennenzulernen, ging Prof. Michael Kiefer auf Prämissen ein, die eine Implementierung von Radikalisierungsprävention an Schulen ermöglichen, so etwa ein gemeinsamer Präventionsbegriff, die Bestimmung gemeinsamer Ziele von Prävention, die Festlegung relevanter Akteur:innen, die Etablierung von Strukturen, Hierarchien und Routinen, das Nutzen (externer) Expertise und die Bekanntmachung der Strukturen im Kollegium.

Anschließend an diesen Impuls wurden in einer Gruppenarbeit Erfolge und Herausforderungen auf dem Weg zur Implementierung des Clearing-Verfahrens an der eigenen Schule gesammelt. Dabei kamen Personen von unterschiedlichen Schulen aus unterschiedlichen Regionen Deutschlands von unterschiedlichen Schulformen aus unterschiedlichen Weiterbildungsjahrgängen miteinander ins Gespräch, deren Implementierungsprozess seit unterschiedlich langer Zeit fortschreitet. So entstanden verschiedene thematische Schwerpunkte, über die die Anwesenden anschließend im Raum verteilt diskutierten und voneinander lernten. Personen mit einer spezifischen Herausforderungen kamen so mit anderen ins Gespräch, die über andere Erfahrungen verfügen und Lösungsvorschläge einbringen konnten. Zu den thematischen Schwerpunkten zählten etwa:

  • Zeitliche Ressourcen
  • Anerkennung im Kollegium
  • Aufbau und Pflege außerschulischer Netzwerke, Kooperationen mit anderen Schulen
  • Umgang mit Personalwechsel und Fluktuation
  • Andocken an vorhandene Strukturen
  • Die Entwicklung eines Radikalisierungspräventionskonzeptes
  • Schulleitungen
  • Werbung und Nachhaltigkeit etablierter Strukturen
  • Erkennen, ob es sich bei einem Fall um (k)einen Fall fürs Clearing-Team handelt
  • Definitionen von Radikalisierung

In der anschließenden Diskussion im Plenum kamen mehrere spannende Diskussionen auf. So ging es etwa um die Relevanz davon, Grenzen zum Selbstschutz zu ziehen und aufkommende Fälle zuordnen zu können. Nützlich dafür ist etwa ein schriftliches Konzept, das Zuständigkeiten klar benennt.

Während bei manchen Teilnehmenden Schwierigkeiten darin bestehen, Strukturen der Radikalisierungsprävention für das gesamte Kollegium transparent zu halten und dieses mitzunehmen, empfahl ein Anwesender, das Thema regelmäßig und wiederkehrend auf die Agenda von Gesamtkonferenzen zu setzen, um es wachzuhalten. Außerdem können in kleinerem Rahmen Fortbildungen für das Kollegium angeboten werden, um es für Radikalisierungsprävention zu sensibilisieren. Ein Teilnehmende hat gar einen Reader erstellt, in dem die wichtigsten Informationen rund um das Clearing-Verfahren zusammengestellt sind.

Diskutiert wurde auch etwa über die Nützlichkeit von Erhebungen zum Status Quo von Radikalisierung an der eigenen Schule. Eine solche einer Schulleitung vorzulegen, können nützlich sein, merkte ein Teilnehmender an. Andere Anwesende waren da kritisch. Das CleaRNetworking-Projektteam zieht in Betracht, entsprechende Materialien zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen.

Thematisiert wurden auch die Schwierigkeiten eines Teilnehmenden, sich im Kollegium auf eine gemeinsame Definition von Radikalisierung zu verständigen.

Keine Zeit, kein Geld: Möglichkeiten zur Akquise von zusätzlichen Ressourcen an Schulen

Nach einer Pause folgte ein Programmpunkt zum Thema „Keine Zeit, kein Geld: Möglichkeiten zur Akquise von zusätzlichen Ressourcen an Schulen“, geleitet von Projektmitarbeiter Sören Sponick. Es ging um Herausforderungen und Chancen, die sich für Schulen aus der Notwendigkeit ergeben, zusätzliche (finanzielle) Ressourcen außerhalb der staatlichen Gundfinanzierung einzuwerben, etwa für Personalstellen bzw. -stunden zur Finanzierung des Clearingverfahrens.

Als Aufwärmübung bat der Referent die Teilnehmer:innen auf einer Wortwolke festzuhalten, wofür sie an ihren Schulen zusätzliche Mittel benötigen würden. Dabei zeigte sich, dass die meisten Schulen zusätzliche Mittel für konkrete Projekte, wie zum Beispiel Fortbildungen, Präventionsangebote, die Anschaffung von Musikinstrumenten und Unterrichtsmaterial benötigten. Auch zeitliche Ressourcen wurden benötigt. Zeit etwa, um Fortbildungen oder Clearings durchzuführen.

Die so entstandene Liste bot eine willkommene Hintergrundfolie für den eigentlichen Vortrag. Sponick teilte seinen Vortrag in zwei Teile. In Teil eins ging er näher auf das Thema Schulsponsoring ein, im zweiten Teil auf das Thema Fundraising. Zunächst stellte der Referent die rechtlichen Grundlagen von Schulsponsoring vor. Dieses sei in den Schulgesetzen der Bundesländer geregelt und solle explizit eine Zusatzförderung darstellen, so Sponick. Die Grundförderung des Schulbetriebes sei in jedem Fall Aufgabe der jeweiligen Bundesländer.

Erfolgreiches Fundraising und Schulsponsoring habe dabei große Ähnlichkeiten zu einem Clearingverfahren. In beiden Bereichen gehe es darum, folgende Fragen zu beantworten:

  • Wer trägt die Verantwortung?
  • Wer ist Teil des Fundraisingteams?
  • Welche Maßnahmen sind geplant?
  • Welche Gruppen werden angesprochen bzw. sind Ziel der Maßnahmen?

Fundraising koste dabei zunächst einmal Geld, so der Referent. Spendenbiefe müssten erstellt, gedruckt und verschickt werden, eine Homepage aufgesetzt und die Fundraisingziele dort transparent vorgestellt werden. Zudem sei Fundraising mit administrativem und Organisationsaufwand verbunden. Kontaktdaten müssten gepflegt, potentielle Spender:innen und Geber:innen kontaktiert, Anträge geschrieben und überarbeitet werden. Zudem müssten Fundraisinganliegen auch nach außen gegenüber den jeweiligen Anspruchsgruppen kommuniziert werden werden. Hierzu riet der Referent den Teilnehmer:innen Anlässe zu nutzen, die im Schuljahr ohnehin anfallen würden. Etwa Tage der offenen Tür oder Schulfeste.

Zum Abschluss seines Vortrages gab Sponick den Teilnehmer:innen sechs praktische Tipps für die Erstellung ihrer individuellen Fundraisingstrategie mit auf den Weg:

  1. Ermittelt eure Stärken und Schwächen
  2. Bildet eine Fundraisinggruppe
  3. Kennt euer Umfeld
  4. Behaltet eure (Alt)Schüler:innen im Blick
  5. Schafft öffentliche Events, an denen sich eure Schule präsentieren kann
  6. Gründet einen Förderverein

In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass die Schulen der Teilnehmer:innen bereits einige der sechs Praxistipps umgesetzt haben. So gibt es etwa an gut zwei Drittel der Schulen bereits einen Förderverein. Kritisch merkten einige der Teilnehmer:innen zudem  an, dass ihre zeitlichen Ressourcen ohnehin schon sehr knapp seien und sie sich daher schlichtweg kaum um das Thema Fundraising kümmern könnten. Hier hätten sie sich mehr Tipps gewünscht, wie sie das Thema Fundraising in ihre alltäglichen Arbeitsprozesse integrieren könnten. Ein Teilnehmender merkte darüber hinaus an, sensibel mit der Auswahl möglicher Sponsoren zu sein. An einer Berufsschule etwa Werkzeuge eines bestimmten Herstellers zu erhalten, könne etwa dann zu Problemen führen, wenn ein:e Konkurrent:in dieses Herstellers seine Auszubildenden nicht mehr an diese Schule schicken wolle. Diskutiert wurde auch über die Rolle von Fördervereinen, die, so ein Teilnehmer, immer berücksichtigt werden müssten im Prozess der Akquise finanzieller Ressourcen. Zudem kam der Hinweis auf, Gerichte anzuschreiben, um Gelder aus Straftaten zu erhalten. Die Stiftung Mitarbeit könne darüber hinaus dabei helfen, Drittmittel zu beantragen.

 

Kamin-Gespräch mit Neo-Nazi-Aussteiger Christian E. Weißgerber

Nach dem Abendessen folgte ein Kamingespräch mit Neo-Nazi-Aussteiger Christian E. Weißgerber, der aufgrund einer kurzfristigen Erkrankung leider nur online teilnahm. Weißgerber las aus seinem Buch „Mein Vaterland!“, das bei ihm weiterhin zu erwerben ist. Er ging auf seine Biografie ebenso ein wie auf seine Motivation zum Rechtsextremismus, stellte Bezüge zu seiner Schulzeit her, referierte über seine Szenezeit wie auch über seinen Deradikalisierungsprozess. Sein Einstieg in den Rechtsradikalismus erfolgte allmählich 2005 , 2006 wurde er der Szene vorgestellt, 2007 gründete er eine eigene Organisation, 2008 folgte sein Abitur, 2010 zog er sich aus der Szene zurück.

Wenngleich Weißgerber immer wieder Bezüge zu seiner thüringischen Heimat herstellte, betonte er, dass es sich bei Rechtsextremismus um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen handelt. Weißgerbers Mutter war vor seinem Vater geflohen und in seiner Kindheit wurde Weißgerber angeschrien und geschlagen. Gleichzeitig hob er hervor, dass er sich hinter biografischen Herausforderungen nicht verstecken, sondern Verantwortung für seine eigenen Entscheidungen übernehmen möchte und wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass etwa seine Schwester sich ganz anders entwickelte als er.

Weißgerber war aufgrund seiner kompromisslosen und dominanten Art gar zum Klassensprecher gewählt worden und war gefürchtet. Viele Lehrkräfte waren mit ihm überfordert, weil er ihnen klar machte, dass er physische Konsequenzen zu tragen habe, wenn sie seinen Vater über Fehlverhalten informierten.

Eine große Rolle in seinem Radikalisierungsprozess spielte auch Musik, genauer gesagt Rechtsrock. In diesem Zusammenhang verwies Weißgerber auch darauf, dass Nazis reagieren und ihre Ansprachen anpassen. Mit zunehmender Popularität des Hiphops etwa integrierten auch Rechtsradikale ihre Inhalte in derartige Genres. Es gilt also wachsam zu sein.

Auf die Frage, was für einen Umgang sich Weißgerber von seinen Lehrkräften gewünscht hätte, antwortete er, dass die belehrende Art mancher Lehrkräfte nicht förderlich gewesen sei und ihn nicht zum Nachdenken gebracht hätte. Er selbst hatte vor allem Respekt vor Männern, Dominanz und Durchsetzungsstärke. Sozialkompetenz außerhalb des Lehrpersonals hatte es zu seiner Radikalisierungszeit kaum gegeben. Auf sein Studium bezogen merkte Weißgerber an, dass auch ein Philosophie-Studium ihn anfangs nicht vom Rechtsextremismus abbringen konnte. Viele der Philosophen, die er gelesen hatte, seine vielmehr auch rechtsextrem lesbar. Es komme auf die Art und Weise an, wie sie gelesen würde. Nietzsche etwa sein für Rechtsextreme zugänglich.

Den Nationalismus versteht er heute auch als eine Art Ersatzangebot für andere unerfüllte Bedürfnisse; weil seine Adidas-Kleidung etwa nicht drei, sondern vier Streifen zeigte. Auch Selbstwirksamkeit gab ihm der Rechtsextremismus; er spürte, dass sein Handeln Konsequenzen hatte, was zuvor kaum der Fall gewesen war. Deswegen hält er die Pubertät auch für eine Phase besonderer Anfälligkeit für Radikalisierung.

Weißgerber gewährte spannende Einblicke in die Szene. So hatte er etwa einen Mentor, der ihn in die Szene hinein begleitete und mit dem er in engem Austausch stand. Man habe Rituale, geheiligte Orte und Feiertage dieser „Ersatzreligion“ kennen müssen. Viele seiner damaligen Freunde bezeichnet er rückblickend als liebenswerte Väter und Ehemänner. Er verwies außerdem auf die internationale Vernetzung rechtsradikaler Personen und Institutionen von den grauen Wölfen über die Hamas über russische und tschechische Bezüge bis zum Ku-Klux-Klan.

Seinen eigenen Radikalisierungsprozess bezeichnet Weißgerber auch als Bildungsprozess. Schon sein Vater hatte ihn politisieren wollen, etwa gegen die Agenda 2010, warnte aber zugleich vor Rechtsextremismus. In seinem Fall waren der Feind weniger „die Ausländer“, als vielmehr der Staat, die Freimaurer oder der Illuminati.

Spannend war auch der Bezug zu seinem Körper. Radikalisierung versteht Weißgerber nicht als rein kognitiven, sondern auch einen physischen Prozess. Neben offensichtlich rechtsradikalen Tattoos hat er auch heute noch körperliche Reflexe, etwa in Form eines Gefühls im Magen, wenn er etwa schwarze Menschen oder öffentliche Liebesbekundungen sieht.

Seine Deradikalisierung erfolgte nicht etwa durch ein einzelnes Erweckungserlebnis, sondern vielmehr durch mehrere Enttäuschungen, etwa dass andere sich nicht auf vergleichbare Weise an die Regeln der Szene hielten. Er begann anzunehmen, alles sei zu spät um gerettet zu werden. Es lief also nicht, wie erhofft und Weißgerber begann einzusehen, dass er die Welt nicht so verändern konnte, wie gedacht.

Sein Ausstieg hatte für ihn drastische Konsequenzen. Bis heute trifft er Sicherheitsvorkehrungen, um nicht verfolgt zu werden. Er gab einen Großteil seiner Kontakte auf und musste sich zwischenzeitlich obdachlos von Sofa zu Sofa durchkämpfen. Kritisch merkte er an, dass jede Person, die sich hörbar gegen Rechtsextremismus äußere, mit Einschüchterungsversuchen konfrontiert werde und ein Sicherheitskonzept benötige.

Heute jedoch ist er neben Lesungen und Bildungsformaten im Bereich der erneuerbaren Energien tätig; ein Job, den ihm seine mitreißende Art auf einer Bildungsveranstaltung zum Rechtsextremismus bescherte.

Weißgerber beantwortete viele Fragen der Teilnehmenden und kommt bei Interesse auch gerne in Schulen. Klassensätze des Buches sind über seine Webseite zu bestellen.

Eine ausgeklügelte Workshop-Struktur ermöglichte allen Anwesenden an Tag zwei des Netzwerktreffens die Teilnahme an drei von vier angebotenen Workshops. Folgende Workshops wurden angeboten:

  • „Nahostkonflikt, politische Bildung und ich“, Pierre Asisi
  • „Christlicher Fundamentalismus“, Dr. Martin Fritz
  • „Doing Radikalisierung – Die Konstruktion eines Problems in der pädagogischen Praxis“, Dr. Katharina Leimbach
  • „Online-Prediger: Modernes Auftreten, ultrakonservatives Gedankengut“, Dr. Piotr Suder, Markus Lüke

 

„Nahostkonflikt, politische Bildung und ich“, Pierre Asisi

Pierre Asisi von ufuq.de lud ein, um über aktuelle Herausforderungen an deutschen Schulen rund um den Nahostkonflikt zu diskutieren. Nicht nur ging er auf die Grundsätze des Beutelsbacher Konsens ein, sondern ließ auch die teilnehmende Kleingruppe zu Wort kommen. So berichtete ein Teilnehmender davon, sich allein gelassen zu fühlen und sich kaum zu trauen, das Thema in einer Teamsitzung zu behandeln. Schüler fühlten sich ferner bevormundet. Asisi stellte außerdem das Konzept „Braver Space“ vor, das in Ergänzung zum Konzept „Safer Space“ Kontroversen und Irritationen nicht vermeiden, sondern auszuhalten lernen will. Er empfiehlt für solche kontroversen Themen eine biografische Annäherung, bei der das Alter sowie die Lebensstation und die entsprechende Emotion/Bedeutung deutlich wird. Systematisch näherte sich der Workshop auch der Frage, ob es sich beim Nahostkonflikt um einen importierten oder transnationalen Konflikt handelt. Es gibt offensichtlich einen Unterschied zwischen dem Anlass für den Krieg und den Themen, die in diesem Zusammenhang verhandelt werden. Debattiert wurde auch darüber, wie  multidirektionales Erinnern funktionieren kann, wenn die Shoah und die Kolonialgeschichte aufeinandertreffen und in vermeintlicher Konkurrenz oder sogar in einem wechselseitigen Ausschlussverhältnis zueinander stehen. Ohne direkt einfache Antworten zu bieten, warf Asisi eine Fülle an differenzierten Fragen auf und bot Perspektiven jenseits der schnellen Positionierung. Asisi stellte einige unterstützende Materialien zusammen, auf die hier zugegriffen werden kann:

Verletzlichkeit und Lernen zu Diskriminierung – Anregungen und Gedanken zu Safer und Braver Spaces in der Bildungsarbeit

Über Israel und Palästina sprechen. Der Nahostkonflikt in der Bildungsarbeit

Konflikte im Klassenzimmer: Das Kartenset „The Kids Are Alright!“ für pädagogische Fachkräfte

Verknüpfungen – Ansätze für die antisemitismus- und rassismuskritische Bildung

Pädagogisches Begleitmaterial – Israel Palästina Bildungsvideos

 

„Christlicher Fundamentalismus“, Dr. Martin Fritz

Im Workshop „Christlicher Fundamentalismus“ von Dr. Martin Fritz erhielten die Teilnehmer:innen einen Überblick über die Geschichte, Hintergründe, Motive sowie die gegenwärtigen Tendenzen dieser Ausprägung des Christentums in Deutschland.

Als ‚Fundamentalist:in‘ gelte allgemein, wer kompromisslos und kritikresistent an bestimmten Prinzipien und Überzeugungen festhalten und sie womöglich anderen, unter Umständen sogar mit Gewalt, aufzuzwingen versuche, so Fritz. Dieses Verständnis sei jedoch sehr allgemein und auch schwammig formuliert. Ziel seines Workshops war es daher, den Begriff des christlichen Fundamentalismus zu präzisieren und von anderen Bewegungen, wie z.B. dem Evangelikalismus abzugrenzen.

Die historischen Wurzeln des christlichen Fundamentalismus verortete Fritz im US-amerikanischen Protestantismus des beginnenden 20. Jahrhunderts. In der „World‘s Christians Fundamental Association“ fanden sich all jene Gruppen zusammen, die zeitgenössische liberale Tendenzen in Theologie und der ‚Mainstreamkirche‘ ablehnten. Sie alle habe ein dezidierter Antimodernismus gepaart mit der Annahme von absoluten, irrtumslosen, mithin unfehlbaren, ‚objektiven‘ Fundamenten des Glaubens verbunden, so Fritz. Das bedeute, dass bestimmten religiösen Wahrheitsquellen und Grundwahrheiten eine nicht anzweifel- und/oder hinterfragbare normative Autorität für die Glaubensausübung und die Lebenspraxis im Allgemeinen zugeschrieben. Hier zeigten sich einige Gemeinsamkeiten zu einer wortwörtlichen bzw. literalsinnorientierten Auslegung des Islams, wie er z.B. im Großteil des Wahabismus vertreten werde.

Vertreter:innen und Prediger:innen des christlichen Fundamentalismus seien in den letzten Jahren auch in Deutschland zu beobachten, erläuterte Fritz. Diese bedienten sich neben der klassischen Predigt auch der sozialen Medien, um ihre Botschaften unter die Leute zu bringen. Zur Illustration hatte er eine Reihe von Tik-Tok-Videos und Youtube-Mitschnitte mitgebracht, die anschließend in der Gruppe besprochen wurden. Die „Vereindeutigung der Welt“, wie sie der Arabist Thomas Bauer einmal treffend beschrieben hat, wurde aus den Videos unmittelbar deutlich. Jugendgerecht aufgemacht und in einigen Fällen sogar recht ‚zahm‘, machten alle Sprecher:innen deutlich, dass egal welches Problem bestehe, die wortwörtliche und nicht zu hinterfragende Gültigkeit des göttlichen Wortes der einzige Weg zum ewigen Heil sei.

Dieser strikte Dualismus von Gut und Böse, von Erlaubt und Verboten, sei einer der zentralen Punkte, an dem sich der christliche Fundamentalismus von anderen christlichen Bewegungen unterscheide, so Fritz. Der zentrale „Prüfstein für Fundamentalismus“ sei jedoch der Kreationismus, also die Ablehnung der darwinschen Evolutionslehre. Diese werde von christlichen Fundamentalist:innen konsequent abgelehnt.

Als Fazit der Abschlussdiskussion hielten die Teilnehmer:innen fest, dass es sich in jedem Fall lohne, mit Schüler:innen und Eltern im Gespräch zu bleiben, die christlich-fundamentalistische Ansichten hätten. Dies sei auch deswegen geboten, um diesen Schüler:innen die Schule als einen Freiraum und Experimentierraum zu erhalten, in dem sie auch andere Ansichten kennen und schätzen lernen könnten. Fritz stimmte dieser Ansicht uneingeschränkt zu. Für den christlichen Fundamentalismus, wie auch für alle anderen, könnte man hinzusetzen, sei die Schule ein Ort des Kontrollverlustes. Ein Ort, an dem Kinder mit konträren Weltsichten in Kontakt kämen und dadurch einer Vereindeutigung der Welt entgegenwirke.

 

„Doing Radikalisierung – Die Konstruktion eines Problems in der pädagogischen Praxis“, Dr. Katharina Leimbach

Was wissen ‚wir‘ eigentlich über Radikalisierung und wie entsteht dieses Wissen? Diese Frage stand im Mittelpunkt des Workshops „Doing Radikalisierung – Die Konstruktion eines Problems in der pädagogischen Praxis“ von Dr. Katharina Leimbach. ‚Wir‘, das waren die Workshopteilnehmer:innen im Besonderen sowie die Praxis der Radikalisierungsprävention im Allgemeinen.

Zu Beginn ihres Workshops gab die Referentin den Workshopsgruppen einen auf den ersten Blick kontraintuiven ‚Warnhinweis‘ oder vielleicht eher Reisetipp. Sie spreche aus der Rolle einer Wissenschaftlerin heraus, so Leimbach. Daher gehe es ihr auch nicht darum, die Teilnehmer:innen zu belehren, oder von einer bestimmten (wissenschaftlichen) Perspektive auf Radikalisierung zu überzeugen. Sie lud die Gruppen vielmehr ein, den eigenen Blick für die Vielgestalt an Perspektiven zu öffnen und die Standortgebundenheit bzw. Partikularität der eigenen zu erkennen. Denn alle  Menschen hätten bewusste oder unbewusste Vorannahmen über alle möglichen sozialen Sachverhalte, so Leimbach. Diese prägten die menschliche Wahrnehmung und böten Orientierungs- und Handlungswissen, um in Gesellschaft agieren zu können. Das sei auch beim Thema Radikalisierung nicht anders.

Im öffentlichen, aber auch im fachwissenschaftlichen Diskurs, würden die (Hintergrund)Annahmen beim Reden über Radikalisierung jedoch oftmals nicht expliziert und blieben im Dunkeln. Diese Wissensbestände suchte die Referent:in bei den Teilnehmer:innen mit einer Art invertiertem Brainstorming herauszuarbeiten. Konkret hieß das, in fünf Minuten auf bunten Moderationskarten nur ‚falsche‘ Antworten über das Phänomen Radikalisierung zu notieren. Anschließend ließ Leimbach die Teilnehmer:innen die vermeintlich ‚richtigen‘ Antworten notieren. Aus der Konfrontation beider Antworten sollte laut Leimbach deutlich werden, dass sich im Diskurs über Radikalisierung bestimmte Wissensbestände ausdrücken, die vielfältige Auswirkungen auf die Konstruktion von Radikalisierung als Problem ausübten. Etwa mit Blick darauf, wessen Radikalisierung für wen unter welchen Bedingungen eigentlich ein Problem sei.

Anschließend schickte Leimbach die Teilnehmer:innen in Gruppenübungen. Anhand von Auszügen aus Interviews, die die Referentin selbst geführt hatte, erarbeiteten die Gruppen, wie darin jeweils über Radikalisierung gesprochen, bzw. welche Wissensbestände in den Interviews artikuliert wurden. Eingeteilt in die Phänomenbereiche religiös begründeter Extremismus und Rechtsextremismus gab es insgesamt vier Gruppen: Für jeden Phänomenbereich analysierte die Gruppe jeweils ein Interview mit eine:m Präventionsakteur:in sowie mit eine:m Inhaftierten.

In der Abschlussdiskussion wurde deutlich, dass es zwar viele Gemeinsamkeiten zwischen den Phänomenbereichen gibt, die Wege in die Radikalität aber unterschiedlich begründet wurden. Der Weg in den Rechtsextremismus werde häufig als gewissermaßen natürliche Folge des Aufwachsens in einem entsprechenden Milieu gerahmt. Im religiös begründeten Extremismus sei hingegen das Narrativ der Verführung durch extremistische Gruppen dominant.

 

„Online-Prediger: Modernes Auftreten, ultrakonservatives Gedankengut“, Dr. Piotr Suder, Markus Lüke

Dr. Piotr Suder und Markus Lüke vom projekt EXPO! begannen ihren Workshop über radikale Online-Prediger mit einer Gruppenarbeit, in der nach den strukturellen Markern „Situation – Reaktion – Emotion“ eine Situation reflektiert werden sollte, in der religiös-politische Motive im Kontext Schule durch Jugendliche geäußert worden sind. Nach einer Plenumsdiskussion präsentierte Suder einige Hintergründe zu relevanten Trends, Entwicklungen, Akteur:innen, Themen, Formaten und Plattformen. Anschließend fand eine gemeinsame Videoanalyse statt, in der Teilnehmende ihre Eindrücke zu den gezeigten Videos äußerten und gemeinsam auch unterschwellige Botschaften und etwaige Widersprüche benannten. Engagiert diskutiert wurde abschließend die Frage, ob Videos gemeinsam mit Schüler:innen thematisiert, behandelt und entzaubert werden können und sollten. Das sei natürlich sinnvoll, weil es eben für viele Schüler:innen relevante Inhalte seien, merkte eine Teilnehmerin an, während eine andere entgegnete, man würde manche Jugendliche durch die Analyse unter Umständen erst auf diese Online-Prediger aufmerksam machen.

 

Einführung in die Netzwerkstruktur des Projekts CleaRNetworking

Abschließend wurden die Teilnehmenden eingeführt in die neue Netzwerkstruktur des Projekts CleaRNetworking. Die drei Säulen im CleaRNetwork bestehen aus

  1. Digitalen regelmäßigen Angeboten wochentags abends
  2. Mindestens zwei analogen Treffen in Präsenz pro Jahr jeweils über zwei Tage
  3. Digitalem individuellem Austausch über Discord

Alle Veranstaltungen sollen sich nach den Wünschen des Netzwerkes richten, also deren Bedarfe aufgreifen und deren Interessen dienen. So wurden mehrere potenzielle Referent:innen genannt, die eingeladen werden könnten sowie mehrere Themen und es kam der Wunsch auf, mehr Veranstaltungen in Ostdeutschland durchzuführen. Das Projektteam sieht hat als Veranstaltungsort für Modul 2 des Weiterbildungsdurchgangs 2024 Magdeburg ausgewählt.

Digitale Veranstaltungen, wie etwa die Austauschveranstaltung am 25.04.2023, die von Dr. Gabi Elverich begleitete Veranstaltung „Schule und Möglichkeiten ihrer Veränderung“ am 18.09.2023 sowie die Veranstaltung zu pädagogischen und rechtlichen Fragen rund um den Nahostkonflikt an deutschen Schulen am 26.10.2023, sollen auch 2024 und 2025 folgen.

Ein analoges Netzwerktreffen steht auch bereits an: Am 30.01.24 und 31.01.24 kommt das CleaRNetwork in Kassel zusammen, um sich gemeinsam mit Oulfa Schmidt Fragen nach Systemischem Beraten zu diskutieren und praktisch anzuwenden. Anmeldungen sind noch bis 15.12.2023 möglich.

Die dritte Säule ist unser neues soziales Netzwerk Discord. Auf diesem Netzwerk gibt es Regionalgruppen, um die regionale Vernetzung zu stärken. Außerdem gibt es nach Weiterbildungsjahrgängen angeordnete Gruppen, in denen der Kontakt zu Kolleg:innen aus dem eigenen Weiterbildungsjahrgang gehalten werden kann und auf Materialien zugegriffen werden kann. Das Projektteam hat die Anwesenden bei der Registrierung unterstützt und dringend empfohlen, eigene Kontaktdaten (Name der Schule, Ort der Schule, Funktion an der Schule, E-Mail, Telefonnummer) ins eigene Profil aufzunehmen, um mit allen anderen über die Direktnachrichtenfunktion hinaus in den Austausch treten zu können.

Nach einer abschließenden Feedback-Runde endete das erste große Netzwerktreffen des Jahres.