Am 28.04.25 und 29.04.25 kam der 6. Weiterbildungsjahrgang der CleaR-Reihe zu seinem 3. Modul mit dem Schwerpunkt Systemische Beratung im Hotel Plaza in Hannover zusammen.
Das Modul begann nach der Einführung durch unseren Projektleiter Junus el-Naggar mit einer kollegialen Fallberatung. Dieses Beratungsformat hat sich im CleaRNetworking bereits in den vergangenen Jahren mehrfach bewährt, um schulischem Personal neue Handlungsmöglichkeiten für Fälle potenzieller Radikalisierung aufzuzeigen.in diesem Fall ging es um einen Schüler aus der 8. Klasse, Leistungsträger, Mitte der 2010er-Jahre aus Syrien nach Deutschland gekommen, der von „den Juden“ spreche, anfangs nicht zwischen „Juden“ und „Israel“ differenziere und immer wieder antisemitische Andeutungen mache. Er habe das Gefühl, nicht frei reden zu können zu seinen Ansichten zum Nahostkonflikt. Der Fallgeber hat einen ausgezeichneten Zugang zu ihm und steht in regelmäßigem Austausch. Er sei gut in die Schulgemeinschaft integriert, werde auch nicht ausfallend und sei politische ausgesprochen interessiert.
Der Auftrag des Fallgebers in die Runde lautete: „Wie kann ich vorgehen, um ihm zu helfen, den Nahostkonflikt differenziert zu betrachten, ohne das vorhandene Vertrauensverhältnis zu gefährden?“ Nach den üblichen Abschnitten einer kollegialen Fallberatung (Rückfragen, fachlichen Diskussion der beratenden Plenums, etc.) kamen letztlich mehrere Lösungsvorschläge zusammen, die ein Sprecher dem Fallgeber gebündelt präsentierte:
- Der Schüler könne im Rahmen eines Politik-Talks differenziertes Argumentieren und Gegenargumentieren üben. Das fordere ihn heraus und konfrontiere ihn mit unterschiedlichen Argumenten.
- Durch Elternarbeit könne in Erfahrung gebracht werden, auf welchen Wissensquellen die Ansichten des Schülers basierten.
- Das Mehraugen-Prinzip könne die Sorgen des Fallgebers ordnen, indem er sich mit der Sozialarbeit und der Klassenleitung des Schülers austausche.
- Ein gemeinsamer Quellencheck könnte dem Schüler helfen, seine Medienkompetenz zu stärken. Dabei sei es wichtig, dass auch der Fallgeber kritisch mit seinen eigenen medialen Zugängen bleibe und nicht von oben herab bewerte, was mehr oder weniger seriöse Quellen seien.
- Die gute Beziehung zwischen Fallgeber und Schüler solle unbedingt gepflegt und unter keinen Umständen aufs Spiel gesetzt werden, denn dass der Fallgeber einen derart vertrauten Zugang zum Schüler hat, ist die größte denkbare Ressource zur weiteren Bearbeitung des Falls.
- Diskussionen kamen über die Frage nach einer professionellen Distanz auf. Während ein Anwesender betonte, es sei wichtig, diese zum Schüler zu halten, betonte eine weitere Anwesende, gerade Gespräche auf Augenhöhe seien vielversprechend.
- Wenngleich der Fallgeber betonte, der Schüler habe einen eher nüchternen, analytischen Blick auf den Konflikt, kam der Vorschlag auf, die emotionale Ebene einzubeziehen, also nach Emotionen zu fragen und dem Schüler zu helfen, diese zu ordnen.
In dieser kollegialen Fallberatung zeigte sich erneut die Expertise der anwesenden Personen, für deren Impulse sich der Fallgeber bedankte.
Systemische Beratung
Im Anschluss übernahm Philip Al-khazan, ausgebildeter Systemischer Berater von der Beratungsstelle Hamburg. Er leitete ein mit einer Erzählung seines Herzensprojekts. Als Al-khazan noch als Integrationshelfer an einer Hamburger Schule tätig war, etablierte er dort die sogenannte Oase. Dabei handelt es sich um einen Raum, in dem Schüler:innen am Handy sein, Fußball spielen, mit Freund:innen abhängen, sich über politisches austauschen wie auch über Sexualität reden können. Selbst Zinsrechnung habe Al-khazan mit den Schüler:innen dort mal besprochen – schlicht all das, was sie interessierte. Al-khazan und insgesamt fünf Kolleg:innen, die er fortbildete und die mit-einstiegen, gaben dabei nicht die Themen vor, diese kamen von den Schüler:innen selbst. Die kontinuierliche Betreuung des Raumes wurde fest im Stundenplan vermerkt.
Die Idee stieß auf derartige Begeisterung, dass es am Ende drei Räume gab, einen für die Klassen 5-6, einen für die Klassenstufen 7-9 und einen für alle ab der 10. Klasse. Al-khazan konnte dabei auf die volle Unterstützung der Schulleitung zählen – eine unverzichtbare Ressource bei der Umsetzung derartiger Ideen. „Hier wird keine Religion bevorzugt,“ hob Al-khazan damals hervor, wenngleich aus der ursprünglichen Idee eines Gebetsraumes ein viel weitreichenderes Konzept entstanden sei. Neutralität bedeute keine Laizität, hob er dennoch hervor. Es gelte Schüler:innen aller Religionen Gelegenheiten einzuräumen, ihre Religion zu praktizieren.
„Wir können nicht die ganze Welt retten“
Auf die Rückfrage einer Teilnehmenden unserer Weiterbildung, inwiefern Mehrsprachigkeit in seiner eigenen Präventionsarbeit eine Herausforderung gewesen sei, entgegnete Al-khazan, es habe immer Personen gegeben, die im Zweifelsfall übersetzten. Inzwischen hätten aber auch viele Übersetzungsapps eine ausreichend hohe Qualität erreicht, dass sie sich in für die eigene pädagogische Arbeit und präventive Arbeit einsetzen ließen. Es käme bei Schüler:innen immer sehr gut an, wenn sie in einer Sprache angesprochen würden, die sie gut beherrschten, so der Referent.
Es gelte trotzdem, den eigenen Einflussbereich realistisch einzuordnen. Al-khazan habe trotz dieses Konzepts und des vielfältigen Engagements an seiner Schule junge Menschen in die Kriminalität verloren, in Radikalisierung und Prostitution. Doch selbst wenn er nicht die ganze Welt retten könne, habe er durch die Oase Dinge über viele Schüler:innen erfahren, die er sonst wohl nie erfahren hätte.
„Transparenz ist bindungsfördernd“
Al-khazan erzählte von einem Schüler, dessen Radikalisierungsprozess in vollem Gange war. Strafrechtlich relevantes Verhalten müsse er der Schulbehörde melden, machte er im Gespräch mit dem Schüler klar. Und ermutigte die Anwesenden zu voller Transparenz gegenüber Beratungsnehmer:innen. Dass Al-khazan gewisse Vergehen melden würde und dass eine Versetzung in ein Internat in der Türkei im Raum stehe, habe er dem Schüler nicht vorenthalten. Und das habe seine Bindung und das Vertrauensverhältnis zwischen den beiden gefördert.
„Es gibt super viele Möglichkeiten im Umfeld von Schulen“
Al-khazan habe in seiner Zeit an der Schule auch mit umliegenden Sportvereinen wie auch religiösen Gemeinden kooperiert. Auf einem Fest der Kulturen konnten alle Schüler:innen Speisen aus ihren kulturellen Prägungen anbieten. Weil vielen gerade männlichen jungen Menschen häufig eine Vaterfigur fehle, habe er gemeinsam mit einem Kampfsportverein ein Konzept erarbeitet, bei dem Schüler mit ihren Vätern gemeinsam in der Sporthalle der Schule Sport treiben.
„Eigene Bezüge zu Religiosität reflektieren“
Im nächsten Themenblock ging es um den Umgang mit Religion und Religiosität in der Schule: von Schüler:innen, aber insbesondere auch mit jener schulischen Personals. Al-khazan illustrierte dieses mitunter schwierige Passungsverhältnis mit dem Fallbeispiel eines engagierten Lehrers namens Tom, der für viele Schüler:innen eine Art Ersatzvater war, der Hausbesuche mit der Polizei beging, der etwas bewegen, seine Schüler:innen immer schützen und seine Schulleitung zum Handeln bringen wollte. Im Kunstunterricht jedoch weigerte sich einmal ein Schüler, Lebewesen zu zeichnen, weil seine Religion ihm das verbiete. Tom gab ihm dafür eine 6 und deutete sein Verhalten als Arbeitsverweigerung. Aufgabe der Anwesenden war nun, in Gruppen darüber zu diskutieren, wieso Tom so reagiert hatte, wie sie ihn beraten würden und was mögliche Beweggründe des Schülers gewesen sein könnten. Das Mittel der Spekulation und des Bildens von Hypothesen stellte Al-khazan als Mittel der Handlungsfähigkeit vor. Vielfältige Ansätze wurden anschließend im Plenum zusammengetragen.
Der Schüler hätte etwa sein religiöses Wissen anwenden und präsentieren wollen können. Er hätte provozieren wollen können. Er hätte schlicht keine Lust zum Zeichnen haben können. Er hätte vor seinen Mitschüler:innen gut dastehen wollen können. Kurzum: Die Palette möglicher Hintergründe ist breit. Und lässt sich grundsätzlich nur im Gespräch herausfinden, das hier ein pädagogisch sinnvollerer Zugang gewesen wäre als das schlichte Erteilen der Note 6.
Tom, klärte Al-khazan letztlich die wahre Intention des Lehrers auf, habe die Weigerung des Schülers als Künstler persönlich genommen. Er sei überzeugter Atheist. Sein Vater hatte als Künstler große Probleme mit der katholischen Kirche, weswegen Tom allergisch auf dogmatische religiöse Inhalte reagierte. Die eigene religiöse Biografie so zu hinterfragen, dazu lud Al-khazan anschließend auch die Teilnehmenden ein. Was bedeutete ihnen Religion? Welche positiven und negativen Erfahrungen haben sie mit Religion gemacht? Und wie würden sie damit umgehen, wenn der:die eigene Partner:in in die eine oder andere Richtung konvertieren würde. Al-khazan brachte die Teilnehmenden mit diesem Gedankenspiel an die Grenzen der eigenen Toleranz – und das war Teil des angestoßenen Reflexionsprozesses über eigene Zugänge zu Religiosität.
„Funktionen von Religion zu finden ist viel leichter, als Religion zu definieren“
Nach ein paar weiteren kleineren Übungen zu Religionssensibilität regte Al-khazan eine Diskussion über eine Definition von Religion an. Die anschließende Debatte verlief kontrovers. Die Abgrenzung zwischen Religion, Philosophie und Ideologie fiel nicht leicht; die zwischen persönlichem Glauben und politischer Institutionalisierung von Religion auch nicht. Es gebe keine einheitliche Definition in Religionssoziologie und Religionswissenschaften, klärte Al-khazan schließlich auf.
Anknüpfend daran bat er die Anwesenden, mögliche Funktionen von Religion zu sammeln, was den Anwesenden deutlich leichter fiel: Halt, Orientierung, ein Wertefundament, Identität, Sinn, Erklärung, Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Hoffnung, Trost, Alltagsbewältigung, eine Minderung der Angst vor dem Tod und die Steigerung des eigenen Selbstwerts waren nur einige der gesammelten Funktionen.
„Er hat ihm sein Fundament weggezogen“
Dass das Sammeln von Funktionen von Religion der Gruppe so viel leichter fiel, als das Finden einer Definition, nahm Al-khazan zum Anlass, auf die Bedürfnisse junger Menschen hinter den Funktionen von Religiosität zu sprechen zu kommen. Auf einer theologischen Ebene mit jungen Menschen zu debattieren, sei in der pädagogischen Auseinandersetzung mit sich radikalisierenden Schüler:innen meist wenig hilfreich. Al-khazan erzählte in diesem Zusammenhang von einem radikalisierten Schüler, der in den Diskurs mit einem Imam geschickt wurde. Dieser habe ihm versucht zu erklären, was „der richtige Islam“ sei. Das habe jedoch bloß dazu geführt, dass der Schüler den Imam nach wenigen Minuten zum Ungläubigen erklärte und das Gespräch beendete. Sinnvoller sei es vielmehr, den Fokus im Gespräch mit sich radikalisierenden jungen Menschen nicht auf theologische Debatten zu legen, sondern auf Funktionen und Bedürfnisse junger Menschen.
„Die Frage ist nicht, was sie glauben, sondern warum sie glauben“
Es gehe in der pädagogischen Auseinandersetzung mit jungen Menschen also weniger darum, religiöse Inhalte zu korrigieren oder auf dogmatische Richtigkeiten zu pochen, sondern vielmehr darum, herauszufinden, welche emotionalen und sozialen Bedürfnisse hinter einer Hinwendung zu religiöser Radikalisierung stehen. Radikalisierte junge Menschen seien häufig auf der Suche nach Orientierung, Anerkennung, Zugehörigkeit und einem festen Platz in der Welt, so der Referent. Religion diene dabei oft nicht in erster Linie als Glaubenssystem, sondern als ein identitätsstiftendes Element, das Halt und Struktur im Alltag bieten könne.
In diesem Sinne sei es zentral, jungen Menschen alternative Räume anzubieten, in denen sie sich gehört, verstanden und ernst genommen fühlen, betonte Al-khazan. Das könne in Form von Gesprächen über persönliche Herausforderungen, soziale Ausgrenzung oder auch Zukunftsängste geschehen. Pädagog:innen müssten dafür keine theologischen Expert:innen sein, sondern vor allem Beziehung und Vertrauen aufbauen.
Die Frage sei also gar nicht unbedingt, was junge Menschen glauben, sondern warum sie glauben würden. Indem sich schulisches Personal sich dieser Frage offen-interessiert nähere, könne man verhindern, dass religiöse Argumente als alleinige Ursache für problematisches Verhalten verstanden würden. Stattdessen gelte es, den religiösen Ausdruck als Symptom tieferliegender psychosozialer Prozesse zu begreifen – da kann präventive Arbeit ansetzen.
„Geht es hier um Religion? Oder um familiäre Dynamiken?“
Das bedeutet, dass der Zugang über die Bedürfnisse und Erfahrungen junger Menschen eine besonders wirksame Herangehensweise darstellt. Al-khazan illustrierte das mit einem Beispiel aus seiner eigenen Beratungspraxis: Ein Schüler, der mit autoritären Strukturen in seiner Familie zu kämpfen hatte, schilderte eine prägende Situation. Als sein Vater ihn bat, ihm etwas zu bringen, war dem Schüler bewusst, dass er es seinem Vater nie recht machen konnte – egal, wie er sich verhielt. Doch an diesem Punkt erinnerte er sich an seinen Glauben: „Allah weiß, dass ich aufrichtig versucht habe, ihn zufriedenzustellen.“ In diesem Moment habe ihm Religion geholfen, mit der inneren Zerrissenheit umzugehen. Der Berater griff diesen Impuls auf – doch nicht, um über islamische Theologie zu sprechen, sondern um die familiäre Dynamik und das emotionale Erleben des Jugendlichen zu thematisieren. Damit verlagerte sich der Fokus vom religiösen Diskurs hin zum Verhältnis zwischen Vater und Sohn.
Diese Gesprächsstrategie unterstreicht ein zentrales Anliegen in der systemischen Beratungsarbeit mit radikalisierungsgefährdeten jungen Menschen: Nicht über Religion zu diskutieren, sondern über Emotionen, Krisen und Bedürfnisse zu sprechen. Die Frage lautet dann nicht: „Was glaubst du?“, sondern: „Wie kannst du mit deinen Krisen umgehen?“ oder „Was gibt dir Halt, wenn du dich ungerecht behandelt fühlst?“ Solche Gespräche schaffen einen Raum, in dem junge Menschen sich öffnen und eigene Strategien entwickeln können.
„Beziehungsarbeit als Ressource“
Ein großes Hindernis dabei ist jedoch die fehlende Beziehungsebene. Externe Fachkräfte, die punktuell an Schulen kommen, können oft keine nachhaltige Vertrauensbasis aufbauen. Wer jedoch regelmäßig in der Schule präsent ist – Lehrkräfte, Schulsozialarbeitende, pädagogisches Fachpersonal – hat eine große Ressource zur Verfügung: Beziehungsarbeit. Sie ermöglicht es, über längere Zeit ein stabiles Fundament aufzubauen, das Gespräche über sensible Themen überhaupt erst möglich macht.
Dabeisei es wichtig, Jugendliche nicht zu belehren oder zu korrigieren, sondern sie als „Expert:innen ihrer eigenen Religion und Lebenswelt“ ernst zu nehmen, so der Referent. Das stärkenicht nur das Selbstwertgefühl, sondern fördere auch die Bereitschaft, sich mit Ambivalenzen auseinanderzusetzen. Ein bewährter methodischer Zugang ist dabei die sogenannte Dilemma-Methode. Al-khazan nennt als Beispiel die Frage: „Was würde mit mir passieren, wenn ich vom sogenannten Islamischen Staat gefangen genommen würde?“ Wenn eine vertrauensvolle Beziehung besteht, kann eine solche Frage den jungen Menschen herausfordern, eigene Haltungen zu hinterfragen. Sie geraten in ein inneres Spannungsfeld und beginnen, differenzierter über Religion, Gewalt und Moral nachzudenken.
Solche Dilemma-Fragen müssten nicht immer aus aufwendigen Programmen stammen. Oft reiche eine einfache Internetrecherche, um geeignete Aufgaben zu finden, die dazu beitragen, Resilienz gegen Radikalisierung zu stärken. Entscheidend ist, dass junge Menschen dabei nicht moralisch abgeprüft werden, sondern in ein echtes Nachdenken über Werte, Verantwortung und Handlungsoptionen kommen.
„Die Kopftstandmethode als Ansatz der Gesprächsführung in Beratungssettings“
Im weiteren Verlauf des Workshops führte Al-khazan die sogenannte Kopfstand-Methode ein – ein Instrument, das er mit den Teilnehmenden praktisch einübte, damit sie es später eigenständig in ihrer eigenen schulischen Praxis anwenden können. Ziel dieser Methode ist es, über die gezielte Zuspitzung einer Situation in die Verschlimmerung oder Verbesserung neue Perspektiven zu eröffnen. Diese Methode könne auch in Beratungssettings mit jungen Menschen genutzt werden. Durch das bewusste Denken „vom Ende her“ wird ein Perspektivwechsel angestoßen, der zu konkreteren Handlungsansätzen führen kann.
In der Übungseinheit stellte Al-khazan zwei provokante Leitfragen in den Raum:
Zum einen: „Wie müsste Schule aussehen, damit sich möglichst alle Lehrkräfte und Schüler:innen radikalisieren?“ Die Gruppen sammelten dazu Aspekte wie:
- Keine Schulsozialarbeit;
- Intransparente Strukturen;
- Autoritäre Schulleitung ausschließlich durch Männer;
- Verbindliches Gebet für alle – unabhängig vom Glauben;
Anschließend lautete die Gegenfrage: „Wenn ihr alle Ressourcen und jede politische Rückendeckung hättet – wie müsste Schule gestaltet sein, damit Radikalisierung gar nicht erst entsteht?“ Die Gruppen entwarfen positive Utopien, in denen unter anderem folgende Punkte genannt wurden:
- Flache Hierarchien und echte Partizipation;
- Abschaffung von Notendruck zugunsten individueller Förderung;
- Mehr (nicht nur pädagogisches) Personal für die Begleitung junger Menschen;
- Räume zum informellen Austausch, Diskutieren und gemeinsamen Lernen;
- Programme zur Demokratiepädagogik statt autoritärer Erziehung;
- Eine stärkere Identifikation von Schüler:innen mit „ihrer“ Schule als Ort der Wertschätzung und Entwicklung;
Durch die Gegenüberstellung dieser beiden Extreme konnten die Teilnehmenden einen Realitätsabgleich vornehmen: Wo steht meine Schule gerade? Welche Elemente der „Verschlimmerung“ sind tatsächlich (noch) vorhanden? Und wo ließe sich realistisch ansetzen, um Schritte in Richtung einer förderlichen Lernumgebung zu gehen?
„Bedarfe aktiv an die Schulleitung herantragen“
Al-khazan ermutigte die Teilnehmenden, ihre Erkenntnisse als Bedarfe aktiv an die Schulleitung heranzutragen. Pädagog:innen, Sozialarbeiter:innen und engagierte Lehrkräfte seien Expert:innen für die konkrete Lebenswelt der Schule – ihre Rückmeldungen seien daher ein wertvoller Beitrag für schulische Entwicklungsprozesse. Auch Schulleitungen könnten diese Bedarfe bündeln und an die zuständigen Behörden oder Ministerien weitergeben – etwa mit Forderungen wie „Wir brauchen mehr Schulsozialarbeit“ oder „Wir benötigen Fortbildungen zur Demokratieförderung“.
Falls Entscheidungsträger auf eine datenbasierte Argumentation pochten, wies Al-khazan darauf hin, dass viele Beratungsstellen der Bundesländer statistisches Material oder Bedarfsberichte zur Verfügung stellen, die bei der Argumentation hilfreich sein können.
Pädagogische Maßnahmen im Clearingverfahren
Der zweite Fortbildungstag begann mit einer Gruppenübung mit Fallbeispielen zu möglichen pädagogischen Maßnahmen, die Clearingteams in Gesprächen mit sich radikalisierenden jungen Menschen durchführen können. Junus el-Naggar teilte die Schultandems in sechs Arbeitsgruppen auf, denen er je einen Fall zuteilte. Die Beispielfälle umfassten unter anderem misogyne Aussagen von Schüler über ihre Mitschülerinnen im Unterricht, radikale Inhalte im Klassenchat, die von einer Schülerin geteilt worden waren, oder verschwörungstheoretische Erzählungen eines Schülers während der großen Pause. Gemeinsam sollten die Arbeitsgruppen überlegen:
- Welche pädagogischen Maßnahmen helfen in diesem Fall weiter?
- Welche pädagogischen Maßnahmen könnten eher schaden?
- Welche Maßnahmen sind nicht pauschal einer der beiden ersten Fragen zuordbar?
Ziel der Gruppenübung war es, den Teilnehmenden ein Gefühl für den großen pädagogischen Gestaltungsspielraum zu vermitteln, den sie für im Clearingverfahren zu beschließende Maßnahmen haben. Denn aus Projektsicht sollten pädagogische Interventionen stets den Vorzug vor Sanktionen und Strafmaßnahmen erhalten. Es gehe vielmehr darum, die individuellen Stärken und Fähigkeiten der betreffenden Schüler:innen herauszuarbeiten, erläuterte el-Naggar. Welche gemeinsamen Werte ließen sich identifizieren, welche (schulinternen wie externen) Alternativen könnten den Schüler:innen als Ersatz für die Hinwendung zu einer radikalen Ideologie angeboten werden? Könnte der Schülerin, die sich in ihrer Klasse nicht gesehen und ignoriert fühlt, vielleicht die Teilnahme an einer Sport AG helfen, ein Training in Selbstbewusstsein und -wirksamkeit oder ggf. doch ein Klassenwechsel?
Die Arbeitsgruppen hatten hierzu viele Gedanken. Einig waren sie sich darin, dass „echtes Interesse“ aufseiten des Clearingteams vorhanden sein muss, sich mit den Problemen und den Lebenswelten der Schüler:innen zu befassen. Ohne Wertschätzung, Offenheit gegenüber der Person und sich ausreichend Zeit für die individuellen Bedarfs zu nehmen, gehe es nicht. All das nicht zu zeigen, die Schüler:innen von oben herab zu behandeln und sie nicht ernstzunehmen, all behindere ehe den Aufbau einer gelingenden Vertrauensbeziehung während eines Clearingverfahrens.
Systemische Haltung im Beratungsprozess
Anschließend übernahm wieder Philip Al-khazan die Workshopleitung. Er stellte die Prämissen einer systemischen Haltung im Beratungsprozess vor, von denen einige Teile bereits am Vortag in der Diskussion um die wichtige Rolle von Beziehungsarbeit in der Beratung angeklungen waren. Eine systemische Haltung, wie sie auch von Legato vertreten wird, zeichne sich laut Al-khazan durch folgende Prämissen aus:
- Wertschätzung (gegenüber den Klient:innen)
- Ressourcenorientierung
- Prozessorientierung
- Neugier (auf die Klient:innen)
- innen sind Expert:innen ihrer eigenen Lebenswelt(en)
- Hilfe zur Selbsthilfe
Um diese Prämissen umzusetzen sei zu Beginn jedes Beratungsprozesses eine Zielklärung unabdingbar, so der Referent. Welche Ziele sollen in der Beratung erreicht werden? Wer ist Beratungsnehmer:in? Ggf. müssen Ziele im laufenden Beratungsprozess auch angepasst werden – analog zum sechsten Schritt des Clearingverfahrens „Evaluation der Maßnahmen“. Für die Zielklärung sei besonders der Einstieg in die Beratung wichtig, bzw. das Erstgespräch. Bereits mit den Einstiegsfragen könnten Berater:innen die Grundlagen für Arbeits- und Vertrauensbeziehungen legen und die individuellen Grenzen der Klient:innen, aber auch die eigenen ausloten und festlegen.
Wie komplex die Umsetzung einer systemischen Haltung im Beratungsprozess sein kann, verdeutlichte der Referent anschließend durch ein Rollenspiel. Darin spielten er und ein:e Teilnehmer:in ein fiktives, mitunter konflikthaftes, aber auch typisches Erstklient:innengespräch nach. Darin ging es um einen Schüler, der aufgrund eines nicht genauer beschriebenen Vorfalles, zu einem Gespräch mit dem/der Clearingbeauftragten gebeten wurde. In der anschließenden Reflexionsrunde diskutierten die Teilnehmer:innen mehrere Herausforderungen von Erstgesprächen:
- Wie gelingt der Einstieg, besonders in Zwangskontexten?
- Wie präsentiere ich mich als Berater:in?
- Wie sieht der Gesprächsplan der Schüler:innen aus?
- Wie lässt sich Schweigen aushalten?
Authentisch und interessiert sein, die eigene Biographie in die Waagschale werfen: Das seien gute Ansatzpunkte für den Beziehungsaufbau, nicht nur, im Erstgespräch, so der Referent. Klar sei aber auch: Beziehungsaufbau brauche Zeit, besonders dann, wenn die Klient:innen nicht freiwillig in die Beratung kämen. Auch und besonders in diesem Fall sei wichtig: Die Auftraggeber:innen seien nicht, oder zumindest nicht vordergründig, die Personen, die den/die Schüler:innen in die Beratung schickten, sondern diese selbst. Deren Probleme gelte es zu bearbeiten und zu lösen. Aus Sicht des Clearingverfahrens gilt es hier anzumerken, dass die organisationale Logik des Schulsystems dennoch weiterhin als Hintergrundfolie des Beratungsprozesses mitläuft. Da die Beratung aber im Kontext des sozialen Systems Schule abläuft, lässt sie sich zwar ausblenden, aber nie aufheben. Dies gilt es – Stichwort Rollenkonflikte – im Rahmen von Clearingverfahren stets zu beachten.
Der Einstieg in das Beratungsgespräch
Jedes Beratungsgespräch sei anders, betonte der Referent. Es gebe jedoch einige Grundregeln, um Beratungspersonen den Einstieg in Beratungssetting zu erleichtern:
- Transparenz schaffen (z.B. sich als Beratungsperson vorstellen, erklären warum die Beratungsperson in der Beratung ist);
- Rahmenbedingungen klären (z.B. was ist das Ziel der Beratung, Schweige- und Meldepflichten klar benennen und abklären);
- Vertrauen schaffen (z.B. durch eine wertschätzende und offene Gesprächsatmosphäre, Ort des Treffens mit einer angenehmen Atmosphäre – Café, Spaziergang rund um das Schulgelände)
Das Genogramm als erkundende Methode in der systemischen Beratung
Die Genogramm-Methode sei ein guter Anknüpfungspunkt, um nach dem Einstiegsgespräch mehr über die Klient:innen und ihre individuellen Biographien herauszufinden, so der Referent. Dabei handelt es sich um eine Darstellungsform verwandtschaftlicher Zusammenhänge, die vor allem in der Systemischen Familientherapie verwendet wird, um Familienbeziehungen, darzustellen und zu evaluieren. Sie ähnelt der Systemaufstellung und geht inhaltlich weit über einen Familienstammbaum hinaus. Ausgehend von z.B. der (Groß)Elterngeneration, werden die familiären Beziehungen und prägenden Erlebnisse einer Person in einer Verlaufsmatrix visualisiert, z.B. in einer Kombination aus Stammbaum und Zeitstrahl.
Die Teilnehmer:innen konnten die Methode anschließend an Al-Khazans eigener Biographie ausprobieren. Dabei zeigte sich, dass die visuelle Darstellung von Biographien durchaus fordernd und komplex sein kann, vor allem, wenn Biograph:innen in ihrer Erzählung springen und/oder in der Rückschau Informationen zu vorherigen Lebensereignissen teilen, die sie zuvor ausgelassen/nicht erinnert hatten.
In der Feedbackrunde diskutierte das Plenum anschließend darüber, inwiefern sich die Genogramm-Methode in der schulischen Radikalisierungsprävention anwenden lässt. Die Meinungen gingen dabei teils deutlich auseinander:
- Die Genogramm-Methode ermöglicht es Clearingteams den Fall einer sich radikalisierenden Person in seiner Gesamtheit kennenzulernen;
- Sie ermöglicht korrekt ausgeführt eine Tiefenbohrung über die biographische Entwicklung eines Menschen, dessen Beziehungsgeflecht sowie familiäre Konflikte;
- Daraus können sich günstige Ansatzpunkte für Präventionsmaßnahmen im Rahmen eines Clearingverfahrens ergeben.
Contra:
- Die Methode ist sehr zeitaufwändig. Sie benötigt eine gute Vor- und Nachbereitung sowie entsprechend geschultes pädagogisches Personal;
- Eine tiefgreifende Beschäftigung mit der eigenen Biographie kann bei manchen Personen zu einer hohen emotionalen Intensität führen und ggf. sogar Retraumatisierungen hervorrufen.
- Diese muss von den Beratungspersonen adäquat gehändelt werden können. Andernfalls kann dies ggf. schwerwiegende Folgen für die Psyche der Person, aber auch den weiteren Verlauf des Clearingverfahrens haben.
Systemische Fragetechniken und Methoden in der Umsetzung
Systemische Fragetechniken seien keinesfalls mechanisch zu verstehen, betonte der Referent. Damit meinte er, dass Beratende nicht davon ausgehen sollten, dass die Fragen wie ein Werkzeug zu verwenden, das immer dieselbe Auswirkung habe. Getreu dem Sprichwort: Wer einen Hammer hat, sieht überall Nägel. Vielmehr gehe es darum verschiedene Fragetechniken und -typen für verschiedene Situationen im individuellen Methodenkoffer parat zu haben, die sich je nach Situation herausholen ließen. Es gelte also immer zu überlegen: Welche Frage benötige ich gerade als Problemlösung in dieser spezifischen Situation?
Die sogenannten Funktionalitätsfragen, etwa die zirkulären Fragen seien z.B. geeignet, um herauszufinden, welche Funktion eine beliebige soziale Performance für die Klient:innen habe. Dies lasse sich z.B. durch Reflexions-, Klassifikations-, Prozent- oder Einstimmungsfragen herausfinden. Unterstützt etwa, durch visualisierende Verfahren aus der Biographiearbeit, wie z.B. den Lebensstrahl. Ziel ist es, die Teilnehmenden ‚ins Reden‘ zu bringen, um durch die Erzählung die biographische Funktion herauszuarbeiten. In Bezug auf das Clearingverfahren wäre hier z.B. an die Hinwendung zu einer radikalen religiösen oder politischen Ideologie zu denken.
So könnten hypothetische Frage, wie z.B. die sogenannte Wunderfrage („Wie soll dein Leben in zehn Jahren aussehen?“) oder Perspektivenfragen, wie z.B. die Verschlimmerungsfrage („Was muss passieren, damit dein Leben absolut unerträglich wird?“) genutzt werden, um gemeinsam mit den Beratungspersonen Handlungsoptionen zu entwickeln und Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen, an denen in künftigen Beratungssettings gearbeitet werden kann. Im Fall geringer Sprachkenntnisse könne man in der Beratung ggf. auch Übersetzer:innen heranziehen oder, sollte das z.B. aus finanziellen Gründen nicht möglich sein, auf Übersetzungsapps ausweichen. Es gehe immer darum, sowohl für die Berater:innen als auch für die Beratungspersonen eine angenehme und konstruktive Gesprächsatmosphäre zu schaffen.
Im Zentrum jedes systemischen Beratungsprozesses stünde die Frage nach Auftragsklärung, betonte Referent Al-Khazan zum Abschluss des Moduls. Davon würden alle weiteren Schritte ausgehen. Gegen den individuellen Auftrag der Klient:innen anzuarbeiten – damit sei ein Beratungsprozess unweigerlich zum Scheitern verurteilt. Allen Präventionsakteur:innen, die sich ausführlicher in die systemische Beratung in der Radikalisierungsprävention einlesen und -arbeiten wollten, empfahl er die kürzlich erschienene Monographie von Vera Dittmar [1] zu diesem Thema. Ein Fortbildungsmodul wie dieses könne eine Ausbildung als systemische:r Berater:in natürlich nicht ersetzen, aber dafür sensibilisieren, dass Radikalisierungsprozesse komplex sind und wie sich diese in Beratungsprozessen angemessen bearbeiten lässt.
Fallbeispiel aus der Gruppe
Die vorgestellten Übungen konnten die Teilnehmenden anschließend live in Aktion erleben. Anhand eines Fallbeispiels aus der Gruppe spielten der Referent und eine Teilnehmerin die erste Sitzung einer Beratung durch. Dabei nahm Al-khazan die Rolle des Beraters ein, während die Teilnehmerin die Rolle des Schülers einnahm. In dem Fallbeispiel ging es um einen rechtsextrem eingestellten Schüler, der im Schulunterricht wiederholt rassistische und positive Äußerungen über die deutsche Kolonialgeschichte in Westafrika getätigt hatte. Durch insgesamt 27 Fragen an den „Schüler“ erhielt Al-Khazan in gerade einmal 20 Minuten Gespräch ein umfassendes Bild der familiären Umstände und schulischen Situation des „Schülers“. Dabei nutzte er das gesamte Repertoire der systemischen Beratung, von der Wunderfrage, bis hin zu zirkulären und funktionalen Fragen.
In der Nachbesprechung imponierte der Gruppe besonders, dass sich Al-khazan durch provozierende Kommentare des „Schülers“ nicht aus der Ruhe habe bringen lassen, sondern durchweg die erkundend-öffnende und wohlwollende Perspektive einnahm, welche die systemische Beratung auszeichnet. Es gehe nicht darum, dass die Beratungsperson „alles sagen“ müsse, aber alles sagen könne, was ihr wichtig sei, welche Relevanzen sie im Leben habe, was eigentlich ihr Problem sei, dass sie mit bestimmten Situationen habe, um dann gemeinsam daran zu arbeiten. Al-khazan empfahl den Teilnehmenden, sich während der Gespräche, sofern es für sie hilfreich sei, Notizen zu machen. Diese könnten einerseits als Gedächtnisstütze fungieren, aber auch zu einer inneren Distanzierung verhelfen, zwischen dem Fallgeschehen einerseits und den eigenen Dispositionen und Einstellungen andererseits. Wichtig sei es in jedem Fall gegenüber der Beratungsperson transparent zu machen, zu welchem Zweck die Notizen erstellt würden.
Abschluss: „Be curious, not judgemental“
Das Fortbildungsmodul machte deutlich, dass schulische Präventionsakteur:innen keine Expert:innen für alle Phänomenbereiche der Radikalisierungsprävention sein müssen. Geboten ist vielmehr eine Haltung, die der us-amerikanische Dichter und Essayist Walt Whitman einmal mit den Worten ausdrückte, „be curious, not judgemental“. Eine solche neugierig-offene Grundhaltung, eint die systemische Beratung und den Ansatz, den wir im CleaRNetworking vertreten. Eine solche Haltung schützt aus unserer Sicht nicht nur vor problematischen Essentialisierungen, sondern stellt für Lehrkräfte eine bedeutsame Ressource für den Vertrauensaufbau mit Schüler:innen im Clearingverfahren dar.
Literatur:
[1] Dittmar, Vera (2023): Systemische Beratung in der Extremismusprävention. Theorie, Praxis und Methoden. Stuttgart: Kohlhammer Verlag. Online verfügbar unter: https://ebookcentral.proquest.com/lib/kxp/detail.action?docID=7390662.