Am 12.03.2024 fand ein digitales Werkstattgespräch der hessischen Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus zum Thema „Jüdische Perspektiven auf den 7. Oktober“ statt. Unter den mehr als 100 Teilnehmer:innen war auch Sören Sponick aus dem CleaRNetworking-Team. Der Schwerpunkt des Abends lag auf den Folgen des 7.10.23 für jüdische Menschen in Deutschland. Drei Referent:innen berichteten – stellvertretend für viele andere –, wie sich das gesellschaftliche Klima in den Bereichen Wissenschaft, Bildung, Hochschulen und jüdischen Gemeinden seit dem vergangenen Herbst für Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland verändert hat. Durch den Abend führte Dr. Sabine Urbach aus der RIAS-Geschäftsstelle, die auch die Gesamtmoderation des Werkstattgespräches übernahm.
Aktuelle Erkenntnisse zu Antisemitismus vor dem 7. Oktober
In seinem Eröffnungsvortrag stellte Prof. Dr. Stefan Müller (Frankfurt University of Applied Sciences), der für die kurzfristig verhinderte Prof. Dr. Julia Bernstein eingesprungen war, zunächst „Erkenntnisse aus der Forschung [zu Antisemitismus] vor dem 7.10.2023“ in drei Thesen vor.
- These: „Bildung schützt nicht automatisch vor Antisemitismus“
Die häufig zitierte „Zauberformel“, wonach ein hoher formaler Bildungsgrad der Entwicklung antisemitischer Einstellungen vorbeuge, lasse sich empirisch nicht halten, so der Referent. Antisemitismus finde sowohl in akademischen Räumen als auch außerhalb statt. „Die Formel funktioniert praktisch nicht“, so Müller. Lange Zeit sei in der Forschung die quasi-deterministische Ansicht vorherrschend gewesen, dass mit einem hohen Bildungsgrad ein niedriges Maß an Antisemitismus einhergehe. Heute sei hingegen klar, dass auch gebildete Menschen Antisemitismus reproduzieren könnten. Das heiße zwar nicht, dass Bildungsangebote gegen die Ausbildung und Persistenz antisemitischer Haltungen und Stereotype wirkungslos seien, diese müssten aber gegen ihr eigenes Scheitern sowie mögliche nichtintendierten Folgen reflektiert werden.
Müller empfahl folgende Fragen an aktuelle und künftige Bildungsangebote gegen Antisemitismus zu stellen:
- Welche Maßnahmen wirken effektiv der Ausbildung und Persistenz antisemitischer Haltungen und Stereotype entgegen und führen zudem zu ihrem Abbau?
- Welche Faktoren beschränken/behindern die Wirksamkeit von Bildungsangeboten gegen Antisemitismus?
- Was wirkt mit welchen (nicht intendierten) Nebenfolgen?
- These: Die gegenwärtigen Bildungsangebote rücken manche Erscheinungsweisen des Antisemitismus in den Vordergrund, während andere im Hintergrund bleiben
Müller empfahl die Einnahme einer Doppelperspektive bei der Bewertung von Bildungsangeboten: Es gelte nicht nur zu schauen, welche Formen des Antisemitismus in diesen thematisiert würden (und welche nicht), sondern auch, wie, auf welche Art und Weise, diese dort thematisiert würden. Schulisches Personal müssten die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen kennen und einordnen können, um auf antisemitische Äußerungen im Unterricht angemessen und mit pädagogischen Mitteln reagieren zu können. Zudem müssten mögliche nichtintendierte Folgen der Berücksichtigung und Auslassung in die wissenschaftliche Beobachtung miteinbezogen werden, um deren (pädagogische) Folgen angemessen bewerten und Bildungsangebote ggf. überarbeiten und anpassen zu können. Denn je nach Beschreibung des Gegenstandsbereiches würden manche Beschreibungen in den Vordergrund oder Hintergrund treten. So unterscheide z.B. Wolfgang Benz zwischen vier Erscheinungsformen des Antisemitismus (sekundärer Antisemitismus, rassistisch argumentierender Antisemisismus, religiöser Antijudaismus, Antizionismus [1], Julia Bernstein hingegen neun und zwar Antijudaismus, moderner Antisemitismus, rassistischer Antisemitismus, nationalsozialistischer Antisemitismus, islamischer Antisemitismus [2], Krypto-Antisemitismus, sekundärer Antisemitismus, israelbezogener Antisemitismus, Philosemitismus [3].
- These: Die Forschung ist lange ohne Jüdinnen und Juden ausgekommen
Die Perspektive von Jüdinnen und Juden sei in der deutschen Antisemitismusforschung zu lange nicht angemessen berücksichtigt worden, kritisierte Müller. Er spreche sich daher mit Julia Bernstein und Marc Grimm für einen Perspektivenwechsel im Blick auf den Einbezug jüdischer Perspektiven in der Antisemitismusforschung aus. Menschen jüdischen Glaubens sollten als Subjekte und nicht als Objekte der Forschung betrachtet werden. Denn: Über Jüdinnen und Juden zu reden sei ein anderes Paradigma, als mit ihnen zu reden, betonte der Referent. Hinter diese noch recht jungen Minimaleinsicht der Antisemitismusforschung sollte nicht zurückgefallen werden. Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus(erfahrungen) seien in Deutschland das erste Mal im Jahr 2017 erhoben worden [4]. Dabei sei wichtig: Das Judentum sein kein monolithisches Gebilde. Jüdische Perspektiven gäbe es ausschließlich im Plural. Die Aufgabe der nichtjüdischen sogenannten Mehrheitsgesellschaft sah Müller darin, auf die vielfältigen und differenzierten Formen von Antisemitismus in der Gesellschaft zu achten. Denn Antisemitismus werde nun einmal vorrangig von Menschen nichtjüdischen Glaubens (re)produziert.
Lagebild: Wie geht es der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland heute?
Die Auswirkungen des 7. Oktober auf die jüdische Gemeinschaft in Deutschland standen im Mittelpunkt des Vortrages von Sabena Donath. Sie stelle eine von vielen jüdischen Perspektiven dar und habe nicht den Anspruch für alle Menschen jüdischen Glauben zu sprechen, betonte die Direktorin der derzeit entstehenden Jüdischen Akademie des Zentralrats der Juden in Deutschland, gleich zu Beginn ihres Vortrages. Ursprünglich habe sie vorstellen wollen, wie lebendig die deutsche jüdische Gemeinschaft heute sei. Die Realität sei doch: „Unsere Welt ist seit dem 7.10. nicht mehr dieselbe wie zuvor“. Die Gefahrenlage für jüdische Menschen in Deutschland habe sich seit diesem Tag noch einmal deutlich verschärft. Den jüngsten Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel und dessen Folgen bezeichnete sie als einen Zivilisationsbruch. Bei vielen Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland hätten sich weitervererbte Erinnerungen und Traumata aktualisiert, die sich in der aktuellen Situation entfalten würden.
Die Reaktion der deutschen Zivilgesellschaft auf den Angriff bezeichnete sie als „Nichtreaktion“, die sie fassungslos mache, so Donath: „Nicht einen Tag hat man uns gelassen, um unserer Trauer Ausdruck zu verleihen und unsere Fassung wiederzugewinnen“. Schnell habe es Relativierungen des Terrorangriffs gegeben, wie z.B. „Du musst doch verstehen“, „es gibt immer zwei Seiten“ und vieles mehr. Seit dem 7.10. würden Jüdinnen und Juden weltweit wieder in Angst leben. „Wie sollen wir das unseren Kindern erklären?“, fragte Donath ratlos und fügte hinzu: „Jetzt leben wir in dem Deutschland, vor dem uns unsere Großeltern immer gewarnt haben“. Wie viele ihrer Freund:innen und Kollegen stehe auch sie vor einem Scherbenhaufen jahrelangen gesellschaftlichen Dialogs. Sobald sich eine jüdische Person als eine solche zu erkennen gebe, laufe sie in Gefahr antisemitische Erfahrungen zu machen. Der Angriff auf einen jüdischen Studenten der Freien Universität Berlin [5] vor einigen Wochen, gibt dafür ein trauriges Beispiel.
Aus Projektsicht gilt es anschließend an Donaths Schilderungen zu betonen, dass wir für Multiperspektivität eintreten möchten und das auch schulischem Personal immer wieder empfehlen. Im Kontext des Nahostkonfliktes gilt es von der Nutzung – nicht nur – sprachlicher Dualismen und Dichotomien abzusehen. Schüler:innen sollte ein Raum eröffnet werden, in dem sie sich nicht für die einen und gegen die anderen positionieren müssen, sondern Graubereiche und Gleichzeitigkeiten wahrnehmen und äußern können. Kritik am israelischen Militär und Kritik an der Hamas und Mitgefühl für unschuldige Opfer können und sollten gleichzeitig nebeneinander bestehen und geäußert werden können. Es gilt in diesem Zusammenhang, Wut und Emotionen nicht zu unterdrücken, sondern Gefühle ernst zu nehmen. Die Perspektiven Donaths sind dem Ansatz der Multiperspektivität aus unserer Sicht nicht gerecht geworden. Gleichzeitig sind die von ihr geäußerten Sorgen und Herausforderungen aus einer innerjüdischen Perspektive heraus betrachtet selbstverständlich legitim.
Vielen Menschen in Deutschland fehle leider der reale Bezug zur rezenten jüdischen Gemeinschaft, bedauerte die Referentin in der Folge. Im Schaffen von Räumen der Begegnung kann ein Ansatzpunkt für schulisches Personal liegen, das Radikalisierungsprävention betreibt.
Die Referentin schloss sich zudem Bauers These an, wonach es der rezenten Antisemitismusforschung in vielen Fällen noch an Bezügen zu Jüdinnen und Juden fehle. All das heiße aber nicht, dass es keine gesellschaftliche Unterstützungen für jüdische Menschen gäbe, so Donath. Aber „All das wird nicht reichen“. Auch im Jahr 2024 werde Antisemitismus in Deutschland noch viel zu oft als ein historisches Phänomen behandelt. Das sei mitnichten der Fall.
Bildungspolitische Forderungen zum gesellschaftlichen Umgang mit Antisemitismus
Donath schloss ihren Vortrag mit einer Reihe bildungspolitischer Forderungen, um den rezenten gesellschaftlichen Umgang mit Antisemitismus in Deutschland zu versachlichen:
- Der Umgang mit Antisemitismus sollte als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden;
- Es sollten sichere gesellschaftliche Räume für die Auseinandersetzung mit Antisemitismus geschaffen werden, auch und besonders mit der sogenannten Mehrheitsgesellschaft;
- Antisemitismuskritik sollte in der fachlichen Ausbildung verankert werden (z.B. Lehrkräfte, Polizei, Verwaltung);
- Im Schulunterricht sollte ein antisemitismuskritischer und diversitätssensibler Umgang mit der Shoah gefunden werden, der auch die Vielfalt von Migrationserfahrungen (nicht nur von Jüdinnen und Juden) berücksichtigt;
- Dies gilt auch für eine antisemitismuskritische und multidimensionale „Holocausterziehung“ [6];
- In Schulen sollte ein fundiertes Wissen über den Staat Israel und dessen Geschichte vermittelt werden;
- Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland sollte sprechfähig(er) werden, um auch gegen Falschzuschreibungen effektiv zu agieren.
Besonders die von Donath aufgestellte Forderung nach der Verankerung einer antisemitismuskritischen in der Ausbildung von schulischem Personal, Verwaltungsmitarbeiter:innen und Polizei lässt sich aus Sicht des CleaRNetworking völlig unterstreichen. Professionelle müssen die Unterschiede zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen von Antisemitismus kennen und einordnen können, um auf antisemitische Äußerungen in ihren jeweiligen Arbeitsalltagen und Organisationen angemessen reagieren zu können. Deshalb bieten wir im Rahmen der CleaRNetworking-Fortbildung ein Modul an, in dem wir Erscheinungsformen von Antisemitismus explizit thematisieren und schulisches Personal in die Lage versetzen, diese zu erkennen [7].
Antisemitismus an deutschen Hochschulen
Daniel Navon (Goethe-Universität Frankfurt am Main) knüpfte nahtlos an Donaths Vortrag an und warf einen studentischen Blick auf die aktuelle Situation an deutschen Hochschulen für jüdische Studierende bzw. „die ganz normale Anormalität“. Der Schwerpunkt lag dabei auf Hochschulen in Hessen. Bereits vor dem offiziellen Kriegsbeginn habe es vielerorts offen antisemitische Handlungen gegeben, die den Terrorangriff der Hamas gefeiert hätten, so Navon. Er erinnerte dabei u.a. an eine Aktion des inzwischen verbotenen Vereins Samidoun, bei der Süßigkeiten an Kinder zur Feier des Angriffs verteilt worden seien. Bereits kurz nach dem Angriff habe es zudem Demonstrationen und strafbare Parolen an der Universität Marburg gegeben, die den Terror der Hamas geleugnet hätten.
Die anfänglich explosionsartige Hetze gegen Menschen jüdischen Glaubens habe sich inzwischen in neuen Formen konsolidiert, die einen vergifteten Diskurs hervorgebracht hätten. Hochschulen müssten ihre jüdischen Studierenden effektiv vor antisemitischen Angriffen schützen, forderte Navon. Dazu seien Strukturen wie z.B. Meldestellen, notwendig, die die jüdischen Studierenden auffangen würden, um ihnen sichere Räume zu bieten. Die sichtbarste Ebene von Unterstützung habe er uniintern bislang aber in der Studierendenschaft erlebt, so der Referent. Viele jüdische Studierende würden von einer Zunahme von Angriffen und Beleidigungen in sozialen Netzwerken berichten, alleine weil sie einen hebräischen Namen oder einen Davidsstern in ihrem Profil hätten. Besonders belastend sei es auch, wenn man von Kommiliton:innen Unwissen oder gar Verschwörungstheorien erfahre. Viele jüdische Studierende sähen sich dadurch eingeschüchtert fühlen und würden sich online verstecken, bzw. ihre jüdische Identität nicht zeigen.
Antisemitische Übergriffe seit dem 7.10. seien seiner Wahrnehmung nach dabei nicht auf ein bestimmtes religiöses oder politisches Spektrum festgelegt, betonte Navon. Antisemitische Ideologie sei dabei stets darauf aus, neue Konsense zu schaffen und Menschen jüdischen Glaubens aus dem öffentlichen Diskurs hinauszudrängen.
Abschlussdiskussion
Wie ließen sich die die ab dem 7.10. deutlich gewordenen Kontinuitäten aus ihrer Sicht erklären, fragte Moderatorin Urbach die Referent:innen in der Abschlussrunde:
Daniel Navon hob hervor, dass Antisemitismus kein ausschließlich europäisches Problem sei, sondern vielmehr ein globales. Die globalen Figurationen müssten in politischen Entscheidungen, der politischen Bildungsarbeit, aber auch in der Zivilgesellschaft stets berücksichtigt werden. Sabena Donath und Stefan Müller kritisierten, dass es in Deutschland bis heute keine gesamtgesellschaftliche Strategie gegen Antisemitismus gäbe. Umso wichtiger scheint ein überlegtes und engagiertes Vorgehen von schulischem Personal im schulischen Raum.
Literatur
[1] Benz, Wolfgang (2010): Antisemitismus und Antisemitismusforschung. Online verfügbar unter: https://docupedia.de/zg/Benz_antisemitismus_v1_de_2010?oldid=84586.
[2] Von dieser Formulierung distanziert sich das Projekt CleaRNetworking explizit. Wir vertreten die Ansicht, dass Religionen als solche nicht antisemitisch „sind“, sondern dass ein Teil der Menschen, die ihnen angehören, antisemitische Haltungen vertreten und Religionen in diesem Zusammenhang als Legitimation nutzen. Die Formulierung „muslimisch“ oder „islamisch begründet“ würden wir für zutreffender halten.
[3] Bernstein, Julia (2020): Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde – Analysen – Handlungsoptionen. Unter Mitarbeit von Florian Diddens, Marina Chernivsky, Jörg Rensmann und Michael Spaney. Weinheim, Basel: Beltz Juventa. Online verfügbar unter http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:31-epflicht-1666312, S.36ff..
[4] Zick, Andreas; Hövermann, Andreas; Jensen, Silke; Bernstein, Julia; Perl, Nathalie (2017): Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland. Ein Studienbericht für den Expertenrat Antisemitismus. Online verfügbar unter https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0070-pub-29130364, https://pub.uni-bielefeld.de/record/2913036.
[5] Tagesschau (2024): Bruder von Satiriker Shapira durch Schläge verletzt. Online verfügbar unter: https://www.tagesschau.de/inland/regional/berlin/bruder-von-satiriker-shapira-100.html
[6] Wetzel, Juliane (2008): Holocaust-Erziehung. Online verfügbar unter: https://www.bpb.de/themen/erinnerung/geschichte-und-erinnerung/39843/holocaust-erziehung/.
[7] CleaRNetworking (o.J.): Weiterbildung. Online verfügbar unter: https://www.clearing-schule.de/weiterbildung/.