Die Bundezentrale für politische Bildung veranstaltete am 05.05.25 und 06.05.25 eine Tagung zu Islamismus-Prävention in Köln. Unsere Projektleitung Dr. Junus el-Naggar war dabei. Der folgende Bericht resümiert die Erkenntnise der Tagung in fünf Thesen mit Blick auf schulische Radikalisierungsprävention.
- Es gibt einen Unterschied zwischen einer Unterstützung des IS und der Weigerung der Teilnahme am Unterricht über die Evolutionstheorie.
In Fachdebatten wird häufig sowohl eine Rekrutierung von Terrorist:innen etwa durch den IS oder Al-Qaidah als auch eine konfrontative Religionsbekundung im Unterricht durch junge Menschen unter dem Begriff des Islamismus gefasst. Das sind aber zwei völlig unterschiedliche Phänomene. Auch die Maßnahmen zur Bearbeitung beider Phänomene unterscheiden sich deutlich voneinander. Während Sicherheitsbehörden für das erste Phänomen zuständig sind, haben Schulen nur in absoluten Ausnahmefällen mit einer wirklichen Sicherheitsbedrohung zu tun.
Vielmehr ist schulisches Personal häufig mit teilweise provokativen Verhaltensweisen konfrontiert, die aber keine Anzeichen von Radikalisierung darstellen, sondern pädagogisch angegangen werden können – ähnlich wie bei anderen jugendtypischen Provokationen etwa zu Geschlechterrollen oder politischen Themen [1].
Religiös begründete Äußerungen sollten nicht schneller sanktioniert werden als andere, denn das würde zu einer pauschalen Stigmatisierung sichtbarer Religiosität führen, was wiederum kontraproduktiv für schulische Präventionsarbeit wäre.
Ohnehin muss demonstrative Religionsbekundungen nicht zwingend mit tiefer Gläubigkeit zu tun haben, sondern kann auch mit darüber ausgetragenen Identitäts- und Anerkennungskonflikten zusammenhängen.
- Ansprachen popkultureller Akteur:innen betreffen (zunehmend) Geschlechterrollen.
Thematisiert wurde auf der Tagung ein Nasheed des Hip-Hop-Künstlers REDLION [2]. Der Songtext transportiert religiös geprägte Vorstellungen von Geschlechterrollen, die identitätsbildend wirken können. Der Song betont ein religiös begründetes Ideal von „echter Männlichkeit“, die ausschließlich über die Orientierung an der religiösen Praxis definiert wird. Im Lied genannte Attribute echter Männlichkeit sind Disziplin, Aufopferung, Standhaftigkeit („Krieger am Tag und Lichter bei Nacht“) und spirituelle Verantwortlichkeit für die Familie („Sei das Licht der Familie – folg dem Islam“). Für junge Männer wird eine enge Geschlechterrolle hervorgebracht, in der Selbstbeherrschung, Verantwortung und religiöser Führungsanspruch zentrale Elemente sind, während alternative Vorstellungen von Männlichkeit (emotional, weich, gleichberechtigt) keine Rolle spielen.
Frauen hingegen werden primär über ihre Beziehung zum Glauben und zur Kleidung thematisiert: „Sie trägt den Hijab“, „Bedeckt wie die Nacht, Taqwa [Gottesbewusstsein] ist ihr Kleid“. Ihre Rolle wird hier nicht über Eigenständigkeit oder aktive Teilhabe definiert. Ihr Idealbild wird auf äußere Bescheidenheit reduziert.
Der Song bietet klare Orientierung für Jugendliche, die nach Halt, Zugehörigkeit und vermeintlich eindeutigen Rollenvorbildern suchen – gerade in einer Phase von Identitätsfindung und möglicher gesellschaftlicher Ausgrenzung. Präventionsakteur:innen können und sollten diese Orientierungssuche junger Menschen in ihrer Arbeit aufgreifen, um gemeinsam mit diesen alternative Konzepte von Geschlechterrollen als Identitätsanker herauszuarbeiten. Dabei sollte es nicht darum gehen, die vorgenannten Orientierungspunkte pauschal abzuwerten, sondern junge Menschen dabei zu unterstützen eigene Perspektiven auf diese zu entwickeln. Diese können letztendlich auch darin bestehen, andere Positionen als die obengenannten einzunehmen.
- Der pädagogische Fokus sollte eher auf Schüler:innen liegen als auf den Angeboten religiöser Akteur:innen.
Anstatt sich primär mit den ideologischen Inhalten oder historischen Hintergründen radikaler Gruppen wie Hizb ut-Tahrir zu beschäftigen, sollte der pädagogische Fokus von schulischem Personal klar auf den Jugendlichen selbst liegen – auf ihren Erfahrungen, Bedürfnissen und Lebensrealitäten. Denn radikale Ansprachen wirken nicht im luftleeren Raum, sondern sprechen gezielt Defizite an, die junge Menschen spüren: fehlende Zugehörigkeit, mangelnde Anerkennung, unterbrochene Biografien oder das Gefühl, nicht gesehen und gehört zu werden.
Schule kann diesen Bedarf nicht nur erkennen, sondern aktiv darauf antworten – durch Repräsentation, durch Räume der Partizipation, durch das Sichtbarmachen vielfältiger Identitäten und durch stabile, wertschätzende Beziehungen. Wenn Jugendliche erleben, dass sie in der Schule Platz haben – mit ihrer Herkunft, ihrem Glauben, ihren Fragen –, verlieren radikale Akteur:innen an Attraktivität.
Der pädagogische Auftrag besteht daher nicht darin, jeden extremistischen Diskurs im Detail zu analysieren, sondern darin, die Lücken zu füllen, in die solche Diskurse eindringen. Denn Radikalisierung ist oft weniger Ausdruck von Überzeugung als von unerfüllter Sehnsucht.
- Schulisches Personal muss sich neuen Herausforderungen in der Radikalisierungsprävention durch generative Künstliche Intelligenz stellen.
Schulisches Personal steht angesichts der rasanten Entwicklungen generativer Künstlicher Intelligenz vor neuen, dringlichen Herausforderungen in der Radikalisierungsprävention. KI kann heute nicht nur Lernmaterialien erstellen, sondern ebenso effektiv für manipulative, radikalisierende Zwecke eingesetzt werden – etwa durch die Generierung von Anschlagsplänen, Deepfakes, Chatbots mit radikalem Narrativ oder täuschend echten Bildern, die erst auf den zweiten Blick problematische Botschaften transportieren. Islamistische Gruppen nutzen bereits KI-basierte Tools wie Voice Cloning, automatisch generierte Nasheeds oder visuelle Propaganda zur Verbreitung von Mythen – wie etwa in der Verbreitung der Behauptung, israelische Soldaten würden Windeln tragen. Diese neuen Formen der Einflussnahme geschehen oft subtil, unterhalb der Wahrnehmungsschwelle traditioneller pädagogischer und medienkritischer Instrumente.
Eine reine Kennzeichnungspflicht von KI-Inhalten greift zu kurz, da sie keine Aussage über inhaltliche Verzerrungen trifft – wie etwa die unreflektierte Reproduktion islamischer Symbole bei Anfragen zu Islamismus. Deshalb ist es essenziell, dass schulisches Personal nicht nur über die technischen Möglichkeiten und Gefahren von KI informiert ist, sondern diese auch kritisch vermitteln kann. Zugleich eröffnet KI pädagogische Chancen: Sie kann auch für kreative Bildungsformate genutzt werden, die Jugendlichen medienkritische Kompetenzen vermitteln und ihnen alternative, positive Narrative zugänglich machen. Entscheidend ist, dass Schule sowohl die Risiken als auch das Potenzial von KI aktiv in ihre Präventionsarbeit integriert.
- Schulisches Personal sollte die faktische Relevanz sozialer Medien im Leben junger Menschen anerkennen.
Schulisches Personal sollte die faktische Relevanz sozialer Medien im Leben junger Menschen nicht nur anerkennen, sondern aktiv in Bildungsprozesse einbeziehen. Plattformen wie TikTok sind zentrale Informationsquellen für viele Jugendliche – auch zu komplexen politischen Themen wie dem Nahostkonflikt. Diese digitale Realität pauschal abzuwerten, verstärkt das Gefühl junger Menschen, von der Mehrheitsgesellschaft nicht ernst genommen zu werden – ein Gefühl, das viele gerade im schulischen Kontext bereits erleben. Die oft undifferenzierte Funktionsweise von Algorithmen stellt dabei eine Herausforderung dar, der sich Schule stellen muss, statt ihr auszuweichen.
Beispiele wie Ahmad Mitaev und Uwe Schaffer [3] zeigen, dass glaubwürdige, differenzierte Inhalte auf diesen Plattformen möglich sind – wenn sie authentisch und lebensnah sind, nicht bürokratisch verwässert. Ihre Videos erreichen Jugendliche, weil sie echte Geschichten erzählen, Ambivalenzen zulassen und keine moralisierenden Botschaften transportieren. Damit schaffen sie einen Dialog auf Augenhöhe. Wenn schulisches Personal soziale Medien konsequent als gesellschaftlich prägende Räume anerkennt, können daraus wertvolle Anknüpfungspunkte für politische Bildung, Prävention und Zugehörigkeitsvermittlung entstehen.
Der Tschetschene Ahmad Mitaev und der Polizist Uwe Schaffer erstellen gemeinsam TikTok-Videos. Sie haben es in Österreich geschafft, eine bemerkenswerte Reichweite unter Jugendlichen zu erzielen. Die beiden sind nicht immer derselben Meinung, streiten sich respektvoll und sind dabei authentisch. Ihr Ziel ist, jungen Menschen Werte zu vermitteln, ohne dabei direktiv zu sein.
In der Praxis verhindern bürokratische Hürden oft, dass es Gegennarrative auf sozialen Medien gibt, die in ihrer Reichweite mit denen radikalisierender Angebote vergleichbar sind. Uwe und Ahmad aber haben es geschafft. Ahmad hat Rassismus-Erfahrungen gemacht, wurden von der Polizei zusammengeschlagen, saß nach eigener Aussage zu Unrecht im Gefängnis; er hat traumatische Erfahrungen gemacht und war nah dran, zum IS auszuwandern.
Die Videos von Cop & Che kommen von Ahmads privatem Kanal. Der bürokratische Weg der Absegnung durch die Polizei ist in diesem Fall relativ kurz – und das ist eines ihrer Erfolgsrezepte. Vor allem aber legen die beiden Wert auf Authentizität, statt krampfhaft und überkorrekt Gegennarrative zu produzieren. In sozialen Medien liegen Potenziale, die die Radikalisierungsprävention bisher kaum nutzt.
[1] https://www.ufuq.de/aktuelles/konfrontative-religionsausuebung-als-synonym-fuer-islamismus/